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Mittwoch, 16. November

Er erwachte ohne die bohrende Angst, verrückt zu werden, und sah in einen sonnigen Herbsttag, der fast schon auf Winter machte. Silbrig schimmernd überzog eine dünne Schicht Raureif die umliegenden Gärten und es fror ihn beim Hinaussehen.

Obwohl er wie erschlagen war, schleppte er sich in die Küche und brühte sich einen Kaffee. Es duftete verführerisch und weckte seinen Hunger, schließlich hatte er seit dem gestrigen Mittag nichts mehr gegessen. Während er frühstückte, bewertete er seine Optionen. Sich krank melden und zu Hause bleiben ging nicht. Prock würde praktisch augenblicklich in Gang kommen und versuchen, ihn loszuwerden. Zudem musste er zusehen, was mit der Toten war und wie es mit dem Rosetti-Fall weiterging, wollte er sein Vorhaben in die Tat umsetzen.

Das Beste würde sein, sich nicht zu verstecken und im Präsidium Präsenz zu zeigen.

***

Als Finkler sein Büro betrat, erkannte er an Schulz’ erstauntem Blick, dass die Nachricht von seinem Zusammenbruch offenbar schon wie ein Buschfeuer durch die Büros gelaufen war.

»Kannst du überhaupt arbeiten?«

Finkler rang sich ein Lächeln ab. »Geht schon. Die Ärzte glauben, es war die Migräne«, log er drauflos, »sind sich aber wie immer bei meiner Matschbirne nicht sicher. Es herrscht große Verunsicherung.«

»Nicht nur bei ihnen.«

Er wusste bereits, was kam. »Lass mich raten: Prock war schon oben.«

»Ja.«

»War zu erwarten. Weißt du was? Ich scheiß drauf. Er macht ohnehin, was er will.«

Schulz zuckte bedauernd mit den Schultern. »Mal was anderes: Die Tote von gestern ist bei uns gelandet, doch ich sehe nicht wirklich, warum wir hier von organisierter Kriminalität ausgehen sollen. Wie war dein Eindruck?«

Finkler vermied es, an seinen Wachtraum zu denken. »Sie lag schon einige Jahre in dem Gang. Ich vermute mal, sie wurde kurz vor dem Bau des Parkplatzes dort abgelegt. Sonst hätte man sie sicherlich früher entdeckt. Nun, so wie die Leiche dort versteckt wurde, ist ein organisiertes Verbrechen nicht ausgeschlossen. Wir sollten schon ermitteln. Wann wurde das Parkdeck gebaut?«

»Mitte der achtziger Jahre, genauer gesagt im Frühjahr 1986.«

Finkler spürte, wie gut es ihm tat, aktiv zu werden. Es lenkte ihn ab. Der Polizist in ihm funktionierte also noch. »Hast du einen Grundbuchauszug und die Bauakte angefordert?«

»Nein.« Schulz wirkte routiniert und konzentriert. Er machte sich Notizen. »Veranlasse ich sofort, auch wenn ich nicht glaube, dass uns das weiterbringen wird. Ich denke, schon ihre Identifikation wird schwierig, wenn sie tatsächlich schon so lange dort liegt.«

Finkler nickte. »Die Vermisstenfälle von damals wurden mittlerweile allesamt vernichtet. Wann ist die Obduktion?«

»Gestern schon passiert.«

»Gestern?«

Schulz hob die Hände. »Ich war auch überrascht. Vielleicht ist es denen langweilig. Ich habe keine Ahnung. Moment, ich schick dir die Dateien.«

Kurz darauf piepste Finklers Computer. Unvermittelt sah er in das Gesicht der Toten. Er hielt den Atem an, konzentrierte sich wieder.

Sie war ermordet worden. Dem eingedrückten Zungenbein nach hatte der Täter sie erwürgt. Bis auf eine Wunde am Kopf war sie unverletzt. Die Rechtsmediziner schätzten das Alter zum Todeszeitpunkt auf zwischen dreißig und vierzig. Wann der Tod eingetreten war, wusste man noch nicht zu sagen. Die Kleidung schien von den Marken her aus den achtziger Jahren zu stammen. Der Pathologe hatte 1985 an den Rand gekritzelt und dazu den Kommentar: Tour-Shirt meiner damaligen Lieblingsband. Finkler grinste.

