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1.2. Die Frage der Familie

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Darf Familie in christlicher Perspektive mehr sein als Vater, Mutter, Kind? Und wie kann die Bibel bei der Beantwortung dieser Frage helfen?

Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die 2013 veröffentlicht wurde, beschäftigt sich mit dieser Problematik.1 Darin nimmt die EKD ernst, dass „angesichts gravierender gesellschaftlicher Veränderungen wie sinkender Geburtenraten, dem Wandel der Altersstruktur, veränderter Geschlechterverhältnisse, steigender Scheidungs- und Trennungsraten, weltweiter Wanderungsprozesse, flexibler und mobiler Erwerbsarbeit sowie risikoreicher Arbeitsmarktstrukturen, mit denen sich Familien (je nach ihrem gesellschaftlichen Ort) derzeit auseinandersetzen müssen, […] traditionelle Orientierungen ins Wanken“2 geraten. „Angesichts des tiefgreifenden sozialen und kulturellen Wandels ist auch die Kirche aufgefordert, Familie neu zu denken und die neue Vielfalt von privaten Lebensformen unvoreingenommen anzuerkennen und zu unterstützen.“3 Deshalb plädiert die EKD dafür: „Alle familiären Beziehungen, in denen sich Menschen in Freiheit und verlässlich aneinander binden, füreinander Verantwortung übernehmen und fürsorglich und respektvoll miteinander umgehen, müssen auf die Unterstützung der evangelischen Kirche bauen können.“4 Dies beinhaltet also nicht nur die klassische Klein- oder Großfamilie, sondern verschiedene Formen des Zusammenlebens: „Dabei hat unser Bild von Familie in den letzten Jahren eine Erweiterung erfahren: Familie – das sind nach wie vor Eltern (ein Elternteil oder zwei) mit ihren leiblichen, Adoptiv- oder Pflegekindern, vielleicht erweitert um die Großelterngeneration. Familie, das sind aber auch die so genannten Patchwork-Familien, die durch Scheidung und Wiederverheiratung entstehen, das kinderlose Paar mit der hochaltrigen, pflegebedürftigen Mutter und das gleichgeschlechtliche Paar mit den Kindern aus einer ersten Beziehung.“5

Mit dieser Bestimmung – und vor allem der Frage nach der Homosexualität – hat die EKD ein Problemfeld eröffnet, das so viele Kritiker auf den Plan gerufen hat, dass die EKD sich verpflichtet fühlte, ein öffentliches Symposium durchzuführen.6 Gleichzeitig zeigte sie sich von den kritischen Reaktionen so beeindruckt, dass sie Arbeiten an einer Stellungnahme zur Sexualethik stoppte.7

Ein Kristallisationspunkt der Diskussion bildete die Frage, ob die EKD mit ihrer Orientierungshilfe die Institution „Ehe“ auflösen wolle. Dies wird ausdrücklich in dem Text verneint: „Die Evangelische Kirche in Deutschland würdigt die Rechtsform der Ehe als besondere Stütze und Hilfe: Sie schafft und sichert dauerhaft und folgenhaft die durch ihren Öffentlichkeitscharakter dokumentierte wechselseitige Verantwortlichkeit und Verlässlichkeit, aber auch den Schutz des Schwächeren in der Partnerschaft.“8 Allerdings entspreche andererseits „ein Verständnis der bürgerlichen Ehe als ,göttliche[r] Stiftung‘ und der vorfindlichen Geschlechter-Hierarchie als Schöpfungsordnung […] weder der Breite biblischer Tradition noch dem befreienden Handeln Jesu, wie es die Evangelien zeigen.“9 Mit dieser Bestimmung ist nicht nur die Position zur Ehe dargelegt, sondern auch der Umgang mit der Bibel als autoritativem Text. Die Autorität der Schrift wird nicht dadurch anerkannt, dass aus dem Kontext gerissene Schriftzitate als Belege angeführt werden, sondern durch das Hören auf den „Grundton“ der Bibel: „Durch das biblische Zeugnis hindurch klingt als ,Grundton‘ vor allem der Ruf nach einem verlässlichen, liebevollen und verantwortlichen Miteinander, nach einer Treue, die der Treue Gottes entspricht.“ Gut protestantisch sucht die EKD damit das, „was Christum treibet“10 auf und versucht von daher ihre Konkretionen zu folgern. In methodischer Hinsicht heißt das: „Angesichts der Vielfalt biblischer Bilder und der historischen Bedingtheit des familiären Zusammenlebens bleibt entscheidend, wie Kirche und Theologie die Bibel auslegen und welche Orientierung sie damit geben.“11

Im vorliegenden Zusammenhang soll keine Diskussion um die Ehe an sich geführt werden,12 hier ist entscheidend, dass die EKD für sich sehr wohl in Anspruch nimmt, einen zeit- und schriftgemäßen Umgang mit der Schrift vorzulegen. Dieser Einschätzung widerspricht der Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes, Michael Diener, wenn er dem Text attestiert, die Bindung „an das Schriftzeugnis in seiner eigenen Klarheit und Priorisierung“13 aufgegeben zu haben. Dagegen wendet sich mit Vehemenz die Hamburger Neutestamentlerin Christine Gerber in ihrem Beitrag zum bereits erwähnten Symposion, die betont, dass eine bestimmte Position nicht dadurch schriftgemäß sei, wenn sie beständig biblische Zitate in ihren Gedankengang einbaut, „sondern durch die Orientierung an Liebe und Gerechtigkeit.“14

Im Rahmen dieser Debatte zeigt sich, dass sich sozialethische Entscheidungen christlicher Kirchen an der Bibel orientieren sollen, die Bibel als Autorität also geachtet wird, aber gleichfalls umso dringlicher, dass kein Konsens darin besteht, wie konkret mit den biblischen Texten in den einzelnen Argumentationsgängen umzugehen ist.15

Gleichzeitig lässt sich die zuvor gemachte Beobachtung der neuen Allianzen wieder nachweisen: Evangelikale Positionen treffen sich mit denen der römisch-katholischen Kirche, während „liberale“ Katholiken sich hier gegen ihr eigenes Lehramt tolerant eingestellt zeigen. Die klassischen Konfessionsgrenzen nehmen in ihrer Bedeutung für das alltägliche Leben hingegen weiter ab.

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