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Freitag, 18. November

»Um eins vorwegzunehmen: Ich halte die Freistellung angesichts deines Zustandes für folgerichtig und bin froh darüber.«

Finkler öffnete den Mund, doch Sarah hob abwehrend eine Hand.

»Ich bin nicht für deinen Job oder die Karriere verantwortlich, sondern ausschließlich für deinen Kopf und hierfür ist es gut.«

Sie sah auf ihre Unterlagen. Das Thema war durch.

Ihr Gesichtsausdruck verriet Besorgnis. Er war erst gegen Mittag aufgewacht, verwirrt und nun froh, mit ihr reden zu können.

Ihre Augen waren dezent geschminkt, was die Müdigkeit, die in ihnen lag, jedoch nicht verdecken konnte. Ihre Narbe war wie immer nicht abgedeckt. Sie leuchtete in einem kräftigen Rotviolett. Finkler hätte zu gerne gewusst, wie sie ihr beigebracht worden war und wieso sie sich nicht kosmetisch operieren ließ. Ob sie einen Partner hatte? Auch das wusste er nicht. Einen Ring trug sie jedenfalls nicht.

Obwohl Finkler nichts über Sarahs Vergangenheit wusste, bestand eine besondere Verbindung zwischen ihnen. Sie beide waren für alle sichtbar gezeichnet. Er durch den Unfall, sie durch die Narbe. Diese Nähe half ihm anscheinend, ihr mehr zu vertrauen als allen anderen.

Nach dem Krankenhaus hatte er gegen den Willen der Ärzte auf eine Psychotherapie verzichtet und dann, als es nicht mehr ging, die Träume ihn zu verschlingen drohten, ihre Adresse und unzählige Empfehlungen im Netz gefunden, war hergefahren und einfach hereingeplatzt. Sie hatte sofort erkannt, was los war, und ihn beraten. Mittlerweile glaubte er, kaum noch ohne ihre Betreuung über die Runden zu kommen.

»Fang an!« Ihre dunkelbraunen Augen ruhten auf ihm.

Es dauerte eine Weile, bis er ihr alle Einzelheiten erzählt hatte. Sie fragte viel nach, auch weil es ihm nur mit Mühe gelang, die richtigen Worte zu finden.

»In deinem Unterbewusstsein ist etwas in Bewegung geraten. Und der Trigger für die letzte Intrusion muss das Medaillon gewesen sein.«

Finkler schüttelte den Kopf. »Das passt aber nicht. Als der Mord passierte, war ich höchstens zwei Jahre alt. Und anschließend lag das Medaillon über dreißig Jahre unter der Erde. Woher also die Verbindung?«

»Dein Gehirn nimmt es wahrscheinlich nicht so genau. Ein ähnliches Schmuckstück könnte in deiner Vergangenheit eine Rolle gespielt haben.«

Finkler dachte kurz nach. Ihm kam ein beunruhigender Gedanke. »Wir sprechen hier doch immer noch über meine Traumatisierung durch den Unfall, oder?« Sie nickte und wollte etwas einwerfen, doch er bat sie mit einer Geste um Geduld. »Du hast von Überlagerung der Traumata gesprochen. Glaubst du, es gibt da noch mehr aufzuklären, und wenn ja, was genau?«

Sie zog den weißen Arztkittel aus und setzte sich wieder.

»Ja, da gibt es wahrscheinlich noch mehr. Dein Problem ist komplexer, als ich anfangs vermutet habe. Denk an deine Kindheit. Sie war nicht einfach. Vielleicht liegt es daran.«

Sie wendete ihr Blatt. Finkler erkannte Worte und Verbindungslinien und eine Menge Fragezeichen. Das Chaos ihrer Notizen schien dem Chaos in seinem Kopf nicht unähnlich zu sein.

Sarah sah ihn an. »Ich verstehe noch nicht, was es ist. Der verletzte Mann, die Frau mit dem Medaillon, die davoneilende Gestalt und der Garten.« Sie hob die Schultern. »Alles hat eine Bedeutung, doch dein Gehirn wirft uns die Dinge während der Intrusionen ungeordnet vor die Füße. Um das richtig aufzuschnüren, werden wir auch tiefer in deiner Vergangenheit forschen müssen.«

»Muss das sein?« Was Sarah ihm gerade erklärte, bedeutete im Zweifelsfall nichts anderes als einen unendlichen Therapiemarathon. Er wollte keine neuen Probleme aus seiner Vergangenheit aufkochen. Er hatte mit den bekannten Verwerfungen schon genug zu tun. »Gibt es keinen anderen Weg?«

»Du kannst den Therapeuten wechseln.«

Wäre es nicht Sarah gewesen, er wäre an diesem Punkt sofort aufgestanden und hätte die Behandlung für beendet erklärt. Aber so war das sicher das Letzte, was er wollte. Er hob resigniert die Hände.