Als er sich gerade der Tatortanalyse zuwenden wollte, flog die Tür ohne vorheriges Klopfen auf und Prock trat ins Büro.

»Da bist du ja doch! Ich hatte heute nicht mit dir gerechnet.«

»Wir sind an der Toten von gestern dran.«

Prock winkte gelangweilt ab. »Das ist doch sinnlos bei einer solchen Mumie. Wir lassen die Standardroutinen durchlaufen und dann kommt der Deckel drauf. Die von der Mordkommission sollen damit machen, was sie wollen.« Ohne Umschweife wechselte er das Thema. »Viel wichtiger ist: Was war das gestern bei dir?«

Finkler winkte ab. »Ein Schwächeanfall, wahrscheinlich ausgelöst durch die Migräne, die ich seit dem Unfall habe.«

»Wie du dir vorstellen kannst, musste ich reagieren. Es gibt für solche Ereignisse, besonders bei deiner Vorgeschichte, klare Anweisungen.«

»Du schiebst mich ab«, unterbrach ihn Finkler, um Prock die Pointe vorwegzunehmen.

»Würde ich gerne, das weißt du«, seufzte Prock, »aber so einfach geht das bei uns Beamten ja leider nicht. Du musst zu einer neuen Diensttauglichkeitsuntersuchung. Dein Termin ist am 18. Dezember, vorher war nichts zu machen.«

Finkler nickte überrascht. Man gewährte ihm eine Galgenfrist. »Okay, ich werde es mir notieren.«

Procks Augen schauten spöttisch und ein süffisantes Lächeln umspielte seine Lippen. »Bis dahin nur noch Innendienst. Akten fressen. Und vergiss nicht: Heute Nachmittag ist die Besprechung zum Rosetti-Fall. Bring Bender auf Stand. Er trifft ab jetzt die Entscheidungen.«

Wenig später stand Daniel Bender im Büro. Er setzte sich, einen Becher Kaffee in der Hand, und sah aus wie immer. Jedes Haar lag an seinem Platz, seine Jeans wirkte wie frisch aus der Reinigung und die Schuhe glänzten poliert. Finklers Pflegemutter hätte gesagt: wie aus dem Ei gepellt.

»Das Zeug da ertrage ich immer noch nicht.« Finkler deutete auf den Kaffeebecher und schob den Obduktionsbericht der mumifizierten Leiche unauffällig beiseite.

»Man gewöhnt sich dran.«

Bender trank einen großen Schluck und machte den Anschein, es zu genießen.

Wenn Finkler einen Gegenstand auf eine einsame Insel mitnehmen dürfte, würde die Wahl auf seine Kaffeemaschine fallen. Seine Wohnung bestand aus einem Sammelsurium an Möbeln, die er nach und nach zusammengekauft hatte, ohne wirklich auf Qualität und Stil zu achten. Einzig seine italienische Kaffeemaschine war High End. Er hasste miesen Kaffee.

»Wie geht es dir heute?« Bender zupfte sich einen Faden vom Pulli, unter dem sich, wie Finkler wusste, ein stahlhart trainierter Körper verbarg.

»Beschissen.«

»Tut mir leid, was da vorgefallen ist. Wird schon werden. Also. Wie sollen wir im Rosetti-Fall weiter vorgehen?«

»Wir? Es ist deine Aufgabe.«

»Nun, ich dachte …«

»Daniel. Prock hat mir das sehr deutlich reingedrückt. Die Rollen haben sich vertauscht. Ich bin nur der Wasserträger.«

Bender spielte mit dem Becher zwischen seinen Fingern.

»Ich sehe uns als Team. Und außerdem weißt du viel mehr als ich über den Fall.«

Finkler sah ihn einige Sekunden an. Wenn Bender wüsste, wie wenig ihm im Gedächtnis verblieben war, würde er wohl nicht hier sitzen und um seine Unterstützung werben.

Er lächelte und schlug die Seite mit der Aussage Ferrinis auf.

