Читать книгу Sie über sich - Paul Metzger - Страница 26

2.3. Der Zusammenbruch des „Schriftprinzips“

Оглавление

Luthers Ersetzung des Lehramtes durch die Schrift wird hinterfragt. Es liegt eine gewisse Tragik in der Erkenntnis, dass gerade die nachdrückliche Betonung und ausführliche Begründung der Schriftautorität durch die Orthodoxie bereits den Keim ihres Endes in sich trug, da jede „ausdrückliche Inanspruchnahme von Autorität stets ein gefährliches Manöver“1 darstellt. Denn die explizite Betonung der Autorität „irritiert die Routine“,2 die zur ungestörten und oft unbemerkten Ausübung von Autorität nötig ist. Im Regelfall lädt die Betonung von Autorität zu deren Überprüfung ein, was oft genug zum Nachteil der nun ausdrücklich geforderten, also nicht mehr fraglos akzeptierten Autorität ausfällt.3 Diese allgemeine Erkenntnis schlägt durch die Aufklärung auf die Anerkennung der Schriftautorität durch und die einzelnen Argumente, die sie eigentlich absichern sollten, fallen dahin. Das Schriftprinzip wird durch die von der Schriftautorität emanzipierte Vernunft der Aufklärung überprüft.4

Die Aufklärung, zu deren Idealen „die Bevorzugung der menschlichen Vernunft als höchster Autorität, der Toleranz als höchster Tugend und des Glaubens an Fortschritt und Höherentwicklung in allen Bereichen als beste Philosophie, dazu die Skepsis gegen alles Geheimnisvolle und Übernatürliche“5 gehören, gebiert die historisch-kritische Methode und diese Methode hat Folgen für das Schriftprinzip, was zunächst aber nicht in seiner ganzen Tragweite gesehen wird.6 So behauptet der Protestantismus deshalb „überwiegend die historisch-kritische Schriftauslegung als spezifisch neuzeitliche Gestalt des reformatorischen Schriftprinzips“7 und kommt so allmählich zu der Erkenntnis, dass die Methode letztlich das Prinzip zerstört: „Es ist die Methode der historischen Kritik, die das altprotestantische Schriftprinzip auflöste.“8

Das historische Bewusstsein wendet sich mit der menschlichen Vernunft als Kriterium der Wahrheitsfindung den biblischen Texten zu. Exegese und Dogmatik werden als eigenständige Disziplinen geboren.9 Fragen kommen auf, die das Lehrgebäude der Orthodoxie zum Einsturz bringen.10 Das beginnt mit grundlegenden Feststellungen, die die Text- und Kanonsentstehung beschreiben, geht weiter mit der Frage, ob die Wunder Jesu und schließlich seine Auferstehung wirklich stattgefunden haben können, konfrontiert die Schöpfungserzählungen der Genesis mit den aufkommenden Erkenntnissen der Naturwissenschaften und führt schließlich zu dem Urteil, dass selbst die Institution „Kirche“ hinterfragt werden muss.11 Die Emanzipation der Vernunft löst das Schriftprinzip auf, weil sie die ausgeführten Bestimmungen der altprotestantischen Orthodoxie erschüttert und letztlich widerlegt. Die „Heilige Schrift“ ist nicht in sich irrtumslos, klar und der Selbstauslegung genausowenig fähig wie jedes andere Buch.12 Sowohl die Glaubwürdigkeit der Schrift nach menschlichen (äußeren Vernunftkriterien) wie nach göttlichen (testimonium internum) Maßstäben wird „durch die moderne Bibel- und Religionskritik zum Einsturz gebracht.“13 Die „Schrift“ wird in historischer Perspektive zur „Bibel“ – je nach Standpunkt – befreit oder herabgestuft. Die historische Erforschung der Bibel kann ihren eigenen Prämissen nach in ihr keine Heilige Schrift an sich mehr erkennen.14 „Die Exegese emanzipiert sich von der Dogmatik; historische Forschung und dogmatische Geltungsansprüche treten auseinander.“15

Luthers emphatische Aufwertung der Schrift führt also „den Protestantismus in ein Dilemma“,16 das bislang nicht gelöst werden kann.17 „Der Geruch von Untergang ist in der Luft.“18 Die historische Methode hat eine „Grundlagenkrise heraufbeschworen“,19 die letztlich „die reformatorische Idee von der Eindeutigkeit der Schrift selbst aufgehoben“20 hat. Methodisch gewendet stellt sich die Frage: Wie verhält sich die profane Erforschung und Erklärung der biblischen Texte zu dem Postulat der Texte als „Heiliger Schrift“?21

Sie über sich

Подняться наверх