Читать книгу Insein für Outsider - Paul Mesa - Страница 5

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Das outeste Paar auf der Projektarche

Aja verzieht das Gesicht, als sie sich vorsichtig auf den Klappsitz im fensterlosen, aber herrlich kühlen Physiksaal sinken lässt. Die Milchtüte aus dem Müllcontainer beim Supermarkt Duper – dem unstreitig dümmsten Wortspiel im deutschen Lebensmitteleinzelhandel – hat einen guten Eindruck gemacht. Aja glaubt an Mindesthaltbarkeitsdaten so wenig wie an die bewusstseinserweiternde Wirkung von Erdkunde. Könnte ein Fehler gewesen sein, meint ihr Magen.

»Habt ihr keine Waschmaschine daheim?« Claras Frage reißt Aja aus ihren Gedanken. Die Blondine stakst an Aja vorbei hinunter zur ersten Reihe, das hochgereckte Näschen demonstrativ zugehalten.

»Wir haben mehr Waschmaschinen als du Stilettos im Schrank«, ruft Aja ihr hinterher und Köpfe drehen sich und einer der Jungs ruft: »Frau Miele ist deine Mama?«

»Du musst die Maschine einschalten«, sagt Hanna, die Clara folgt, und setzt sich neben sie, mit unverbaubarer Sicht zum Pult. In sein und die Klassenbeste – ja, Welt, ich hab’s kapiert: Es gibt keine Gerechtigkeit.

»Und die Kleider reinlegen, nicht bloß obendrauf«, ergänzt Lissa und gleitet elegant in den Platz auf Claras anderer Seite. Die Oberhenne ist unstreitig das Topmodel der Schule, hochglanzbrünett, mit mehr Busen als jeder Meerbusen – der Kalauer musste sein – und noch mehr Köpfchen. Was sie sich in diesen Kopf gesetzt hat, verfolgt sie mit einer Zielstrebigkeit, gegen die Robin Hoods Pfeile verwirrt im Wald herumirrende Alzheimerpatienten sind. Sie duftet nach frisch gepflückten Äpfeln, Handelsklasse VIP-Lounge.

»Ihr würdet auch stinken, wenn ihr in einen Müllcontainer mit Lebensmittelabfällen gesprungen wärt. Unverpackten.« Aja schlägt die Hand vor den Mund. Zu spät. Sie lachen, sie alle. Sollen sie nur, ist ja nicht das erste Mal. Oder das zehnte. Aber bald das letzte Mal.

Wenn sie beim Projekt durchfailt, was abzusehen ist, plus die Fünfen in Erdkunde und wahrscheinlich in Mathe – Ende Gelände für Aja F. Ehrenrunde? Nein, danke. Nächster Halt: Job suchen oder Lehrstelle, eigenes Geld verdienen müssen.

»Aja geht jeder Waschmaschine aus dem Weg«, ruft Yannick über das Gelächter. »Alles, was mit Strom läuft, ist ihr unheimlich.«

Dass ausgerechnet Yannick das hinausposaunen muss! Sie verschränkt die Arme und rutscht so weit nach unten in ihrem Sitz in der letzten Reihe, dass sie unsichtbar wird. Sie kann nur beten, dass Yannick nicht mehr erzählt.

Gott, ihr ist schlecht. Wegen der Tüte mit Müsli (erst kürzlich abgelaufen), der mit Chips (extrascharf, extra lange abgelaufen) oder der Dose Ölsardinen (in Curry-Tomatensoße, Ration der Wehrmacht aus dem Ersten Weltkrieg)?

Alles Tizians Schuld! Wenn er sie gesehen hätte, wie sie in den Abfällen wühlt, wären ihre nicht vorhandenen Chancen beim coolsten Typen der Schule tiefer gesunken als die Titanic. Aber, Moment mal, was wird, wenn sie von der Schule fliegt? Ohne Abschluss kriegt sie doch nie eine Lehrstelle. Die Titanic liegt tief, aber das ist noch längst nicht die tiefste Stelle im Ozean.

»Projektwoche!« Herr Sarytchew stürmt herein wie einer dieser Fernsehprediger aus Amerika. Er verströmt genug Adrenalin, dass man noch in der letzten Reihe Herzrasen kriegt. Er ist durchgeknallt, aber Aja mag ihn trotzdem. Oder deswegen?

»Ihr bildet Paare, ihr Völker der Erde, und ich bin euer Noah, der euch auf die Projektarche führt. Die meisten von euch wissen schon, mit welchen Projekten sie die Wunder der Schöpfung preisen werden. Die anderen werden es bis Montag herausgefunden haben und es mir verkünden. Danach bleiben euch knapp zwei Wochen bis zur Abgabe. Entschuldigungen wegen plötzlich auftretender Krankheiten, Naturkatastrophen oder Besuchen der Oma aus Neuseeland«, er steigt die kleine Treppe zwischen den Reihen nach oben und bleibt neben Aja stehen, »werden nicht akzeptiert.«

»Hm«, murmelt Aja, ohne den Blick zu heben.

