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Donnerstag, 17. November

Den gesamten Mittwochabend war Finkler in einer Migräne versunken, wie er sie noch nicht erlebt hatte. Zwar hatte er mit einer körperlichen Reaktion auf den Stress der vergangenen Tage gerechnet, doch die Heftigkeit der Attacke erschreckte ihn. Der Schmerz zwang ihn sofort ins Bett. Ihm blieb nichts übrig, als im abgedunkelten Raum zu liegen, zu warten, bis die Medikamente wirkten, und zu versuchen, Entspannung zu finden. Irgendwann kam Melanie. Sie schlüpfte zu ihm ins Bett und legte beruhigend ihren Arm um seine Schultern. Er schmiegte sich an sie und genoss ihre Nähe.

Erst am Donnerstagmorgen ließ ihn die Migräne langsam los und zog wie ein hartnäckiger Sturm Zug um Zug ab. Zurück blieb der typische Migränekater.

Er schlurfte in die Küche und machte Frühstück, während Melanie unter der Dusche war. Die erste Tasse Kaffee trank er im Stehen, dann setzte er sich und las die Zeitung, in der eine kurze Nachricht über die Tote erschienen war. Wenige Worte nur, unten in der Ecke.

Melanie kam im vollen Ornat der Abteilungsleiterin herein. Kostüm, aufwendiges Make-up und eine breite Aktentasche. Sie sah auf die Uhr.

»Ich bin spät.«

Er goss ihr Kaffee ein. Schwarz, wie immer.

»Setz dich wenigstens für fünf Minuten.«

Widerstrebend nahm sie Platz und schmierte sich eine halbe Scheibe Brot. Immer auf der Hut vor zu viel Kalorien. Finkler grinste. Er konnte essen, was er wollte, so dürr, wie er war.

»Willst du heute Abend mit mir ausgehen?«

»Traust du dir das zu?«

»Ich habe doch jetzt Zeit. Club Rose?«, schob Finkler nach.

Sie lachte auf. »Du willst in den Club Rose?«

»Ich ziehe mir auch was Schönes an. Heute Abend? Zehn Uhr?«

Ein kurzes Zögern und ein fragender Blick. »Okay. Zehn Uhr bei mir!«

Als sie gegangen war, duschte er lange, spülte Schweiß und Erschöpfung fort und ließ seine Gedanken treiben. Danach ging es ihm besser und er machte sich wieder auf die Suche nach den verschwundenen Akten. Er hatte zwar keine große Hoffnung, sie bei sich zu Hause zu finden, aber einen Versuch war es wert.

In einer kleinen Kammer bewahrte er alle privaten Unterlagen auf, die er in ordentlich beschriftete Ordner geheftet hatte. Steuererklärungen, Versicherungen, Rechnungen. In einem Karton fand er seine Fotos. Eine der Aufnahmen zeigte seinen Vater in Uniform, wie er dem Polizeipräsidenten bei einer öffentlichen Belobigung die Hand schüttelte. Auf einem anderen war sein Vater breit lächelnd mit einem ihm unbekannten Mann zu sehen, der seinen Arm freundschaftlich um seine Schulter gelegt hatte. Das letzte Foto war auf seiner Beerdigung aufgenommen worden: Hunderte von Polizisten säumten das Grab. Er war ein beliebter und guter Polizist gewesen. »Im Einsatz für Recht und Ordnung gestorben«, so hatte es in den Zeitungen gestanden. Aber eigentlich war es bloß ein Verkehrsunfall mit dem Dienstwagen gewesen, sinnlos.

Wenn man genau hinschaute, konnte man am Grab inmitten der uniformierten Armee einen kleinen Jungen auf dem Arm einer Frau erkennen. Der Knirps war er, Finkler junior. Früher, in Momenten großer Sehnsucht, hatte er sich oft vorgestellt, dass die Frau auf dem Bild seine Mutter wäre. Doch das stimmte nicht, die Frau war eine Mitarbeiterin des Jugendamts.

Er legte die Fotos zurück in den Karton. Die Postkarten darin beachtete er nicht. Es waren Karten seiner Mutter aus Amerika, belanglos und ohne eine Erklärung, warum sie gegangen war, noch bevor er zwei Jahre alt war. Stattdessen durchforstete er den Rest der Wohnung, ohne etwas Brauchbares zu finden. Danach waren Computer und Speichermedien dran – auch hier kein Erfolg.

Er ging in die Küche, setzte sich an den Tisch und trank ein Glas Wasser. Der einzige neue Anhaltspunkt blieb der Zettel, aus dessen Inhalt er weiterhin nicht schlau wurde. Mit wem war er damals verabredet gewesen?

11.05.

23:00 Uhr – Club Rose

FN wird dort sein

FN. Das konnte alles und nichts bedeuten. Er googelte das Akronym und erhielt mehr als zweihundert Millionen Treffer. Sinnlos. Vielleicht würde ja der Abend etwas bringen. Ihm war klar, dass nur der Zufall ihm helfen konnte. Doch was hatte sein Ziehvater immer gesagt: Der Zufall ist der einzig legitime Herrscher des Universums.