»Ist schon in Ordnung.«

»Also lass uns damit beginnen, den Traum auseinanderzunehmen. Was ist mit den beiden Personen? Dem geschundenen Mann und der weinenden Frau?«

»Sie waren nicht richtig zu erkennen.«

»Die Gewalt und ihre Trauer passen doch zu deinem Job, oder?«

Er nickte. »Möglich.«

»Was ist mit alten Fällen?«

»Bei den älteren Sachen funktioniert mein Gedächtnis noch ganz gut, doch ich erkenne keine Verbindungen. Wenn da etwas ist, dann hängt es mit dem letzten Fall zusammen.«

»Was ist mit den Objekten, die du auf den Regalen gesehen hast?« Sarah schien kurz einer Erinnerung nachzuhängen. Dann schaute sie ihn wieder an. »Vor drei oder vier Jahren hat eine Patientin ein ganzes Puppenhaus erträumt. Alle Zimmer, die Figuren und Einrichtungen, jedes Detail. Doch sie hat nie so etwas besessen. Kurz darauf rief sie an. Sie war zu Besuch bei ihren Eltern und ist zufällig auch bei einer sehr guten Freundin aus Kindertagen gewesen, die noch immer in ihrem Heimatort lebte. Und sieh an, da stand das Puppenhaus und wurde von ihrer Tochter bespielt.«

»Du meinst, die Objekte in den Regalen könnten verschüttete Erinnerungen sein, die wahllos eingeflossen sind?«

»Ja, so könnte es sein. Dinge, die in deiner Kindheit eine Rolle gespielt haben und jetzt an die Oberfläche drängen.«

Finkler lachte. »Das kann ja lustig werden.«

Um zu erkennen, dass bei seiner Kindheit etwas im Argen lag, hätte er keine Psychologin gebraucht. Diese Zeit glich einer Vollkatastrophe.

Seine Mutter hatte die Familie verlassen, als er noch so klein gewesen war, dass er an sie keine Erinnerung hatte. Nicht einmal ein Foto von ihr war ihm geblieben, sein Vater hatte alle vernichtet. Er hatte lediglich in alten Kartons, die nach dem Tod seines Vaters eingelagert worden waren, die paar Postkarten gefunden, die sie aus Amerika an ihn geschickt hatte, und daraus geschlossen, dass sie ihn und seinen Vater wohl von einem Tag auf den anderen wegen eines Amerikaners in Richtung USA verlassen hatte. Er hasste diese Karten mit ihren Bitten um Vergebung und Beteuerungen ihrer Liebe, ohne dass er sie je hätte wegwerfen können, denn sie waren das Einzige, was ihm von ihr blieb. Sie hatte ihn abgelegt wie schmutzige Wäsche, das war es. Er wusste nicht, was aus ihr geworden war. Für ihn war sie tot, gestorben und vergessen. Nun ja, fast vergessen. Sein Vater war bald gestorben. Unfall mit dem Dienstwagen. Das schwarze Loch danach konnte er noch sehen.

Tränen standen plötzlich in seinen Augen.

»Als Kind die Eltern zu verlieren und ins Heim und zu Pflegeeltern zu kommen, hinterlässt mehr Narben, als man denkt.«

Sie las ihn manchmal wie ein offenes Buch.

»Muss zwischen allem, was ich gesehen habe, ein Zusammenhang bestehen?«

»Nein. Ob der gequälte Mann mit dem vergessenen Fall etwas zu tun hat, können wir nur vermuten, es muss aber nicht sein. Genauso wenig können wir über andere Zusammenhänge sagen. Es sind nur Vermutungen. Mal sehr vage, mal schon eher wahrscheinlich. Eins steht aber außer Frage: Für dich persönlich sind diese Punkte sehr relevant, sonst hätte die Intrusion sie nicht an die Oberfläche gebracht. Wir müssen allem auf den Grund gehen. Was ist mit dem Garten?«

»Noch nie gesehen, aber er macht mir irgendwie ein besonders schlechtes Gefühl. Schau dir das an!« Er zeigte ihr seine Hände. Sie zitterten leicht.

»Bleib ruhig. Hast du das Medaillon noch?«

»Ja.«

»Ich will ein Experiment machen, bevor ich Schlüsse ziehe. Morgen ist Samstag, da ist hier nichts los. Komm bitte um zehn vorbei, dann versuchen wir mit dem Medaillon eine Intrusion zu provozieren.«

Unzählige Gegenargumente fluteten sein Gehirn, die alle einen Ursprung hatten: Angst. Er schüttelte den Kopf, wie um sich von den lästigen Gedanken zu befreien, doch ihr Blick schien in ihn hineinzusehen.

»Ich deute das als ein Ja.«

Das Traummosaik

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