»Todesfälle bitte bis Projektende hinausschieben. Ich empfehle Einäscherung, dann kann man ein paar Wochen auf die Beisetzung warten.« Jetzt sieht er Aja an.

»Habe ich Ihnen schon mal gesagt, dass Sie mein absoluter Lieblingslehrer sind?«, fragt sie.

Er zwinkert ihr zu, sagt nur »Montag« und dreht sich zur Klasse.

»Apropos Einäscherung. Wie viel Energie wird von einem Körper freigesetzt, der achtzig Kilogramm wiegt und zu achtzig Prozent aus Wasser und zu zwanzig Prozent aus Kohlenstoff besteht? Wir gehen von vollständiger Verwesung aus. Die Wärmekoeffizienten findet ihr im Buch auf Seite ... Tom?«

»Ziemlich weit hinten.«

»Gewohnt exakt formuliert, ich danke. Ihr habt drei Minuten. Und rechnet den Anzug des Toten dazu: zwei Kilogramm, aus sechzig Prozent Wasser und vierzig Prozent Kohlenstoff. Gott sei der Seele des armen Mannes gnädig.«

Aja zeichnet Tizians Gesicht. Seine riesigen Augen. Den kleinen Hut, kubanisch oder so. Sie würde ihm den Hut abnehmen und ihre Nase in seinem dichten, blauschwarzen Haar vergraben. Besser als umgekehrt. Ihre Haare riechen nach faulen Bananen.

Wenigstens ist Tizian nicht in ihrer Klasse. Wenigstens hat er keine Ahnung, dass sie überhaupt existiert. Darauf kann man aufbauen. Ab heute ist sie Optimistin, das muss sie demnächst sein, in der freien Wirtschaft. Ihr Glas ist halb voll! Leider hat sie keine Ahnung, woher sie das Glas nehmen soll.

»Fertig«, ruft Hanna, wer sonst, und Herr Sarytchew kommt angerannt. Sie flüstert ihm die Lösung zu und er nickt und lächelt sie an. Gott! Hanna ist die Nummer eins in der Klasse, nicht nur in Physik, und die Nummer drei der Super-Chicks – so nennen sie sich, Lissa, Clara und Hanna.

Aja nennt sie die Suppenhühner. Was sie cool finden, ist cool, was sie peinlich finden, sollte man am einsamsten Ort der Sahara begraben. Mitsamt den Kamelen, die es dorthin geschaukelt haben.

Unter Tizians Gesicht schreibt sie:

»Hiermit schwöre ich, Aja Freumbichler, dass ich nie, nie, nie so werde wie die.«

»Paare bilden«, ruft Herr Sarytchew.

Paare bilden? Gute Idee. Wenn die Liebe nicht so ein verdammt niederträchtiges Gefühl wäre, würde Aja sich zutiefst dafür schämen, dass sie auf den gleichen Typen abfährt wie die Hühner. Oder der weibliche Rest der Schule.

Die Paare bilden sich, Noah alias Herr Sarytchew notiert.

Gerti und Fee – ein Elefantenpärchen.

Yannick und Sören – ein Paar Schakale.

Almila und Canan – ein Zwillingspärchen Seidenpantoffeln aus Tausendundeiner Nacht.

Nicht anwesend: Sabine und Edgar »Eiermann« Gärtner – ein Paar Pétoncles. Wieso war ihre Mutter heute Morgen daheim? Hat sie etwa auf ihr Ei zum Frühstück verzichtet? In der Küche dufteten Croissants, an der Küchentür prangte demonstrativ ein Hundert-Euro-Schein. Auf eins davon hat Aja dankend verzichtet.

Das Paarlaufen schließt mit Lissa, Clara und Hanna. Einige Rechengenies motzen, dass drei eine zu viel sind, aber keiner traut sich, bei Herrn Sarytchew Beschwerde einzulegen. Es gibt nur eins, was schlimmer ist als ein Mann, der sich von Schönheit blenden lässt: einer, der sich von Klugheit blenden lässt. Wie würde es Yuko mit einer traditionellen japanischen Weisheit sagen? Zum Kot Zen.

Die Gerüchte über das gemeinsame Projekt der drei kochen so hoch, dass es selbst Aja mitbekommen hat: eine Fashion Show. Oh, bitte! Germany’s Next Suppenhuhn oder was? Die Sendung läuft schon seit dem Mauerfall. Dem von Jericho. Sollte die nicht langsam mal so out sein wie Miniröcke? Die sind doch out, oder?

Nachdem alle vorn waren, schlendert auch Aja die Treppe runter zum Pult.

»Teilen Sie mich ein, Pater«, sagt sie. »Alles für unser Projekt, keine Macht den Atheisten, Jesus rules.« Sie hebt die Faust und summt den Anfang des Ave Maria.

Herr Sarytchew lächelt. Sie vermutet, er wird sie dem Elefantenpärchen zuteilen. Wenn auch nur, um den Gewichtsdurchschnitt zu drücken. Almila und Canan wären auch akzeptabel, solange sie sie nicht mit einem ihrer Brüder oder Cousins verheiraten wollen. Aber soweit sie sieht, bleibt Barbara. Noch so ein Fashion Victim, doch immerhin kein Suppenhuhn.

