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Der erste Blitz und das Inder-Ehrenwort

Aja hält die drei schweren Einkaufstüten von Mediamarkt und Saturn fest, die ihr wieder und wieder gegen die Beine kippen. Blödes Elektrozeugs. Hat vermutlich der letzte Fahrgast vergessen oder spontan vererbt. Sie würde sich lieber die Ohren zuhalten, Martins Horn heult auf dem Dach wie ein Wolfsrudel beim Karaoke.

Ihr Paps? Reißt sich die Atemmaske vom Gesicht und krächzt:

»Habt ihr keine andere Musik?«

Der Notarzt drückt ihm aus einer Plastikflasche mit Trinkrohr was Flüssiges in den Mund. Trotz seiner mächtigen Stimme ist er jung, und sein wuscheliges Haar sieht aus, als würde es gerne noch mehr verwuschelt werden. Keine Chance, er wirkt so uncool, als könnte er sich im nächsten Moment spontan selbst entzünden.

»Bäh, das ist Wasser!« Gadd spuckt.

»Ich bin nicht so wählerisch«, sagt Aja zum Arzt und sperrt den Mund auf.

Der Arzt – auf dem Namensschild steht Dr. Bernstein – ignoriert sie.

»Wie heißen Sie?«, fragt er Gadd.

»Erkennen Sie ihn nicht?« Aja beugt sich über ihren Vater und drückt ihm einen Kuss auf die ... aufs Ohr. Blöde Bodenwelle! »Das ist Gadd Freumbichler.«

»Er will nur überprüfen, ob dein Vater keinen Hirnschaden hat«, sagt Flash von überall her. Über die Gegensprechanlage klingt er tatsächlich wie Big Brother.

»Ich werde dafür sorgen, Bruderherz«, ruft Aja, »dass er dich für den Hirnschaden enterbt. Sag ihm, wie du heißt, Paps.«

»Steve Gadd.« Seine Stimme klingt noch kratzig, aber wieder kräftiger. »Ich habe einundachtzig mit Paul und Art im Central Park gespielt. Vor einer halben Million Menschen.«

»Stimmt das?«, fragt Doc Bernstein.

Aja nimmt ihm das Wasser ab und sprüht sich welches in die ausgetrocknete Kehle.

»Klar, er hat schon überall gespielt.«

»Fifty Ways To ... To Leave Your Lover, hört euch ... hört euch das fette Schlagzeug darauf an.«

Ein warmes Gefühl für diesen uneinsichtigen, schwachen, peinlichen, genialen, wunderbaren Trottel überschwemmt Aja und die Gewissheit, dass sich dieses Gefühl nie ändern wird.

»Er hat nichts am Hirn«, sagt sie und blinzelt etwas Feuchtes weg. »Er hat es bloß in Tequila eingelegt.«

»Dich möchte ich weder zur Tochter noch zur Schwester«, verkündet Berni. Er scheint in einem anderen Wagen zu fahren als Aja, nur seine Locken wippen, während sie hin und her geschüttelt wird wie ein Cocktail bei der Barkeeper-WM – Bloody Aja.

»Manchmal hat man keine Wahl«, sagt sie. Familie kann man sich nicht aussuchen und Familienkatastrophen schon gar nicht.

»Aber Eddie«, murmelt Gadd, »Eddie nicht ...«

»Eddie?«, fragt Aja. »Welcher Eddie? Was ist mit Eddie?«

»Nicht einschlafen«, sagt Doc Berni und sprüht Gadd Wasser auf die Stirn.

»Dieser ... dieser Kerl, der mich geschlagen hat«, er sieht sich um, aber er scheint Aja nicht zu sehen, »ist das dein Freund?«

»Darauf kannst du deinen letzten Cuervo Gold verwetten.«

»Er hatte Recht, mir eine zu scheuern, ich ... ich habe etwas gesagt, was ich nicht sagen durfte, niemals.«

»Richte ich ihm aus.«

»Über ... über dich.«

»Was?«

»Versprich mir«, sagt ihr Paps, und dann singt er: »Dein Projekt, zeig es ihnen, hörst du.«

»Klar, Mann«, sagt sie und drückt seine Hand.

