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2.2. Die Lehre von der Schriftautorität

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Dieses ausgeführte Lehrstück über die Heilige Schrift verdient eine genauere Betrachtung, da die historische Kritik sich mit diesen Überlegungen auseinandersetzen musste.1

Der erste Grundsatz dieses Prinzips lautet: „Was die heilige Schrift lehrt, das ist unfehlbar gewiß.“2 (David Hollaz) Die Schrift ist, das Erste, „das selber nicht mehr anderswoher bewiesen oder abgeleitet wird.“3 (Georg Calixt)

Der zweite Grundsatz betrifft die Inspiration der Schrift: „Der heilige Geist ist zugleich der Urheber (autor) wie der Ausleger (explicator) der Schrift“ (Matthias Flacius Illyricus).4 Damit ist die Lehre von der Verbalinspiration in die altprotestantische Theologie aufgenommen, sie setzt sich „bei den orthodoxen Theologen des 17. Jahrhunderts nahezu flächendeckend durch.“5 Die „wirkende Ursache“ der Schrift ist Gott, die „weniger entscheidende wirkende Ursache der heiligen Schrift sind die heiligen Männer, welche durch Eingeben des heiligen Geistes die Hand ans Schreibrohr gelegt […] haben.“6 Diese Schreiber hingen „schlechthin von der Theopneustie oder göttlichen Eingebung [ab], durch die der heilige Geist ihnen das, was zu schreiben war, mitteilte und ihrem Geiste gleichsam in die Feder diktierte.“7 (Johann Musäus)

Um die Inspiration der Schrift abzusichern und sie vernünftig begründen zu können, werden Kriterien der Inspiration angegeben, und damit die Bedeutung der Schrift als Grundaxiom abgesichert.8

Äußere Kriterien nach David Hollaz sind:9

„a) das Alter der Schrift;

b) das besondere Licht der heiligen Schreibhilfen, ihr Streben nach Erkenntnis und Wahrheit;

c) der Glanz der Wunder, durch die die himmlische Lehre der Schrift bestätigt wird;

d) das übereinstimmende Zeugnis der über den ganzen Erdkreis ausgebreiteten Kirche von der Göttlichkeit der heiligen Schrift;

e) die Beständigkeit der Märtyrer;

f) das Zeugnis der übrigen Völker für die in dem heiligen Buche enthaltene Lehre;

g) die glückliche und schnelle Ausbreitung der christlichen Lehre über den ganzen Erdkreis und ihre wunderbare Erhaltung unter soviel Verfolgungen;

h) die schweren Strafen, die den Verächtern und Verfolgern des göttlichen Wortes zuteil geworden sind.“10

Zu diesen äußeren Kriterien treten aber zur weiteren Bestätigung innere „Anzeichen, aus denen die Theopneustie der heiligen Schrift kund wird“.11 Diese sind (wieder nach David Hollaz):

a) „die Majestät Gottes, der sich selbst im heiligen Buche bezeugt;

b) die Einfalt und der Ernst des biblischen Stils;

c) die Erhabenheit der göttlichen Geheimnisse, welche die Schrift eröffnet;

d) die Wahrheit aller biblischen Aussagen;

e) die Heiligkeit der Gebote, die in den heiligen Schriften enthalten sind;

f) die Genügsamkeit (sufficentia) der heiligen Schriften zu Seligkeit.“12

Die inneren Kriterien laufen letztlich auf die Selbstbeglaubigungskraft der biblischen Schriften hinaus. Dies ist bereits bei Johannes Calvin vorgezeichnet, der auf den Geist als die Beglaubigungsinstanz der Schrift hinweist: „Denn wie Gott selbst in seinem Wort der einzige vollgültige Zeuge von sich selbst ist, so wird auch dies Wort nicht eher im Menschenherzen Glauben finden, als bis es vom inneren Zeugnis des Heiligen Geistes versiegelt worden ist.“13

Das „testimonium spiritus sancti internum“ besagt demnach, dass der Geist im Menschen selbst beglaubigen muss, dass Gottes Wort wirklich Gottes Wort an das je eigene Individuum ist. Denn „nur im Vernehmen des Zeugnisses des Heiligen Geistes weiß ich, daß Gott in der Schrift zu mir redet; aber nur in der Schrift erfahre ich, was Gottes Rede an mich ist: Schriftevidenz und Geisteszeugnis sind identisch.“14 Bei David Hollaz wird dieses Zeugnis als „übernatürlicher Akt“15 bestimmt. Es ist „der vornehmste und letzte Grund, den göttlichen Ursprung der heiligen Schrift zu erkennen und mit göttlichem Glauben zu glauben.“16

