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»Seid ihr noch ganz bei Trost? Ich kenne den Kerl. Er ist extrem gefährlich und dümmer als ein Stück Brot. Das bringt nichts und ohne ein großes Aufgebot an Beamten können wir den nicht festnehmen. Schminkt euch das ab. Wieso wart ihr bei den Italienern?«

Prock starrte Finkler und Bender fragend an. Den Rest der Truppe, der sich um den Tisch scharte, interessierte die Diskussion wenig. Schulz blätterte in Unterlagen, während die anderen gelangweilt zuhörten.

»Wir hatten nur ein paar Punkte zu klären.«

Procks Kopf ruckte so abrupt herum, dass sein Doppelkinn in Bewegung kam. »Sei besser still, Sebastian. Du hättest gar nicht da sein dürfen. Was verstehst du unter Innendienst?«

»Es hat sich angeboten, die Zeugen nochmals zu befragen. Daniel wollte, dass ich mitfahre, da ich die beiden schon einmal gesehen habe.«

»Aber das hatte ich nicht genehmigt.«

Finkler blieb ruhig. »Ich kann doch nicht jedes Mal bei dir anklopfen und fragen, ob ich auf die Toilette darf.«

Einige am Tisch grinsten.

»Du weißt genau, was ich meine.« Prock strich sich mit der Hand über die dünnen Haare. Das Thema schien beendet zu sein. Er räusperte sich. »Gab es neue Informationen?«

Prock blickte zu Bender und Finkler atmete auf.

»Nein.«

»Hat sich also richtig gelohnt?« Prock sah feixend in die Runde.

»Hör schon auf, Kurt. Irgendwo müssen wir ja weitermachen.« Bender war sichtlich genervt.

»Ihr habt noch Spiel nach oben.« Prock wandte sich an Finkler. »Wo steht ihr mit den Ermittlungen in Sachen Rosetti?«

Die Frage brachte ihm Aufmerksamkeit. Schulz legte die Blätter beiseite und sah ihn neugierig an. Finkler atmete tief ein und versuchte sich zu sammeln. Er wusste, dass er nur durchkommen würde, wenn er zumindest einen Teil der Wahrheit sagte. Nur welchen? Wie weit würde er gehen können, ohne sich aus dem Spiel zu schießen? Er zog seinen Notizblock heran, auf dem er sich ein paar Punkte notiert hatte.

»Nach der langen Zeit sind viele Spuren inzwischen kalt und wir müssen weitgehend von vorne anfangen. Deshalb haben wir die Zeugen in Mörfelden befragt.«

»Du warst doch schon viel weiter!«, unterbrach ihn Prock.

»Meinst du den Informanten?«

»Nein, den Mann im Mond.« Prock schnaubte. »Natürlich meine ich deinen Kontakt. Er war unsere Tür in die Rosetti-Familie. Alles andere ist im Prinzip unwichtig.«

Hier blieb nur die Wahrheit. »Das ist nicht so einfach. Ich habe keinen Namen.«

Prock lehnte sich vor und Finkler registrierte irritiert, wie der Druck seines Bauchs zwischen den Knöpfen des Hemds kleine Rauten entstehen ließ und Procks Feinrippunterhemd offenlegte.

»Bitte? Sag das noch mal.«

Die halbe Wahrheit. »Bei Verletzungen des Gehirns können Erinnerungen, die kurz vor dem traumatischen Ereignis angelegt wurden, verschüttet werden. Die letzte Ermittlungsphase kann ich nicht abrufen. So ungefähr drei Tage vor dem Unfall hört es auf. Bis dahin war der Kontakt anonym.«

Prock brüllte vollkommen fassungslos: »Du kannst dich an nichts mehr erinnern?«

Finkler schüttelte den Kopf und wiederholte: »Wie gesagt, das Trauma betrifft die letzten Tage. Gott sei Dank nur diese.«

»Du bist mein Trauma.« Prock schaltete einen Gang zurück. »Weiter.«

Finkler atmete durch und log. »Der Mann ist auf mich zugekommen. Wir haben uns erst unmittelbar vor meinem Unfall persönlich getroffen.«

Prock blieb so beängstigend ruhig, dass Finkler das Unheil kommen sah. »Und deine Erinnerungen an diese Treffen sind verschwunden?«

Finkler nickte.

»Und es gibt keinen Bericht in den Akten?«

Finkler schüttelte den Kopf.

»Weißt du, was das bedeutet, Sebastian?« Ein Flüstern nur.