***

Das rechtsmedizinische Institut befand sich in einem villenähnlichen Gebäude auf dem Gelände der Universitätsklinik. Finkler nahm den Weg nach unten in die Untersuchungsräume. Es roch nach Formaldehyd und Reinigungsmitteln. Als er Dr. Brückner an seinem Schreibtisch sitzen sah, atmete er auf. Zum Glück war keine Obduktion im Gange.

»Ach, Finkler, was treibt Sie denn hierher?«

Er zeigte ihm das Foto des Untersuchungsberichts. »Sie haben hier auf den Rand geschrieben, dass Sie wegen der Kleidung davon ausgehen, die Leiche stamme aus den achtziger Jahren.«

Der Pathologe begann seltsamerweise zu lachen. Aber es war ein angenehmes Lachen und man hörte, dass er es gerne tat. »Ein merkwürdiger Zufall. Das T-Shirt der Toten hat mich sofort an meine damalige Freundin erinnert. Schönes Mädchen. Wir haben uns auf dem ersten Solo-Konzert von Sting kennengelernt. The Dream of the Blue Turtles-Tour, 1985, in der Festhalle.«

Brückner schwelgte in den Erinnerungen an seine Jugendzeit und erzählte vom heimlichen Kiffen auf dem Anlagenring vor und wildem Knutschen nach dem Konzert. Dann kam er zum eigentlichen Thema zurück. »Ich habe meiner Freundin damals an einem der Merchandising-Stände ein T-Shirt gekauft. Und genau so eins hatte die Tote an.«

»1985. Das passt.«

»Die Frau ist erwürgt worden. Das Zungenbein wurde zertrümmert. Kommen Sie mal mit.«

Brückner ging in den Nebenraum, öffnete eine der Kühlkammern, rollte die Tote auf einer Bahre heraus und zog den Reißverschluss des Leichensacks auf.

Die Wucht des Anblicks ließ Finkler erschaudern. Er hielt sich an einem Schrank fest, als ihn Bilder seines Wachtraums bestürmten, und es gelang ihm nur mit äußerster Konzentration, nicht umzufallen.

»Sind Sie in Ordnung?«, fragte Brückner erstaunt.

»Ja, geht schon.« Er fing sich und suchte nach einer Erklärung. »Manchmal stelle ich mir die Frage, wie wohl die letzten Sekunden eines Opfers waren. Geht Ihnen das nicht so?«

Der Rechtsmediziner sah auf die Leiche und plötzlich zeigte das eben noch so fröhliche Gesicht die tiefen Furchen eines nachdenklichen und sensiblen Mannes. »Natürlich. Ich glaube nicht, dass einer oder eine von uns so abstumpft, dass er dem Tod eines Menschen gleichgültig gegenübersteht. Eine Kollegin sagte mir einmal, dass sie sich vorstelle, mit welchen Zielen die Verstorbenen am Morgen aufgestanden seien, was sie für den folgenden Tag geplant hatten. Mein erster Moment gilt auch immer der Person. Ich sehe die Verletzungen und den wahrscheinlichen Weg zum Ende. Mich in sie hineinzuversetzen allerdings verbiete ich mir, das würde mich auf Dauer überfordern.«

Finkler nickte. »Wir bleiben alle Menschen.«

»Fast.«

»Inwiefern?«

»Besuchen Sie Auschwitz, lesen Sie, was Mengele gemacht hat. Sehen Sie sich an, wie mancher Soziopath seine Opfer quält. Dort ist kein Menschsein.«

»Was ist mir ihr?«

Doch der Arzt war noch nicht so weit. »Wenn ich mir die vor Augen führe, die jenseits meines Vorstellungsvermögens ihre grausamen Taten begehen, schöpfe ich genau daraus meine Motivation. Ich will dazu beitragen, den Abschaum zu fassen. Sobald ich an diesem Punkt bin, tritt das Opfer in den Hintergrund und wird zum Objekt, zum Indizienträger, mit dem man diese Typen bekommen kann. Dann habe ich die notwendige Distanz, akribisch zu suchen.« Dann wechselte seine Stimme, wurde neutral. »Nun aber zu ihr.« Er deutete auf den Schädel mit der ledrigen Haut und den hennaroten Haaren. »Wie gesagt, sie wurde wahrscheinlich vor über dreißig Jahren ermordet. Das Sting-Konzert in der Festhalle war im November 1985. Da ich bezweifele, dass man das Shirt vorher irgendwo kaufen konnte, tippe ich auf einen Zeitraum zwischen Ende 1985 und Anfang 1986. Sie wurde mit großer Kraft erwürgt, das Zungenbein ist mehrfach gebrochen, sodass sie erstickt wäre, selbst wenn der Täter es sich anders überlegt und von ihr abgelassen hätte.«