Dieses Argument unterstützt daher in kontroverstheologischer Sicht die Behauptung, dass die Schrift allein die Autorität tragen kann, die Luther ihr zugemutet hat. Die Autorität der Schrift ist deshalb die grundlegende Eigenschaft, die ihr in der altprotestantischen Theologie zugeschrieben wird. „Daraus ergibt sich, daß die Vollmacht der heiligen Schrift der Sache nach nicht von der Kirche abhängt, sondern von Gott allein.“17 (Johann Musäus) Hier zeigt sich die Frontstellung des Schriftprinzips deutlich, da die Kirche schließlich im System der „Altgläubigen“ der Bezugsrahmen ist, in dem sich die Autorität der Schrift in Zusammenspiel mit Tradition und Lehramt entfaltet. Untergliedert wird diese Eigenschaft in „auctoritas causativa“ und „normativa“.18 Die „auctoritas causativa“ besagt, dass Gott selbst der Urheber der Schrift ist, bedeutet also die Einholung des zweiten Grundsatzes, wonach die Schrift vom Geist inspiriert ist, in die Eigenschaftslehre. Bereits diese grundlegende Eigenschaft wird wiederum nur durch das Zeugnis des Geistes bewiesen, „denn der einzige ganz stringente Beweis liegt darin, daß der heil. Geist sich an dem Herzen des einzelnen bezeugt und der einzelne so aus der Kraft und Macht, welche das Wort Gottes über ihn ausübt, von der Göttlichkeit desselben überzeugt wird.“19

Die zweite Eigenschaft der Schrift, die festgehalten wird, ist die „Wirksamkeit“: „Es ist aber die Wirkungsmacht der heiligen Schrift eine bestimmte übernatürliche Dynamis, oder aktive Kraft und Gewalt, von Gott selber ihr beigelegt, dazu, die Herzen der Menschen zu bekehren, wiederzugebären und zu erneuern.“20 Die „auctoritas normativa“ steht in der gleichen Frontstellung, nimmt dagegen explizit die Einsicht der Konkordienformel auf, wonach die Schrift die einzige Instanz des Glaubens sein darf: „Danach müssen wir die heil. Schrift für die einzige Norm und Richtschnur unseres Leben erkennen, aus welcher allein auch alle Streitfragen über göttliche Dinge müssen erledigt werden, so dass es also in keinem Falle noch des Hinzukommens einer anderen Auktorität bedarf, durch welche dieselben entschieden werden.“21 Falls die Schrift auf den ersten Blick nicht hinreichend klar eine Streitfrage entscheiden kann und selbst der „Lehrstande“ der Kirche dies nicht vermag, so liegt dies nicht an der Schrift, sondern daran, „dass dieselbe nicht recht ausgelegt oder die rechte Auslegung nicht angenommen wird.“22 Die Klarheit der Schrift ist demnach bereits in der „auctoritas normativa“ enthalten, sodass diese als weitere Eigenschaft gelten kann. Genauer wird hier darauf verwiesen, dass „alles das, was zum Heil zu wissen nötig ist, klar und deutlich in ihr gesagt“23 sein soll. Die Deutlichkeit (perspicuitas) der Schrift muss dabei freilich so lange lediglich äußerlich und natürlich bleiben, „bis durch die Erleuchtung des heil. Geistes ein inneres Verständnis und das Vermögen gewirkt wird, sich die in den heil. Schriften enthaltenen Heilswahrheiten auch im Herzen zu eigen zu machen.“24

Dementsprechend ist klar, dass die Schrift in sich suffizient sein muss. Wenn sie in aller Deutlichkeit all das enthält, was zum Heil zu wissen nötig ist, dann folgt daraus, dass „wir nie Ursache haben, dasselbe anderswoher zu ergänzen, daher also alle Lehren, welche aus mündlicher Tradition wollen abgeleitet werden, zu verwerfen sind.“25 Weil deshalb die Schrift Gottes einziges Wort an uns ist, „folgt weiter, dass, wenn wir überhaupt den Weg kennen sollen, der zum Leben führt, er auch vollkommen in der heil. Schrift angegeben sein muss, und dies ist es, was mit der perfectio seu sufficientia ausgesagt werden soll.“26

Wenn in der Schrift aber der Heilsweg vollkommen dargelegt ist und keine andere Erkenntnisquelle herangezogen werden darf, wenn die Schrift die höchste Autorität hat und durch den Geist aufgerichtet wird, dann ist folgerichtig, dass der Geist die Schrift nicht nur um ihrer eigenen Autorität, Suffizienz und Normativität im Menschen als Wort Gottes erweist, sondern um im Menschen zu dessen Heil zu wirken. Die Schrift kann deshalb als „medium salutis“ betrachtet werden, indem ihr die Kraft zugeschrieben wird, den Menschen in den Stand der Gnade zu erheben. Diese Kraft ist derart, „dass sie immer Erfolg hat, wo ihr nicht von seiten des Menschen Widerstand entgegengestellt wird.“27 Der Schrift kommt „efficacia“ zu, sodass sich sagen lässt: „Solch eine Kraft kommt dem Wort dadurch zu, dass der heil. Geist zu demselben hinzutritt, […] so dass die Kraft und die Wirksamkeit des Wortes mit der des heil. Geistes völlig identisch, eine wahrhaft göttliche ist.“28