»Barbara«, sagt Sarytchew, und Aja gibt ihr das Daumen-nach-oben-Zeichen. Die aber ignoriert sie und flattert lächelnd zu den Suppenhühnern. »Barbara«, sagt Sarytchew, »wird unser unerlaubtes Trio zu einem Vierer ergänzen, anders ausgedrückt, einem Doppelzweier.« Beifälliges Gemurmel in der Klasse. »Alles geht wunderbar auf, genau wie bei Noah.«

Geht es? Eine Sekunde hofft Aja, dass sie spontan unsichtbar geworden ist. Dann folgt sie Sarys Blick.

In der dunkelsten Ecke des Saals, dort, wo die Leuchtröhren ausgefallen sind und vermutlich Pilze und Nacktmulle in ewiger Finsternis gedeihen, hockt eine Gestalt vor der abgedeckten Versuchsanordnung.

»Das ist nicht Ihr Ernst«, sagt Aja hastig. »Schustern Sie uns doch beide einem Pärchen zu, zweimal drei ist dasselbe wie dreimal zwei, Kommutativgesetz.«

»Du und Fabian«, sagt er, »werdet euch hervorragend ergänzen.«

»Minus mal minus ergibt plus«, ruft Lissa.

Aus den Schatten kommt ein Lachen, und im nächsten Moment zuckt eine der tot geglaubten Röhren mit schmatzendem Knutschgeräusch zu neuem Leben. Flash hat den Kopf unter dem Tuch der versteckten Apparatur. Als würde er darunter die nackte Kristen Stewart sehen. Nö. Wie sie ihn einschätzt wohl eher nackte Mulle.

Eigentlich heißt er Fabian Carinus, aber wenn man ihn ruft, dann Flash. Nicht, dass irgendjemand ihn rufen würde. Sollte es jemanden in der Klasse geben, der noch weiter weg von der Meute lebt als sie, dann dieser Strangeling.

Flash ignoriert die Aufmerksamkeit. Er scheint abzuzeichnen, was ihn unter dem Vorhang so fasziniert. Wozu?

Zum ersten Mal, seit er in ihrer Klasse ist, sieht Aja ihn sich genauer an. Er trägt dieselbe Nichtfrisur wie ihr Vater in den Siebzigern oder wie diese Erdzeitalter korrekt heißen. Seine Nase vollführt einen Bogen, hart an der Grenze zum Krummsein, und seine Lippen sehen aus wie zwei Schnitz Pfirsiche und schmunzeln permanent über irgendeinen streng privaten Witz.

»Wie heißt er noch mal?«, fragt Clara. Sie wäre die Klassenbeste. Wenn Beine denken könnten. Die Idee mit der Fashion Show stammt todsicher von ihr. Die anderen debattieren über ihre Projekte, als ginge es um die Freiheit oder das Überleben der Tölpelkolonie auf dem neuseeländischen Cape Kidnappers.

»Eure Heiligkeit«, fleht Aja Herrn Sarytchew an. »Bitte gewähren Sie mir Gnade oder wenigstens einen Scheiterhaufen im Morgengrauen.«

»Bei dem ganzen Zeug, das dir im Kopf rumspukt«, er sieht sie streng an, »und das du leider nie für dich behalten kannst, wird wohl eine spannende Projektidee dabei sein. Schon aus statistischen Gründen.« Er winkt Flash zum Pult. »Ihr habt hoffentlich nichts gegeneinander? Differenzen in Glaubensfragen? Blutrache?«

»Höchstens was miteinander«, sagt eine Jungenstimme aus dem Hinterhalt. Aja schnappt Herr Sarytchew die Kreide aus den Fingern, wirft und trifft. Irgendjemanden.

»He, du hast den Falschen erwischt.«

»Beschwer dich bei Amnesty.«

Sarytchew winkt Flash herüber.

»Also ihr beiden.« Er nimmt Flash an der linken, Aja an der rechten Hand. Als wäre er ein Ringrichter, der einen Sieger verkündet.

Dabei verkündet er hier nur zwei sichere Loser.

»Ihr seid beides einfallsreiche Burschen, ihr könnt auch mal um die Ecke denken. Euch fällt was richtig Gutes ein. Ich persönlich empfehle etwas Naturwissenschaftliches und dennoch Gottgefälliges.« Er zieht sie zueinander. »Reicht euch die Hände.«

Flash streckt Aja seine Hand sofort entgegen und rammt sie ihr fast in den Bauch. Aja verdreht die Augen.

Einer der Jungs stimmt mit schönem Tenor den Brautmarsch an.

Durch die johlenden Hochzeitsgäste rennt Aja nach oben, bloß weg hier und raus aus der verbrauchten Luft.

Öffentliche Demütigungen erträgt sie höchstens ein Mal die Woche.

Insein für Outsider

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