Читать книгу Insein für Outsider - Paul Mesa - Страница 16
ОглавлениеDie Geliebte des Donnergottes
»Wirf deine Satteltaschen da drauf, Cowboy.« Aja deutet auf die schäbige Matratze, auf der schon ein Schlafsack liegt. Ansonsten ist das Schlafzimmer ihres Vaters bis auf ein Paar alte Kinosessel unter Kleiderhaufen leer. Es riecht verhalten nach Eselstall.
Flash lädt seine Fahrradtaschen und seinen Schlafsack neben die Matratze. Der andere Schlafsack ... Aja will, dass sie hier zusammen die Nacht verbringen! Die Nächte bis zur Abgabe ihres Projekts! Er spürt die Wärme, die von ihrem Körper ausgeht. Ihr Anblick ist in seine Netzhaut gebrannt: Das lange braune Haar hat sie in zwei Pferdeschwänze gebändigt, ihren zierlichen Körper in ein schwarzes T-Shirt über Jeans gezwängt, ihre Füße sind nackt. So stellt er sich Sif vor, die Geliebte des Donnergottes Thor.
»Daheim kann ich nicht bleiben«, sagt Aja. »Sabine hat den Eiermann bei sich aufgenommen. Allein die Vorstellung, wie er halbnackt und mit frisch polierter Glatze aus dem Bad kommt ... igitt!« Sie geht zum Fenster, reißt es auf – Danke! – und setzt sich auf die Fensterbank. »Falls du irgendwelche über die Atemwege übertragbaren Krankheiten hast, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt zur Beichte.«
Flash winkt grinsend ab. Seiner Mutter hat er auseinandergesetzt, wie hart sie für das Projekt arbeiten müssen. Unmöglich könne er den halben Tag damit verschwenden, von ihrem Hof in die Stadt und zurück zu radeln. Aja? Die würde selbstverständlich bei sich zu Hause schlafen.
Keine Lüge, sondern der glücklichste Irrtum seines Lebens!
»Fassen wir mal zusammen, wo wir mit dem Projekt stehen«, sagt er. »Am Freitag in einer Woche ist Abgabe ...«
»Und wenn wir nicht mindestens eine Zwei kriegen, darf ich den Bildungsetat ein Schuljahr länger belasten.«
»Im Ernst?«
Aja spuckt zum Fenster hinaus, wartet zwei Sekunden, dann: »Mist, daneben.«
»Das ist also unser Stall«, sagt Flash und wird rot. »Ich meine, unser Hauptquartier.« Und der Ort, an dem es vielleicht passieren wird. Wenigstens hat er das nicht auch noch Philomena versprechen müssen.
Aja springt von der Fensterbank und geht aus dem Zimmer.
»Ein Künstler wie Paps braucht eine freie Umgebung, Platz für seine Ideen und Visionen.«
»Klar«, sagt Flash. Am Kopfende der Matratze hat Ajas Vater ein paar kleine Fotos an die Wand gepinnt. Eins davon zeigt einen attraktiven, schnurrbärtigen Mann mit zwei kleinen Kindern. Rasch folgt er Aja ins Wohnzimmer.
»Er ist kein Alki«, sagt sie. »Er ist bloß sensibler, als gut für ihn ist.«
Ihm gefällt, wie Aja ihren Vater verteidigt. Sogar die Bude gefällt ihm. Liebe betäubt neben dem Fluchtinstinkt also auch die Geruchsnerven. Ein Schaukelstuhl, der nicht mehr schaukelt, ein Sofa, dessen Sprungfedern wie Kaffeeringe durch den fadenscheinigen Stoff schimmern und zwei Boxen von der Größe der Twin Towers in New York. Mit dem Unterschied, dass diese Boxen locker ein paar abstürzende Flugzeuge verkraften würden. Ansonsten Schallplattenhüllen und Pizzaschachteln. Nicht leicht zu entscheiden, wo eine Vinyl-Platte und wo eine Pizza drin war. Oder ist.
»Gadds weißrussische Putzfrau ist billig, aber blind«, sagt Aja. »Damit das klar ist: Wir treffen uns nur hier, damit keiner uns dauernd zusammen sieht und die Gerüchteköche ein Sechs-Gänge-Beziehungsmenü plus spöttischem Gruß aus der Küche und Alles-Käse-Platte daraus zaubert. Klar?«
»Klar«, sagt er. »Dreck ist out, Ma’am, selbst im Wilden Westen. Wo ist die Mistgabel?«
»Erstens: Recherche«, sagt Flash und schnappt sich rosa Gummihandschuhe über die Finger. »Und zweitens: Schreiben. Diese Woche recherchieren wir beide, ab Montag wird geschrieben. Du stehst in Deutsch auf Zwei, ich auf Vier, das heißt, du schreibst, ich recherchiere, was dann noch fehlt.«
»Gut.« Aja fährt Flashs Laptop hoch. Sie sieht das Gerät misstrauisch an. »Da kriege ich auch keine gewischt?«
»Was?«
»Vergiss es.«
»Das ist ein hochmodernes Gerät! Da sind lauter wichtige Sachen drauf, und normalerweise gebe ich ihn nicht aus der Hand, niemandem, nie. Ich hoffe, du weißt das zu schätzen.«
Aja ignoriert ihn.
»Wir müssen die Sache aufteilen, in verschiedene Themen. Was kann alles in sein und was out? Mode.« Sie tippt.
