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Dienstag, 15. November

Eine neue Laterne beleuchtete die Straße. Auch die Begrenzungspfosten waren erneuert und die zerfurchten Hauswände saniert worden. Nichts wies mehr darauf hin, dass sich an dieser Stelle jemals ein Unfall ereignet hatte, nichts. Nur sein Kopf war nach wie vor versehrt, innen wie außen.

Finkler war wie so oft seit dem Koma schweißgebadet mitten in der Nacht hochgeschreckt und hatte die Bilder eines Traums nicht aus dem Kopf bekommen. Er träumte seit dem Unfall so realistisch, als wäre er tatsächlich am Ort des Geschehens. Es war zum Fürchten, fühlte sich an, als verliere er den Verstand, aber nur hier durchbrach er die Leere seiner Amnesie. Nie war es jedoch so intensiv gewesen wie heute. In dieser Nacht ließen sie nicht mehr von ihm ab. Er sah die Bilder des Unfalls wie in einer Diashow immer wieder, hörte Güdner schreien und sah ihn sterben. Ob sich alles genauso ereignet hatte, wer wusste das schon?

Nachdem er lange schlaflos durch seine Wohnung gewandert war, hatte er kurz vor Tagesanbruch den Entschluss gefasst, erstmals herzufahren.

Er parkte den BMW und beobachtete eine Weile die Frühpendler, die ab und an die Straße durchfuhren, die er nur aus seinen Träumen kannte und die ihm doch so vertraut war.

Was wollte er hier? Antworten?

Irgendwann in der chaotischen Nacht war ihm eine Idee gekommen. Wenn er im Traum den Unfallhergang so realistisch erlebte, dann waren seine Erinnerungen vielleicht tatsächlich nicht unwiederbringlich verloren.

Sarah Herbst, seine Psychologin, hatte ihm von Triggern erzählt, die sein Gehirn dazu bringen konnten, verschüttete Erinnerungen herauszulassen. Das konnten zufällige Ereignisse, Beobachtungen, Gerüche oder eben auch Orte sein, die in ihm Erinnerungen zutage brachten. Vielleicht bräuchte es also nur den richtigen Auslöser, um die Blockade zu überwinden.

Mit zittrigen Fingern öffnete er die Tür und verließ das Auto. Sofort flackerte eine Szene auf: Das Mädchen radelte auf dem Fahrrad mit schreckensweiten Augen auf ihn zu, dahinter der Lkw. Fast wäre er zur Seite gesprungen, als die Scheinwerfer eines Autos ihn erfassten.

Auf der gegenüberliegenden Seite ratterten Rollläden nach oben.

Finkler ging weiter. Schräg gegenüber war eine große 17 auf die Hauswand gemalt. Hier wohnte Lieselotte Zöllner. Die alte Frau hatte eine Aussage zum Unfall gemacht, der exakt gegenüber ihrer Wohnung geschehen war. Wenige Meter also nur noch bis zu dem Ort, wo der Lkw Güdner überrollt und Finkler davongeschleudert hatte.

Plötzlich hörte er Schreie und drehte sich um. Doch da war niemand. Erneut hörte er jemanden rufen. Und jetzt erkannte er die Stimme. Es war Güdner.

Finkler presste die Hände auf die Ohren und schloss die Augen. Erfolglos. Die Bilder, die er schon in seinem Traum gesehen hatte, waren wieder da und hüllten ihn ein, als ob sie sich in der Sekunde vor seinen Augen abspielen würden. Die Straße wurde in helles Sonnenlicht getaucht. Er hörte das Dröhnen des Motors, sah den silbernen Einsatzwagen, Güdners Winken. Überdeutlich erkannte er den Lkw. Jeden Rostfleck registrierte er. Dann erblickte er hinter der Scheibe des Lkw ein Gesicht. Augen starrten ihn unter dunkel gelockten Haaren an. Emotionslos. Ein Bild, scharf und deutlich wie auf einem Foto.

Das Fahrrad mit dem Schriftzug Koga Miyata blinkte in der Sonne. Eine Hupe ertönte und zerriss die Bilder. Er saß an die Hauswand gelehnt auf dem Gehweg und sah benommen eine Beifahrertür aufgehen. Ein Mann sprang eilig in einen wartenden Wagen. Kurz war Musik zu hören, dann fuhr das Fahrzeug davon.

Finkler rappelte sich auf und wankte zurück zum Auto, warf sich auf den Fahrersitz und zog die Tür hinter sich zu. Den Kopf zurückgelehnt rang er nach Atem.

Es hatte nicht funktioniert, jedenfalls nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Die Straße war ein Trigger, daran gab es keinen Zweifel, doch produzierte dieser nur verworrene Bilder. Er war naiv gewesen. Ein Gehirn war nun mal kein Computer, den man neu booten konnte.