»Ein Mann?«

Brückner deutete auf den Hals des Leichnams. »Sicher ein männlicher Täter. Wir haben die Druckspuren vermessen, die wir noch finden konnten. Zu groß für die Hände einer Frau.«

»Ansonsten?«

»Innerlich nichts, soweit man das noch beurteilen kann. Eine Verletzung am Kopf, daher das Blut auf der Kleidung. Wohl ein Schlag oder Sturz, das war es dann auch.« Er drehte sich zu Finkler um. »Habt ihr noch weitere Anhaltspunkte?«

»Nein. Ansonsten sieht es schlecht aus. Kaum verwertbare Spuren. Wo sind die Kleider?«

»Schon eingetütet und zur Spurenauswertung.«

Alles war gesagt, doch sie standen noch ein paar Sekunden vor dem Leichnam der Frau und betrachteten sie wie im stillen Gebet.

Ich werde ihn finden, versprach Finkler der Toten, dann ging er.

***

Der Grundbuchbeamte schielte auf Finklers Dienstausweis und verglich das Lichtbild mit dem Mann, der vor ihm stand.

»Schon etwas älter, das Foto?«

Finkler überging die Frage und nannte dem Mann stattdessen die Adresse im Westend, woraufhin der Beamte sich im Computer auf die Suche nach dem Grundbuchauszug machte.

»Da liegt bereits eine Anfrage vor.«

»Von meinem Kollegen Schulz, ich weiß. Ich dachte nur, weil ich in der Nähe bin, kann ich den Auszug auch sofort mitnehmen, dann dauert es nicht so lange.«

Wieder blickte der Mann ihn durch die Gläser seiner stahlgefassten Brille an. »Habt ihr es so eilig?«

»Immer.« Er beugte sich ein wenig vor und bemerkte den unangenehmen Körpergeruch des Beamten. Alter Schweiß, der aus dem dunklen Pullover hervorquoll. Unwillkürlich wich er zurück.

Der Mann zuckte mit den Schultern, klickte mit der Maus, dann begann der Drucker Papier auszuspucken.

»Da haben Sie sich aber das hässlichste Haus der Straße ausgesucht.«

Finkler sah erstaunt auf, eine Reaktion, die sein Gegenüber ganz offensichtlich beabsichtigt hatte.

»Woher wissen Sie das?«

»Ich bin in der Nähe aufgewachsen und musste auf dem Schulweg immer durch die Straße.«

Finkler versuchte sich den Mann als Kind vorzustellen, was ihm aber misslang.

»Zu meiner Schulzeit standen da, wo heute der hässliche Wohnblock steht, noch zwei Bauten aus der Gründerzeit samt Hinterhäusern. Und es gab auf dem hinteren Grundstück zur Nachbarstraße einen kleinen Park, in dem wir immer gespielt haben. Als die Altbauten abgerissen werden sollten, kam es zu einer Hausbesetzung. Achtziger Jahre eben. Da gab es wochenlang Krawall.« Er machte eine Pause und grinste schief. »Gebracht hat’s leider nix.«

»Gibt es eine Möglichkeit, die alten Baupläne einzusehen?«

»Dafür ist das Bauamt zuständig. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die Unterlagen für Gebäude von vor 1945 bei den Bombenangriffen vernichtet worden sind.«

Der Kaffee schmeckte wie Putzwasser, doch das war ihm ausnahmsweise egal. Er breitete auf dem Tisch eines kleinen Cafés die Unterlagen aus. Der Gebäudekomplex war Eigentum einer Gesellschaft namens Immo27 aus Frankfurt. Aus dem Netz erfuhr er, dass hinter Immo27 ein Immobilientrust auf den Cayman Islands mit dem fantasielosen Namen SL Inc. stand. Ein Friedrich Nussler, wohnhaft bei Genf in der Schweiz, war vertretungsberechtigt.

Finkler schüttelte enttäuscht den Kopf. Er hatte die Eigentümer befragen wollen, aber das konnte er nun vergessen. In Firmen wie der SL Inc. auf den Caymans verschachtelten reiche Anleger ihren Immobilienbesitz so geschickt in verschiedenen Unternehmen, dass sie möglichst viele Gesetzeslücken nutzen konnten, um Steuern zu sparen. Die Gesellschaften, bei denen in diesem Geflecht die Fäden zusammenliefen, waren dabei meist in Ländern angesiedelt, die deutschen Behörden keine Auskunft gaben. Auch dieser Nussler würde ihn kaum weiterbringen. Die Schweiz war in dieser Frage nicht gerade ein einfacher Partner. Schon auf dem Dienstweg würde es sicher einige Wochen dauern, bis die Kollegen dort dazu gebracht werden konnten, eine Vernehmung durchzuführen. Er hätte genauso gut auf dem Mond sitzen und um Unterstützung anfragen können.

Das Traummosaik

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