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Blaulicht kreiste und die Straße war abgesperrt. Finkler parkte und stieg aus. Zum Glück regnete es nicht mehr, der schneidende Ostwind ließ ihn jedoch die Jacke enger um den Leib ziehen. Er schwor sich, am Nachmittag die Winterjacke aus der Sommerpause zu holen.

Ein Streifenpolizist stellte sich ihm in den Weg, doch er zeigte seinen Ausweis und ging zur Wohnanlage.

In der ruhigen Seitenstraße war zwischen die Gründerzeithäuser, die den Bombardements des Zweiten Weltkriegs standgehalten hatten, ein Bau gepfercht worden, der wie ein Fremdkörper wirkte. Die Materialien waren zwar hochwertig und es war zu vermuten, dass die gut zwanzig Wohnungen sehr teuer sein mussten, allerdings hatte sich der Architekt nicht die Mühe gemacht, den Stil an die Nachbarhäuser anzupassen. Sichtbeton und dunkle Aluminiumfenster beherrschten die Fassade.

Hinter der Anlage ließ ein einzelner Baum am Rand des Parkdecks kahle Äste in den Himmel ragen.

Schulz und Bender schienen noch nicht da zu sein. Nur Erich Koller winkte ihm zu und beobachtete, wie er frierend näher kam.

»Wird langsam Winter.« Koller trug ein dünnes Blouson. Hinter ihm lag ein Baukran auf der Seite. »Die Eigentümer wollen in der obersten Wohnung Dachgauben einsetzen lassen. Deshalb haben sie das Ding da«, er zeigte auf den Kran, »in Einzelteilen durch die Einfahrt hereingebracht und zusammengesetzt. Der Wind hat es in der vergangenen Nacht umgeblasen. Erst waren sie noch erleichtert, dass das Monstrum nicht in die Nachbargärten gekracht ist.«

»Aber?«

Koller schob ein paar der Flatterbänder beiseite, mit denen er einen Teil des Parkdecks abgesichert hatte, und zeigte auf einen langen Spalt im Boden. »Der Vorarbeiter hat bemerkt, dass sie irgendwo eingebrochen sind. Einer der Männer ist in den Schacht gesprungen und hat die Leiche gefunden.«

Das Gewicht des Stahls hatte das Pflaster über die ganze Länge beschädigt. Etwa in der Mitte klaffte ein Riss von mehreren Metern, der sich zu den Enden hin verjüngte.

Koller hielt Finkler sein Handy hin. »Der Mann hat ein Foto gemacht.«

Finkler betrachtete den kleinen Bildschirm. Ein ledriger Schädel war zu erkennen.

»Ist das eine Frau?« Finkler sah Koller fragend an, doch der hob nur die Schultern. »Gibt es Spuren, die auf organisierte Kriminalität hinweisen?«

»Weiß ich nicht.«

»Wieso ruft ihr denn sofort nach uns? Habt ihr in der Mordkommission keine Lust, oder was?«

»Wer legt denn sonst seine Toten so ab?«

»Ach komm, das ist eine Frau. Nix organisierte Kriminalität. Dir fallen doch selbst genügend Beispiele ein, wie Frauenleichen entsorgt werden. Innerfamiliäre Streitigkeiten oder Vergewaltigung mit anschließendem Mord und so weiter.«

Er ging genervt zum Fundort hinüber. Einige Verbundsteine und dicke Betonbrocken waren in die Grube gefallen, während sich andere in der Stahlarmierung verfangen hatten. Als er sich darüberbeugte, konnte er erkennen, dass es sich nicht um einen Hohlraum im eigentlichen Sinne handelte, sondern um einen niedrigen, aus Backsteinen gemauerten Gang.