»Sie sind Sänger?«, fragt der Doc. »Ich habe Gesang studiert, aber dann ...«

»Du bist eine ausgebuffte Lügnerin«, unterbricht ihn Gadd, »ich traue dir nicht.«

»Ich verspreche es dir, Paps«, sie zieht eine Schachtel aus einer der Tüten, ein Smartphone, »hoch und heilig und großes Finnen-Ehrenwort auf dieses Nokia: Ich werde mich maximal reinhängen bei dem, ähm, Projekt.«

»Du kippst meinen Whisky aus und füllst die Flaschen mit Tee auf. So einer traue ich jede Schweinerei zu.« Er greift ihre Hand, er ist so schwach. »Versprich es mir richtig.«

Sie weiß, was er hören will, aber sie will sich nicht zu etwas verpflichten, was sie nicht einhalten kann. Der richtige Schwur ist ihr heilig und das weiß ihr Paps genau.

»Nun versprich es ihm schon«, sagt Flash über die Anlage, und Berni summt beipflichtend ein tiefes Dis.

Sie kann nicht. Sie lächelt ihren Paps an, streicht über seinen Kopf. Er schließt die Augen. Die Luft hier drin wird immer weniger.

»Erzähl ihm was«, sagt Singing Doc.

»Was ...« Sie befragt Groß-, Klein- und Stammhirn, aber alle sind so leer wie die Dessertteller nach dem letzten Gang im À la mode. »Paps, bitte ...«

»Das erste Mal ...«, schallt es aus der Sprechanlage, und Gadd reißt die Augen auf. Flash muss den Ton voll aufgedreht haben. »Das erste Mal hat mich der Blitz getroffen, da war ich vier. Ich bin aufs Dach unseres Stalls geklettert. Ich war kaum oben, da rauschte das Gewitter los. Mama hat nach mir gerufen, und die Ziegen haben unruhig gemeckert. Das war noch vor unseren Eseln.«

»Dreh mal einer den Quatschkopf im Radio leiser«, sagt Gadd. Er hat das Gesicht verzogen. Hauptsache, er bleibt wach.

»Ich gehe auch gern in ein Musikgeschäft«, sagt Flash, die Anlage verzerrt seine Stimme. »Ich haue auf den Pauken herum. Klingt wie Donner.«

»Musst deine Pauken mal stimmen«, sagt Gadd leiser. »Wie geht es jetzt mit den scheiß Eseln weiter?«

»Die kommen später«, sagt Flash. »Der Junge auf dem Dach fängt an zu weinen. Seine Angst rettet ihn, weil er sich, nun ja, vor Angst in die Hose macht. Und als seine Mutter im Stall nach ihm sucht, tropft es ihr auf den Kopf.«

»Gute Story«, sagt Aja grinsend. »Was, Paps?«

»Statt sich hinzukauern«, erzählt Flash weiter, »krabbelt der kleine Flash, der damals noch Fabian heißt, zur Spitze des Satteldachs. Er streckt die Hand aus, weil die Blitze so schön aussehen, wie Leuchtstift-Kritzeleien des lieben Gottes. Er muss sie anfassen, unbedingt.«

Gadd ist hellwach.

»Der Blitz schlägt in seine Finger, fließt außen an ihm ab ins Dach und bricht ein Loch hinein. Durch das Flash in die Arme seiner Mama fällt.«

»Schöne Geschichte«, sagt Berni. »Was ist mit den Sanis, die den Jungen ins Krankenhaus fahren?«

»Was ist jetzt mit den scheiß Eseln?«, fragt Gadd.

»Das erzählt er dir ein andermal«, sagt Aja. »Du stirbst nicht?«

»Heute ist es sowieso zu spät dafür. Dein Projekt, tu es nicht für mich, tu es für ...«

»Schon gut, das reicht.« Sie weiß, für wen sie es tun soll, aber sie will nicht, dass er es sagt. Sie greift in ihre Tasche, berührt das Foto darin und seufzt. »Großes Inder-Ehrenwort.«

»Ich verstehe kein Wort«, sagt ihr Paps in den Lärm der Dachsirene.

»Großes Inder-Ehrenwort«, ruft Aja in die Stille des plötzlich verstummten Martinshorns. »Ich werde mein Bestes für das Projekt geben. Unseres. Also, das von mir und Flash.«

»Noch ein Freund?«

»Davon träumt Mister Wet Pants nur.«

Über die Gegensprechanlage kommt kein Dementi. O-oh.

»Ihr meint Indianer«, sagt Doc Bernstein.

»Wir schwören daheim lieber auf Inder«, sagt Aja. »Die saufen nicht so viel. Was ist jetzt mit Eddie?«

Die Augen ihres Paps rollen nach oben, und der Arzt drückt ihm die Atemmaske aufs Gesicht.

»Gute Idee, das mit den Indern«, sagt Berni. »Die glauben an Wiedergeburt.«

Insein für Outsider

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