»Ich habe mir so meine Gedanken gemacht. Wir sollten uns ein paar Zeugen noch mal ansehen.«

Bender schaute skeptisch. »Aber du warst doch längst an diesem Informanten dran?«

»Der letzte Kontakt ist lange her und er wird auf Tauchstation sein.« Er log. »Ich kann ihn nicht erreichen. Es war immer er, der an mich herangetreten ist. Ich jedenfalls hätte mich verdrückt, wenn mein Mittelsmann von der Polizei monatelang nichts von sich hätte hören lassen. Wir rollen die Sache noch mal auf.«

***

Sie fuhren noch vor der Sitzung am Nachmittag zu den Ferrinis. Bender raste zu schnell aus der Stadt, während Finkler in den trüben Tag hinaussah. Die Zugvögel waren schon lange durch. Nur ein paar Krähen flatterten über die abgeernteten Felder und stritten sich um die letzten Körner.

Vito Ferrini war einundsechzig und wohnte mit seiner Frau Maria mittlerweile in Mörfelden, wo sie eine kleine Pizzeria betrieben. Finkler hatte nicht die geringste Vorstellung von den beiden, was ihn nervös machte, denn das Protokoll ihrer Aussage trug seine Unterschrift. Alles, was er wusste, hatte er den Akten entnommen.

»Er hat seine Aussage damals widerrufen, um dann völlig freiwillig«, Finkler zeichnete Anführungszeichen in die Luft, »seine Pizzeria im Nordend aufzugeben und in Mörfelden weiterzumachen. Die Dreckskerle machen den Leuten Druck und wir schauen tatenlos zu. Wie sollen die uns vertrauen?«

»Gar nicht. Sie werden nur noch reden, wenn sie vor uns mehr Angst haben als vor den Mafiosi. Und das wird uns nie gelingen.«

Zehn Minuten später fuhren sie vor einem anonymen Mehrfamilienhaus vor, während ein Flugzeug über das Dach donnerte. »Immerhin können sie jetzt den Jets in die Triebwerke sehen. Auch nicht schlecht, oder?«

Bender grinste und Finkler schüttelte den Kopf. In seinem Stadtviertel war das Dröhnen der Motoren selten zu hören und das, was man den Menschen hier zumutete, glich seiner Meinung nach Körperverletzung, Dreifachverglasung hin oder her.

Die Pizzeria lag im Erdgeschoss des Hauses. Sie war noch geschlossen, doch auf einer Klingel am Hauseingang entdeckten sie den Namen des Ehepaares. Bender drückte auf den Knopf und praktisch sofort surrte der Öffner, der sie in ein gepflegtes Treppenhaus einließ. Sie stiegen die Stufen zum ersten Stock hinauf. Eine der Türen war bereits einen Spaltbreit geöffnet, eine Frau spähte misstrauisch auf die Treppe. Sie stellten sich vor.

»Zeigen Sie mir Ihre Ausweise.«

Sie erkennt mich auch nicht, ging es Finkler durch den Kopf. Sein zweiter Gedanke war, dass ihre Angst mit Händen zu greifen war. Sie nahm sich Zeit, um die Ausweise eingehend zu lesen. Dann erst entfernte sie die Kette, ließ sie ein und schloss die Tür sofort, nicht ohne sich dabei im Treppenhaus umzuschauen.

Ein weiterer Jet flog über das Haus. In der Wohnung dämpften Mauern und Fenster den Lärm der Motoren auf ein dumpfes Brummen, das nicht weniger unangenehm war.

Maria Ferrini ging voran in ein kleines Wohnzimmer, das gemütlich eingerichtet und mit Erinnerungsfotos aus dem gemeinsamen Leben der Familie vollgestellt war. Bilder aus Italien, von der alten Pizzeria, von den Kindern.

»Anders als bei unserem letzten Treffen, oder?« Sie sah Finkler fragend an. Ein harter Blick aus dunklen Augen.

Finkler nickte, obwohl er nicht die geringste Erinnerung daran hatte. Anscheinend hatte er sich zu früh Hoffnungen gemacht. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

»Im Nordend war es ruhiger.«

Ihr Lachen war glockenhell und so bitter, dass Finkler meinte, es auf der Zunge zu schmecken. Ihre Augen ruhten auf der Narbe an seinem Schädel. »Was wollen Sie?«

»Maria!« Vito Ferrini trat in die Tür. Er funkelte seine Frau böse an, die den Raum verließ, ohne ihren Mann weiter zu beachten. Der wandte sich mit entschuldigendem Achselzucken an die Polizisten: »Bitte, setzen Sie sich.«

Sie nahmen am Esstisch Platz. Von hier konnte man nun durch das Fenster die Flugzeuge wie Lampions am Himmel hängen sehen. Eins nach dem anderen sanken sie wie an einer Schnur befestigt langsam zu Boden. Ferrini folgte Finklers Blick. Er schien nervös und rieb ständig Daumen und Zeigefinger aneinander.