Finkler sah auf die friedlich daliegende Straße. Und dennoch – auch wenn ihn der Besuch hier am Unfallort nicht einen Schritt weitergebracht hatte, war trotz allem etwas anders. Etwas, worüber er später unbedingt mit Sarah Herbst sprechen wollte. Denn in seinem Inneren waren die Dinge in Bewegung geraten. Erst der Traum in der Nacht, der so klar und zusammenhängend gewesen war wie nie zuvor, und jetzt Trugbilder, die ihn mitten auf der Straße in der gleichen Intensität und Wirklichkeitsnähe überfielen wie zuvor nur im Schlaf.

Ja, etwas war in Bewegung geraten. Er konnte nur noch nicht sagen, ob es gut oder schlecht war.

Er drehte den Schlüssel und der Motor sprang surrend an. Wieder sah er die Augen des Fahrers, nahm wahr, wie genau er ihn fixierte, erkannte die Absicht, ihn zu erwischen.

Sein Unfall war kein Zufall gewesen, kein außer Kontrolle geratener Lkw hatte ihn verletzt, nein, es war ein Anschlag.

***

Übermüdet fuhr Finkler direkt vom Unfallort ins Präsidium. Kalter Sprühregen rieselte unangenehm aus einem schiefergrauen Himmel. Zwar hatte er am Vormittag einen Termin bei Sarah Herbst, doch er wollte sich vorher im Büro zeigen und den Eindruck vermeiden, Procks Verhalten hätte Wirkung gehabt.

Im Büro sah Schulz von einer Akte auf und lächelte freundlich zur Begrüßung. Alles an ihm war ordentlich. Haare, Kleidung, sein Schreibtisch. Finkler hingegen hatte das Erstbeste angezogen, das ihm in die Hände gefallen war, und erst eben im Treppenhaus bemerkt, dass das dunkelblaue Hemd einen Fleck hatte.

»Gut, dass du kommst. Daniel wollte nachher mit uns das weitere Vorgehen diskutieren.«

Finkler ließ sich auf seinen Stuhl fallen. »Das müssen wir auf mittags legen, ich hab um elf einen Arzttermin.«

Die Zeit vor dem Termin bei Sarah Herbst verbrachte er erneut mit Aktenstudium im Rosetti-Fall. Er stieß auf neue Einzelheiten, auf Details, die ihm bisher entgangen waren. Ein Mann namens Ferrini hatte eine erboste Aussage gemacht, in der er auf die Verbrecher schimpfte, die ihn und seine Frau aus dem Restaurant werfen wollten. Er hatte sich kampfbereit gezeigt und Anzeige erstattet, die er kurz darauf jedoch wieder zurückzog. Laut Aktenlage hatte später niemand bei den Wirtsleuten nachgehakt und versucht, sie zu einer erneuten Anzeige zu bewegen, was man in solchen Fällen eigentlich immer tat.

Finkler machte sich eine Notiz.

Insgesamt waren die neuen Erkenntnisse jedoch zu vage. Vor allem fühlte Finkler sich noch nicht imstande, eine Gesamteinschätzung des Falls abzugeben. Die Aufzeichnungen schienen ihm nach wie vor unvollständig, ohne dass er das an einem konkreten Punkt festmachen konnte. Doch passte das Ganze nicht zu ihrer üblichen Routine.

Wieso hatten er und Güdner die Aktenführung dermaßen vernachlässigt? Es war nie seine Art gewesen, Berichte lange liegen zu lassen. Und auch Güdner war gewissenhaft gewesen, hatte nie geschlampt oder Dinge auf die lange Bank geschoben. Was war passiert? Hatten sich die Ereignisse überschlagen, sodass sie mit den Berichten nicht mehr nachgekommen waren? Gab es Notizen oder Nebenakten, die inzwischen an anderer Stelle gelagert wurden? Hatte Güdner einen Teil der Akten mit zu sich nach Hause genommen? Das war zwar nicht erlaubt, aber daran hielt sich keiner. Finkler würde ihn nicht mehr fragen können.

Er war so in seine Gedanken versunken, dass er fast die Uhr aus dem Blick verlor und sich beeilen musste, um nicht zu spät zu seinem Termin zu kommen. Doch letztlich war er es, der warten musste.

»Als Gutachterin bei Gericht ist es manchmal wie im Irrenhaus«, entschuldigte sich Sarah Herbst, als sie endlich durch die Tür eilte.

Sie streifte die Jacke ihres dunkelblauen Kostüms ab, sichtlich erleichtert, dessen Enge zu entkommen. Dann nestelte sie an ihrem Zopf, zog den Haargummi heraus, um die dunklen Locken durchzuschütteln.

»Dann mal los.« Sie setzte sich ihm gegenüber und lächelte.