»Was hat hier früher gestanden?«

»Wir wissen es nicht genau. Das hier gehört ja schon zum Grundstücksteil, der an die Parallelstraße stößt. Die Bauleute haben damals eine Schalung darübergebaut und ordentlich Beton draufgekippt. Das hat dann auch für die Belastung durch die Pkws gereicht, der Druck des Krans war allerdings zu viel.«

»Wo liegt die Leiche?«

»Drei bis vier Meter hinter dem Ende des Risses.«

»Wer war unten?«

»Außer dem Kollegen von der Streife niemand. Die Spurensicherung ist unterwegs, sie sind aber noch an einem anderen Tatort.«

»Hast du einen Schutzanzug?«

Kurz darauf rutschte Finkler unter den Rohren des Krans hinunter und suchte mit den Füßen nach Halt. Es dauerte, bis er zwischen den herabgefallenen Brocken auf festem Boden stand und zu seiner Überraschung feststellte, dass sein Kopf und die Schultern noch im Freien waren. Vorsichtig beugte er sich in den Gang, doch das hereinfallende Licht reichte nicht allzu weit. Er versuchte es mit der Taschenlampenfunktion seines Handys, doch auch diese war zu schwach, um den Gang zu erleuchten. Finkler streckte den Kopf ins Freie.

»Habt ihr eine Lampe?«

Koller trabte davon.

Kurz darauf war er wieder da.

Die Enge wirkte beklemmend, doch Finkler unterdrückte den Anflug einer Panik und lenkte sich ab, indem er mit dem starken Strahler vorausleuchtete.

Der niedrige Gang war leer und extrem trocken. Schon bei der geringsten Bewegung wirbelte Staub auf, der so fein wie Puderzucker war und ihn unangenehm in der Nase kitzelte. Er nieste. In seinem Rücken war außer den regelmäßigen Reihen der gemauerten Backsteine nichts zu erkennen. Nach vielleicht fünf Metern endete der Gang, man hatte ihn zugemauert.

Finkler wandte sich um und leuchtete in die entgegengesetzte Richtung, wo er sofort die Leiche sah, die dort lag. Der Kollege war vorschriftsmäßig vorgegangen und hatte eine Folie ausgelegt, damit keine Spuren verloren gingen.

Das Opfer trug dunkle Lederschuhe. Die Sohlen waren abgelaufen, graue Flecken bedeckten das Leder. Die spindeldürren Beine steckten in Jeans, der Oberkörper in einem T-Shirt mit einem kaum leserlichen Aufdruck. Finkler versuchte ihn zu entziffern und schob die Jacke etwas beiseite. Mit etwas Fantasie konnte er die Worte The Dream und Turtles lesen, mehr nicht.

Die Kleider waren verrutscht, der Bauch freigelegt. Auch die Ärmel waren hochgezogen, was darauf hindeuten konnte, dass irgendwer die Leiche an den Kleidern durch den Gang hierher geschleift hatte. Dürre, unberingte Hände lagen scheinbar entspannt im Staub der Zeit.

Finkler kroch näher. Er war schreckliche Anblicke gewohnt, hatte Tote mit jedweden Verletzungen gesehen, so etwas wie hier jedoch noch nie. Die Trockenheit schien den Körper mumifiziert zu haben, sodass die Haut nun dünn wie Pergament an dem fleischlosen Schädel klebte. Sie war schwärzlich verfärbt und mit braunen und gelben Flecken durchsetzt wie oxidierendes Metall. Die langen Haare schimmerten dank einer chemischen Reaktion rötlich und waren büschelweise ausgefallen. Die Augäpfel fehlten. Die Haut der Nase hatte sich eng um den Knochen gezogen und gab ihr ein nadelspitzes Aussehen. Gepflegte Zähne bleckten sich zu einem schaurigen Dauergrinsen. Auf dem rechten Schneidezahn saß eine Krone und er schöpfte Hoffnung, dass sie ein Zahnstatus weiterbringen könnte.

Mit einem Stift hob er den Rand des Rundausschnitts des T-Shirts sachte an. Die Faser war nach wie vor geschmeidig und nur dort, wo sich Flecken zeigten, verhärtet. Er spähte durch den sich öffnenden Spalt und sah seine Vermutung bestätigt. Ein weißer Büstenhalter war über den Brüsten zusammengefallen. Er hockte vor der mumifizierten Leiche einer Frau. Von wegen organisierte Kriminalität. Er war sich sicher, dass es sich um eine Beziehungstat handelte und die Mordkommission zuständig war.

