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Ohrfeigen und Kaffee

Tizian brettert über freie Bürgersteige, fährt gehorsam bei jeder Farbe des Regenbogens über Ampeln, schlängelt sich zwischen Autos und Lastern hindurch und weicht dem Apfel aus, den ein schimpfender Radfahrer nach ihnen wirft.

»Go, Baby!«, schreit Aja in Tizians Ohr. »Nun mach schon, hüa!« Sie klammert sich an ihm fest, ihr Haar flattert und schlägt ihr ums Gesicht, da war keine Zeit, den Helm aufzusetzen, der nach Lissa riechen muss. Trotzdem kann sie nicht anders, als ihr dankbar zu sein. Lissa wollte sie wiederbeleben! Was, wenn sie die Zicke falsch eingeschätzt hat? Tizians Wärme sickert durch ihre dünnen Klamotten, aber Aja spürt sie wie etwas, das nichts mit ihr zu tun hat. Sie ist schuld, dass sich ihr Paps das angetan hat, sie hätte ihn gestern beim Deutschgriechen nicht anschreien dürfen.

Vor einem aus dem Osten rübergemachten Plattenbau bremst der Roller. Aja springt ab. Alle Fenster liegen im Schatten, als trauerten sie schon. Der Krankenwagen ist noch nicht da. Sie hämmert so lange auf die Klaviatur der Klingeln, bis jemand ihr öffnet.

Rein, Aufzug, wo bleibt der blöde Aufzug, komm schon, komm schon, komm schon, Ping, sie springt hinein, Tizian schafft es gerade noch durch die Tür.

Ping, und raus, Musik hämmert ihnen entgegen, eine Tür, zwei Türen, ein Sitzkissen in der Form eines Schnittes Schweizer Käse, drei Türen, die Vierte, dahinter pumpt die Musik, klingeln, nun mach schon auf, mach schon, die Klingel ist doch im Eimer, sie tritt gegen die Tür, ruft Paps und Gadd und alle Kosenamen und Flüche, die ihr einfallen, bis sie es endlich geschafft hat, ihren Schlüssel ins Schloss zu fummeln und aufzuschließen.

Sie rennt in eine Wand aus Alkoholdunst und Musik. In die Tür des Wohnzimmers ragt ein nackter Fuß, und es erleichtert sie verrückterweise, dass noch kein Schildchen an der Zehe hängt wie in den Leichenhäusern.

»Paps?«

Gadd röchelt schwach, aber sicher ist Aja sich nicht, und sie brüllt:

»Mach die Musik aus!«

Tizian schaltet die Anlage ab, und die Stille rauscht so plötzlich herein wie die Klappe, die sich unter einem Gehängten öffnet. Ihr Paps gibt keinen Mucks von sich.

Aja tätschelt seine Wangen, dann schlägt sie ihn fester. Sie ist wütend auf ihn und wütend auf sich und verzweifelt und panisch. Sie legt zwei Finger an seinen Hals. Der Puls wischt so sanft an wie die Besen eines Jazz-Schlagzeugers.

»Kreislauf stabilisieren«, ruft sie. »Wir müssen ihn auf die Beine schaffen, hilf mir.« Es ist nicht das erste Mal, dass sie ihren Paps so findet. Zweites Stadium, Hypnose sagt der Fachmann, mehr als zwei Promille Dreckzeug im Blut. Sie könnte Sarytchew Wiederbelebung bei Alkoholvergiftung als Projekt vorschlagen, das zumindest hat sie drauf. Beim letzten Mal lag ihr Paps unter dem Kicker von Tsongas Sportsbar und in einer ziemlichen Sauerei und Aja hat sich schlimmer fremdgeschämt als beim Dschungelcamp. Nicht halb so schlimm wie jetzt vor Ti.

Gemeinsam und nach mehreren Versuchen schaffen sie es, Gadd hochzuheben. Seit Monaten päppelt Aja ihn mühsam auf, doch gerade ist sie froh, dass sie kaum ein Pfund auf seine Rippen gekriegt hat.

»Ich bin wach«, murmelt Gadd, und Aja ohrfeigt ihn. Sie hofft, das bringt seinen Kreislauf wieder auf Touren. Vor allem aber hofft sie, dass ihm die Ohrfeige wehtut. Warum tut er ihr diese Scheiße immer und immer wieder an?

»Ich koche Kaffee«, sagt sie zu Tizian, »und du läufst mit ihm hin und her.«

»Soll ich ihn ohrfeigen?«

»Nur wenn er anfängt zu singen.«

»Singen?«, murmelt Gadd und fängt an: »Singin’ all day, singin’ ’bout nothin’ ...«

Klatsch!

Dann sagt Gadd noch etwas, was Aja nicht versteht, aber Tizian wohl schon, denn er scheuert ihm Number Two.

»Was hat er gesagt?«

»Willst du nicht wissen.«

Aja rennt in die Küche. Wo bleibt der Krankenwagen? Während sie die Maschine anwirft, fühlt sie wie einen Geist Tizians Körper vor ihrem, wie er seinen Rücken gegen sie drückt, nein, es ist sein Nicht-mehr-da-Sein, das sie fühlt.

Gadd muss überleben. Und Ti muss ihr gehören. Sie braucht sie beide, wie ein Löffel im Besteckkasten den Löffel vor sich und den hinter sich braucht.

»Lebt er noch?«, ruft sie.

»Er sabbert auf mein Hilfiger-Shirt.«

»Gutes Zeichen.«

Wo bleibt nur der ...

»Wir sind da!« Durch die offene Wohnungstür stürmt Flash herein, zwei Männer in Leuchtorange mit einer Trage poltern hinter ihm in den Flur. Im selben Moment klappt ihr Paps zusammen, Tizian kann ihn allein nicht mehr halten. Flash springt ihm bei, und sie schleppen die Promille mit Paps drum herum zur Trage.

»Atemstillstand«, ruft der Sanitäter. »Intubieren.« Der Notarzt schiebt Gadd das Röhrchen am Ende eines schwarzen Gummiballons in den Mund und sagt zu Flash, ganz ohne Singen oder Brüllen: »Wir tragen deinen Vater runter, du pumpst hier den Ballon, schön gleichmäßig.«

»Deinen Vater?«, fragt Aja, und Flash, der rot werden sollte oder bleich, sagt ungerührt: »Die nehmen nur nahe Verwandte mit.«

»Danke, nein, aber ich habe schon einen Bruder, einen toten, jetzt brauche ich einen Vater, und zwar einen lebendigen.«

Im Aufzug ist kein Platz mehr für sie und Aja springt die Treppe nach unten. Eine Minute später sitzt sie im Rettungswagen und hält Gadds schlaffe Hand. Immerhin atmet er wieder selbständig. Der Sani legt eine Kanüle. An der offenen Hintertür des Wagens rollt Tizian vorbei und winkt, er wird sich um Lissa und Philomena kümmern. Ihr Held! Als Flash einsteigen will, stellt Aja sich ihm in den Weg.

»Nur nahe und Blutsverwandte«, sagt sie.

»Ich blute.« Er deutet auf seinen aufgeschrammten Ellbogen. »Reicht das?«

Sie zieht die Tür vor seiner Nase zu.

»Wie ist deine Schwester denn drauf?«, sagt der Fahrer. »Du kannst vorne mit.«

Insein für Outsider

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