»Langweilig wird es nicht. Immer Bewegung.« Der kleine Italiener sah älter aus, als er in Wirklichkeit war. Tiefe Falten durchfurchten sein Gesicht. »Was können wir diesmal für Sie tun?«

»Neue Fahndungsansätze erfordern oftmals eine zweite Befragung«, antwortete Bender.

Finkler verdrehte innerlich die Augen. Daniel sprach wie ein Finanzbeamter. Er ging dazwischen.

»Wieso haben Sie die Anzeige damals zurückgezogen?«

»Es hatte sich erübrigt, ein Missverständnis.« Ferrini schien sich auf diese Frage vorbereitet zu haben. Die Antwort klang wie auswendig gelernt.

Maria kam mit einem Tablett zurück, auf das sie Gläser und eine Flasche Wasser gestellt hatte. Sie war wütend. Es war deutlich, wen sie für alles verantwortlich machte.

»Warum tauchen Sie wieder auf und stellen uns die gleichen Fragen?«

»Sie ziehen die Anzeige zurück und dann der Umzug hierher. Das gibt uns eben zu denken.«

»Man hat uns Geld gegeben und das Restaurant hier.«

»Wer?«

Sie knallte die Wasserflasche auf den Tisch.

»Brauchen Sie Namen und Blutgruppe, oder was? Die wollten unser gut laufendes Restaurant übernehmen und haben anständig dafür gezahlt. Ende der Ansage.«

»Wir können Sie schützen«, warf Daniel ein.

Ferrini schüttelte unmerklich den Kopf, um seine Frau zu bremsen. Doch sie beachtete ihn nicht. Es platzte förmlich aus ihr heraus.

»Sie schützen uns? Dass ich nicht lache. Luigi Antinorini vom La Gondola haben sie die Tür eingetreten und ihn vor den Gästen verprügelt. Das hat er zu Protokoll gegeben und sogar Anzeige erstattet.« Sie bebte förmlich vor Wut. »Nichts ist passiert. Eine Woche später standen drei Typen vor seiner Tür und haben ihm seinen toten Hund vor die Füße geworfen. Er war von oben bis unten aufgeschlitzt. Luigi ist abgehauen.«

Finkler nickte mechanisch.

»Diese Drecksbande tut, was ihr gefällt. Und wir kommen dabei unter die Räder.« Sie holte Luft und fixierte die beiden Polizisten. »Und jetzt wollt ihr wieder eine Aussage? Haltet ihr uns für vollkommen verblödet?« Sie zeigte nach oben, wo gerade ein neues Flugzeug über das Haus hinwegflog. »Der Lärm ist nicht so schlimm wie die Angst. Und die Kunden wissen mittlerweile, dass Vito toll kocht und dass es bei uns sauber ist. Der Laden ist jeden Abend voll. Die alten Gäste kommen sogar aus Frankfurt hierher und wir haben unseren Frieden. Also bitte: Lassen Sie uns in Ruhe.«

»Geben Sie uns wenigstens einen Namen.« Finkler fragte ohne Umschweife, was blieb ihm auch übrig. Entweder sie machte dicht oder nahm den Faden wieder auf.

Sie sprach weiter, doch ihre Antwort barg eine ungute Überraschung. »Ich soll Ihnen einen Namen geben? Sie kennen diesen dreckigen Schläger doch. Ich habe Sie doch mit dem Abschaum sprechen sehen.«

»Wo?« Es gelang ihm, durch die Frage zu verbergen, wie sehr ihn die Antwort überrumpelte. Sein Gebilde aus Halbwahrheiten geriet ins Schwanken. Aus den Augenwinkeln sah er Benders erstaunten Blick.

Nun war Maria verwirrt. »Dort, wo dieser Thaki immer rumhängt: in seiner Kneipe in Kelsterbach. Dem Kranich. Sie saßen mit ihm am Fenster.«

Das Traummosaik

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