Finkler wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Enge des Raumes machte ihm mehr zu schaffen, als er sich zunächst eingestanden hatte. Er entschied sich, nach draußen zurückzukehren und die Leiche der Spurensicherung zu überlassen, doch gerade als er sich zum Gehen wandte, reflektierte ein Gegenstand zwischen den Fingern der Toten den Schein der Lampe. Er bückte sich und hob den Unterarm leicht an. Der Anhänger einer Kette kam zum Vorschein.

Es war fummelig, mit den Handschuhen die Pinzette aus dem Etui zu ziehen, das er zusammen mit Einmalhandschuhen und Spurenbeuteln immer mit zu den Tatorten nahm, doch schließlich hatte er den Anhänger in der Hand und hielt ihn ins Licht der Lampe. Ein goldener Taufanhänger pendelte hin und her und warf Schatten an die Wand des Ganges. Auf der Vorderseite war ein Schutzengel zu sehen. Das Schmuckstück war beschädigt. Oben, gleich neben der Öse, befand sich ein winziger Riss, der so aussah, als ob jemand mit einer Zange versucht hätte, eine Ecke aus dem Goldblättchen herauszuschneiden.

Finkler musste heftig niesen und der Anhänger entglitt ihm. Das kleine Ding sprang davon und verschwand in einer Ritze zwischen den Steinen.

»Mist!«, entfuhr es ihm. Er kniete sich nieder, legte die Taschenlampe auf den Boden und versuchte vorsichtig in die Ritze zu greifen, doch der Latexhandschuh machte seine Finger gefühllos. Genervt streifte er ihn ab, obwohl die Spurensicherung ihn dafür hassen würde. Endlich bekam er das Amulett zu fassen.

Was dann kam, konnte Finkler später kaum noch nachvollziehen. Die direkte Berührung mit dem Metall empfand er wie den Faustschlag eines Riesen. Alle seine Muskeln verkrampften sich, ließen seinen Körper sich zusammenrollen und ihn bewegungsunfähig kopfüber zu Boden fallen. Das Letzte, was er wahrnahm, war die nächste Staubwolke. Zum Niesen kam er nicht mehr. Alles wurde schwarz.

Er steht im Türrahmen und blickt in einen Garten. Der tiefe Schnee ist unberührt, nur die Spur eines hüpfenden Vogels hat Figuren hineingezeichnet. Trotz der dicken Schneeschicht kann er erkennen, was darunter liegt. Hier die vollkommen ebene Fläche der Terrasse, dahinter die leichten Wellen der Wiese. Er tritt hinaus und lächelt, als die Stille des Wintertages durch das leise Knirschen durchbrochen wird, das sein Gewicht dem Schnee abringt, als es ihn zusammenpresst. Er friert nicht, als er jetzt das Gesicht in die herabfallenden Flocken hält, die sanft vom Himmel taumeln und eisig auf seiner Nase, den Wangen und den Lippen landen, um dort zu schmelzen.

Er geht bis zur Grenze der Terrasse, läuft auf die Wiese und betrachtet die verschneiten Tannen, die das Grundstück begrenzen. Eine Eule fliegt lautlos vorbei, ihre Augen starr auf ihn gerichtet.

Als er ihr nachblickt, ändert sich plötzlich die Atmosphäre. Das Licht wird duster und die Luft ist nicht mehr kalt, sondern angenehm warm. Er steht auf einmal in einem Gang, von dem vier Türen abgehen. Die Wände hat man grün gestrichen, die Türrahmen sind braun. Die Tapete ist an einer Stelle von der Wand gerissen und es riecht muffig. Er hört Männer reden, kann aber nicht verstehen, was gesprochen wird, nur die Wut, die Aggression ist spürbar.

Er geht auf fleckigem Linoleum ins erste Zimmer. Eine Glühbirne hängt nackt von der Decke und flackert heftig, der Gestank von Mottenpulver dringt unangenehm in seine Nase. Regale sind vollgestopft mit Stofftieren und Karnevalskostümen: Cowboy und Indianer, Polizist und Superman.