Auf wenige Sätze konzentriert die wirkungsvolle und weit verbreitete „Theologia positiva acroamatica“ von Johann Friedrich König die altprotestantische Schriftlehre.29 Das „Erkenntnisprinzip der Theologie“ wird bei ihm als Lehre von der „Heiligen Schrift“ behandelt.30 Deshalb gehört sie in die fundamentaltheologische Grundlegung der Dogmatik. Nach König ist alles, was sie lehrt, „von Gott eingegeben und insoweit unfehlbar wahr“ (§ 79).31 Dass überhaupt von der „Schrift“ gesprochen werden kann, wenn die biblischen Texte gemeint sind, ist berechtigt, „wegen des gottgeleiteten Tuns der dienenden Ursache, nämlich der äußerlichen Tätigkeit der Schreiber“ (§ 80). „Heilig“ ist sie aber vor allem, „wegen der Wirkursache“ (§ 81), also Gott selbst, „wegen des Gegenstands, der heiligen Dinge, (3) wegen des Zwecks und der Wirkung, der Heiligung und (4) wegen der nur ihr eigenen Besonderheit, durch die sie sich nicht nur von allen weltlichen, sondern auch von allen kirchlichen Schriften unterscheidet“ (§ 81). Gott gibt dabei nicht nur „die Sachaussagen, sondern auch den Wortlaut der Schrift“ ein (§ 86). Gott schenkt den Menschen die Schrift, damit „wir ihn zu unserem Heil erkennen und seiner Würde entsprechend verehren“ (§ 103). Für uns ist „der letzte Zweck“ der Schrift „das ewige Heil“ (§ 105), während die „Unterweisung“ und die „Heiligung“ die beiden „vorläufigen“ Absichten der Schrift sind (§ 106). So kommt König zur allgemeinen Definition: „Die Heilige Schrift ist das Wort Gottes, das aufgrund der unmittelbaren Eingebung des Heiligen Geistes durch die Propheten im Alten sowie durch die Evangelisten und Apostel im Neuen Testament schriftlich aufgezeichnet wurde, um den Menschen zu seinem Heil zu unterweisen“ (§ 107). Der Testimonium-Gedanke wird bei König zu dem entscheidenden unfehlbaren Erkenntnisprinzip der Schrift: „Die unfehlbaren [Erkenntnisprinzipien], durch welche die Autorität der Schrift so unfehlbar erwiesen wird, daß sie mit göttlichem Glauben angenommen wird, sind (1) das Zeugnis, das die Schrift von sich selbst und von der ihr innewohnenden göttlichen Herkunft und Autorität darbietet, (2) das Wirken des Heiligen Geistes, durch das er in uns mittels der Schrift göttlichen Glauben wirkmächtig hervorbringt und besiegelt“ (§ 113).

Die altprotestantische Orthodoxie errichtet um Luthers „sola scriptura“ also ein beeindruckendes und in sich logisch geschlossenes Gebäude der Schriftautorität.32 Die Bibel wird zur „Schrift“, sie gerinnt zu ihrem eigenen Dogma.33 Die Schrift besitzt absolute Autorität und Normativität. Sie ist in sich suffizient, vollkommen und entfaltet mit Hilfe des Geistes im Grunde die gleiche Wirkungskraft wie dieser selbst. Das „Papier“ hat den „Papst“ nicht nur ersetzt, es wurde zum „papiernen Papst“34 und in diesem Zug geradezu vergöttlicht. Die Autorität der Bibel als Prinzip von Theologie (und damit auch von Kirche35) erfordert also gleichsam die Aufwertung der Bibel als „einer Art literarischer Inkarnation Gottes.“36 Diese Bewegung führt folgerichtig in historischer Perspektive zur Entzweiung von „Altgläubigen“ und „Protestanten“: „Die Einheit der abendländischen Kirche bricht […] im Verständnis der Autorität der Schrift auseinander.“37

Literarische Denkmäler und Mausoleum auf der einen, absolute Autorität, Richterin, Königin und Heilsmittel auf der anderen Seite. Was ist zwischen Luther, der Konkordienformel und der altprotestantischen Theologie auf der einen Seite und Theologen wie Schleiermacher und Barth auf der anderen Seite geschehen?

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