Einen Augenblick lang blieb sein Blick an der Narbe hängen, die sich unterhalb des linken Ohrläppchens in einem gezackten Bogen über die Wange bis ans Kinn zog. Sie teilte ihre Erscheinung in zwei Hälften, Yin und Yang, die gute Seite und die böse Seite. Sah man ihr Profil von rechts, war sie von makelloser Schönheit, von links jedoch bot sich dem Betrachter ein Bild brutaler Zerstörung. Er hatte sich an den Anblick gewöhnt.

»Hast du wieder geträumt?«

Finkler nickte. »Zum ersten Mal den kompletten Unfall. Es war alles so plastisch, als wäre ich wirklich dabei. Ich könnte dir von den Gerüchen erzählen, dem Geräusch des Motors, Achims Gesicht, als …«

Er stockte kurz und erzählte ihr dann den Traum und seinen Besuch am Unfallort in allen Details.

Eine steile Furche zeigte sich auf Sarahs Stirn. »Mach so etwas nie wieder ohne mich, du weißt nie, was passiert.«

»In Ordnung. Verstehst du, was ich meine? Ich habe die Augen des Kerls gesehen. Das war kein Unfall, das war Absicht. Der wollte mich umbringen!«

Die Kollegen waren damals aufgrund der Beweislage von einem unerfahrenen Fahrer ausgegangen, der über den von ihm gestohlenen Lkw die Kontrolle verloren und dann Unfallflucht begangen hatte. Wenn die Tat jedoch Absicht gewesen war, änderte das die Lage vollkommen.

Sarah dachte nach. »Was du erlebt oder geträumt hast, ist, ich will es mal einfach formulieren, wie ein Remake. Dein Gehirn vermischt Dinge miteinander, die das Unterbewusstsein als traumatisch wahrgenommen hat oder mit diesen in Verbindung bringt. Es verknüpft Gehörtes mit verschütteten Ereignissen. So entsteht Neues mit einem wahren Kern oder einem Bezug zu wirklichen Ereignissen. Du darfst nicht alles für bare Münze nehmen, was du in den Träumen erlebst. Das Gesicht kann genauso gut einem Mann gehören, mit dem du lediglich Böses verbindest.«

»Und was, wenn nicht, wenn es ein Anschlag war?«

Sie breitete die Arme aus. »Beweise es. Ich kann es nur vermuten. Aber zurück zu dir. Anscheinend treten jetzt auch intrusive Erinnerungen an den traumatischen Moment in Erscheinung, während du wach bist. Flashbacks, getriggert durch den Ort. Und sicher haben die einen Bezug zur Realität.« Sie machte eine kurze Pause und entschied sich offenbar, es nicht weiter auszuführen. »Auf alle Fälle ist es viel zu riskant, wenn du dich solchen Triggern einfach so aussetzt. Dir kann wer weiß was passieren.«

»Wärst du bereit, mit mir noch mal dort hinzugehen?«

»Du willst dich dem noch einmal aussetzen?«

»Vielleicht hilft es mir, mehr über den Unfallhergang herauszufinden. Und warum Güdner und ich an dem Tag dort gewesen sind.«

Man sah ihr an, dass sie seine Idee nicht mochte.

»Ich weiß es nicht. Aus medizinischer Sicht sind die Risiken zwar nicht sonderlich groß, doch psychologisch gesehen, kann es uns um Monate zurückwerfen. Ich …«

Sein Telefon schnitt ihr den Satz ab. Es war Bender. »Tut mir leid.« Finkler zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Da muss ich rangehen.«

Sarah stand auf, setzte sich an den Schreibtisch und machte sich Notizen.

Benders Stimme am Telefon klang ungeduldig. »Wo steckst du? Es wurde eine Tote gefunden. Sie liegt unter einem Parkplatz in einem Hohlraum. Der Chef meint, es könnte für die OK interessant sein, da eigentlich nur die Clans die Leichen so verscharren. Kannst du sofort hinfahren? Schulz und ich kommen auch gleich.«

»Ich denke, ich soll an dem alten Fall bleiben?«

»Du musst nicht mit mir streiten. Frag Prock.«

»Na gut, gib mir die Adresse, ich fahre hin.« Er wandte sich an Sarah. »Ich muss los, das nächste Mal ohne Handy.«

Er war schon fast draußen, als sie ihn noch einmal aufhielt. »Ich weiß, dass du Antworten suchst, aber du kannst die Dinge nicht erzwingen. Dein Gehirn folgt keiner Logik und das gilt auch für das, was du in deinen Träumen und Intrusionen erlebst. Wir müssen die Bilder genau analysieren und die Wahrheit herausschälen. Erwarte nur nicht zu viel. Manche Frage wird unbeantwortet bleiben.«

Das Traummosaik

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