Er folgt der Regalreihe bis zu einem Durchgang. Ein Mann kauert gefesselt auf einem Sessel, der aussieht wie ein Frisierstuhl. Seine Hände öffnen und schließen sich in unwillkürlicher Hektik, kämpfen gegen die ledernen Schlaufen, die seine Handgelenke an die abgenutzten Armlehnen zwingen. Die Knöchel treten hervor. Ströme von Schweiß rinnen ihm vom Gesicht, das von Schlägen gerötet und verquollen ist. Aus einem Riss oberhalb der Augenbraue sickert Blut über seine gequälten Züge. Ein bulliger Kerl steht vor dem Gefesselten und brüllt, dass er endlich reden soll. Er will dem Mann helfen, doch instinktiv weiß er, dass er nichts bewirken kann.

Als der Gefesselte wiederholt den Kopf schüttelt, erhält er einen so harten Schlag ins Gesicht, dass sein Kopf nach hinten katapultiert wird und gegen die Lehne kracht.

Er steht unentdeckt im Durchgang und muss zuschauen, wie der Mann gequält wird und schließlich das Bewusstsein verliert, als ihn ein besonders wuchtiger Hieb an der Schläfe erwischt. Ein weiterer Mann springt hinzu und ohrfeigt den Schläger, der dies mit gesenktem Kopf hinnimmt.

Nach einer heftigen Diskussion in einer Sprache, die er nicht versteht, binden die beiden Männer das armselige Bündel los. Es knackt vernehmlich, als ein schwerer Stiefel auf eine Brille tritt, die in viele kleine Splitter zerspringt. Dann ist da nur noch das schabende Geräusch von Schuhsohlen, die willenlos über einen unebenen Boden schleifen. Er folgt dem Trio. Es geht zwischen weiteren Regalreihen hindurch, die ungeordnet mit Büchern und Wäsche, Geräten und Werkzeugen gefüllt sind. Sie bringen ihr Opfer in einen dunklen Raum, wo sie ihn achtlos wie einen Sack fallen lassen und hinausgehen.

Er bleibt im Zwielicht mit dem Gefolterten zurück. Bis auf ein Wimmern ist nichts zu hören. Doch es ist nicht der Mann, der weint. Die Geräusche kommen aus einem anderen Winkel des Raums, dessen Ausmaße er nicht abschätzen kann.

Als sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt haben, wird die Silhouette einer Frau sichtbar. Durch einen schmalen Spalt zwischen den Vorhängen fällt ein wenig Licht in den Raum und er erkennt jetzt, dass sie auf ein rissiges Foto starrt, das aus besseren Tagen zu stammen scheint. Eine Frau ist darauf zu sehen und er weiß sofort, dass es die Weinende ist. Sie hat ein Kind auf dem Arm und lächelt in die Kamera, während das Kleine an einer Kette zieht, die um ihren Hals hängt. Ein Amulett reflektiert die Sonne. Es glänzt, doch oben, gleich neben der Öse, ist ein hässlicher Schaden.

Er will mit ihr sprechen, aber es reißt ihn aus dem Raum heraus. Er ist wieder auf dem Flur mit den grünen Wänden. Doch diesmal ist er nicht alleine. In weiter Ferne steht jemand und starrt ihn an. Es ist ein junges Mädchen, das sich auf einmal abwendet und in wilder Angst davonläuft, weg von ihm. Schritte trommeln dumpf. Wie aus dem Nichts brennt in ihm der Wunsch, sie einzuholen und mit ihr zu sprechen. Während er rennt, ruft er ihr hinterher, dass sie stehen bleiben soll. Doch sosehr er sich auch anstrengt, er kommt ihr nicht näher.

Sein Herz droht zu zerspringen, aber er weiß, dass er nicht aufgeben darf. Er muss die Frau retten. Schließlich rast hinter einer Biegung ein Lkw auf ihn zu und überfährt ihn. Alles wird schwarz.

Das Traummosaik

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