»Ich gehe jetzt rein, Captain«, sagt er ernst und öffnet vorsichtig die Tür zum Bad. »Sagen Sie meiner Familie ...«
»Du bist nicht witzig, Blitzboy.«
»In-Getränke«, ruft Flash zwischen den Kacheln. Hier drin würde Frau Rubenow, ihre Biolehrerin, ihre Freude haben: mit neuen Spezies von Schimmelpilzen und Krabbeltieren. »Falls die Freumbichler Kakerlake das Insekt des Jahres wird – heißt das dann, sie ist in dem Jahr in?«
Aja lacht. Es ist das schönste Geräusch der Welt. Sein Magen krampft sich zusammen vor Sehnsucht.
»Kneipen und Discos«, fährt sie fort. »Wohin man ausgeht.«
»M-Musik«, stottert Flash und atmet durch. »Lieder und Bands.«
»Farben, Namen, Games, Bücher, Filme, Handymarken. Eigentlich alles.«
»Wir müssen uns auf die Wichtigsten beschränken.« Er holt seinen Rucksack aus dem Schlafzimmer, zupft eins der Fotos von der Wand. Im Wohnzimmer nimmt er Lissas Modezeitschrift heraus, die er unterwegs aus dem Papierkorb gefischt hat. Er legt sie Aja hin und das Foto obendrauf. Es wurde vor einer alten Garage aufgenommen, im Schneematsch. Die drei darauf grinsen wie im Badeurlaub. Das Mädchen ist unverkennbar Aja, als sie fünf oder sechs war und total niedlich.
»Wer ist der Junge?«, fragt er. Der aufgeweckte Knirps ist ein, zwei Jahre jünger als Aja damals.
Sie wischt das Foto beiseite, als wäre es nichts weiter als eine Werbepostkarte aus der InStyle. Energisch blättert sie die Zeitschrift durch, reißt eine Seite entzwei, blättert weiter.
»Gelten diese In-und-Out-Listen für alle Frauen auf der Welt oder nur für die Leserinnen? Gelten sie auch noch, wenn man sein Abo kündigt?«
»Ist das dein Bruder?«, fragt Flash und hebt das Foto behutsam auf.
»Besitzanzeigendes Fürwort«, sagt sie und nimmt sich die nächste Zeitschrift vor. Sie sieht Flash nicht an, so wenig wie die Zeitschrift. »Mein Bruder, nicht deiner, mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
Er hat eine wunde Stelle getroffen.
»Du hast Recht«, sagt er, »das war eine blöde Idee mit den Magazinen.« Er geht kurz ins Schlafzimmer und pinnt das Bild an die Wand. »Was recherchieren wir noch?«
»Charaktereigenschaften. Anmachsprüche. Da hast du auch was von.«
Er grinst, aber sie sieht weiter nur auf das Heft in ihrem Schoß.
»Schulfächer«, sagt er. »Berufe. Gesellschaftliche Strömungen und Trends.«
»Was?« Endlich blickt sie auf, ganz kurz nur und wischt sich mit dem Arm über die Nase.
»So was wie Langeweile ist das neue Entertainment.«
»Sich langweilen heißt heute chillen«, sagt sie, aber sie unterdrückt ein Grinsen, immerhin. »Wir müssen die richtigen In-Wörter benutzen.«
»Mode ist wichtig«, sagt er, obwohl er lieber über etwas anderes sprechen würde. Über Aja. Ihren Bruder. Ihre Traurigkeit. »Was ziehe ich an?«
»Keine rosa Gummihandschuhe. Wolltest du nicht putzen?«
Er trottet zurück ins Bad.
»Primark hat, was gerade in ist«, ruft sie.
»Du kennst dich ja doch aus.«
»Ich muss beim Sport mit lauter Hühnern in die Umkleide. Wen fragen wir?«
»Philomena. Sie war Modistin. Sie kennt Coco Chanel persönlich.«
»Coco Channel? Klingt wie ein afrikanischer Fernsehsender.«
»Das Putzmittel ist alle«, ruft Flash.
»Tizian«, sagt sie. »Der kennt sich aus mit allem, was cool ist. Den interviewe ich.«
Flash feuert den Schwamm gegen die Kacheln und eine schaumige Spur schmiert bis auf den Boden. Tiziansein für Flash – den Ratgeber würde er auswendig lernen.
»Ich spreche mit Lissa«, ruft er. »Die ist immer perfekt angezogen.«
Schweigen.
Verärgert schrubbt er die Badewanne – keine Chance, der Kalk hat das Email längst assimiliert.
»Ich fürchte, die Wanne müssen wir erschießen.«
»Baden ist sowieso out.«
»Woher weißt du das?«
»Lies in unserem Ratgeber nach. Seite 428.«
Im nächsten Moment geht die Welt unter.
Flash stolpert aus dem Bad in ein Kreischen von Stimmen und Instrumenten.
»Mach! Den! Krach! Aus!«
Aja schreit etwas, was er nicht verstehen kann und wedelt mit einem Plattencover, auf dem ein verzerrtes Gesicht prangt, Augen und Mund in Panik aufgerissen – passt.
Flash dreht die Musik leiser, doch das Schlagzeug poltert unbeirrt weiter – nö, da hämmert wer gegen die Tür. Wenn jemand ihre Eltern verständigt, könnten die kommenden Nächte Aja-los werden.
Er zieht den Stecker.