»Ja«, antwortete Finkler. Alle seine Notizen, diese mit Fakten angefüllten Scheinargumente, würden nicht helfen, die Situation zu beschönigen. »Wir müssen praktisch von vorne anfangen.«

Prock war einige Sekunden wie erstarrt, dann sah er belustigt in die Runde, während er süffisant flötete: »Ach, na gut, treten wir an und erledigen die Arbeit ein zweites Mal. Ist ja kein Problem.«

»Wir …«

»Wir ja, du nicht mehr, Sebastian, das kann ich dir versprechen.« Der Chef wurde laut. »Sitzt hier und sagst ganz entspannt«, er äffte Finklers Stimme nach, »tut mir leid, es ist alles weg.«

Finkler schaute zu Daniel und hoffte auf seine Unterstützung, aber der blieb stumm. Das Gespräch lief nun vollkommen gegen ihn.

»Wann hättest du mich denn von deiner Amnesie wissen lassen?«

Alle Blicke richteten sich nun auf ihn.

»Ich hätte …«

»Du wolltest mich hinhalten, oder? Ich kenne dich gut genug. Hast gehofft, zügig reinzukommen und mir nichts sagen zu müssen?«

Prock sah zu Schulz hinüber, was Finkler kurz verwirrte. Einen Moment lang war er abgelenkt: Was war hier los?

»Und die Akten? Wo sind die ganzen Unterlagen geblieben?«, setzte Prock erneut an. »Sherlock Finkler hat alles im Kopf. Und jetzt? Grütze, oder was?«

Finkler versuchte, weiter Ruhe zu bewahren. Woher wusste Prock von den Lücken in den Unterlagen? »Ich kann nicht sagen, was mit den Akten ist, aber du weißt ganz genau, dass meine Unterlagen immer vollständig waren.«

»Daran kannst du dich also erinnern? Ich frage mich schon länger, ob die Unterlagen vollständig sind. Hast du welche zu Hause, Sebastian, oder«, Procks Stimme wurde leise und gefährlich schneidend, »hast du sie vielleicht absichtlich vergessen?«

Finkler schwieg. Der Vorwurf der Manipulation stand unvermittelt im Raum. Und in diesem Moment wurde Finkler Procks merkwürdiges Verhalten der letzten Tage klar. Er hatte ihn schon verdächtigt, die Akten manipuliert zu haben, noch bevor er zurückgekehrt war.

»Keine Antwort? Nein? Unter den Umständen kann ich dich nicht weiter im Dienst akzeptieren. Für dich ist ab sofort Schluss. Du bist bis auf Weiteres vom Dienst freigestellt. Geh davon aus, dass der Präsident sich meiner Meinung anschließt. Ich denke, es wird eine Untersuchung geben. Übergib alles von Bedeutung an Lukas, deinen Dienstausweis kannst du behalten, die Waffe bleibt im Präsidium.« Prock sah in die Runde. »Daniel und Lukas, ihr kommt gleich zu mir. Dann besprechen wir, wie es weitergeht. Die anderen Tagespunkte werden verschoben.« Er erhob sich und ging grußlos zur Tür. »Werd erst einmal richtig gesund, Sebastian, vielleicht klappt es dann auch wieder mit dem Kopf und die Erinnerungen kehren zurück.«

Finkler hielt ihn zurück. »Ich werde dir beweisen, dass ich nichts Unrechtes getan habe.«

Prock grinste müde. »Und wie? Hier bist du raus und in deinem Kopf ist nichts mehr zu finden. Also?«

»Warte es ab und beweis mir erst einmal das Gegenteil.«

Prock ging mit einer gelangweilten Miene. Auch die anderen verließen nach und nach schweigend das Besprechungszimmer. Wie betäubt blieb Finkler alleine zurück. Das Einzige, was ihm durch den Kopf ging, war, dass er vorher noch nie bemerkt hatte, wie schäbig der fensterlose Raum mit seinem abgenutzten Mobiliar war. Er spielte mit dem Gedanken, alles hinzuwerfen. Doch wenn er nun ginge, würde er die Verdächtigungen, die Prock gerade in den Raum gestellt hatte, nur noch befeuern. Nein, er musste bleiben und das widerlegen.

Ein jäher Impuls durchfuhr ihn und er drosch so heftig auf die Tischplatte, dass es in dem kahlen Raum dumpf dröhnte.

***

Als Finkler in sein Büro zurückkam, holte er die Akten aus dem Schrank und fotografierte jede einzelne Seite mit dem Handy. Die Unterlagen, die bereits digitalisiert waren, zog er auf einen Stick. Wenn Prock ihn abziehen wollte, bitte. Dann machte er eben alleine weiter und würde ihm zeigen, wer hier manipulierte und wer nicht. Den Rosetti-Fall zu lösen war der einzige Weg. Er hielt inne und lachte. »Du spinnst.«

Er besaß nicht die Möglichkeiten und die Kraft, einen Fall zu lösen, an dem sich die anderen trotz aller Unterstützung die Zähne ausbissen.

Sein Mut sank, doch welche Wahl hatte er? Er musste es alleine versuchen.

Gerade als er mit den Unterlagen durch war, kamen Bender und Schulz herein.

Finkler griff wortlos die Akten und legte sie vor Bender auf den Tisch. »Hier hast du den Kram. Vollständig!« Er betonte das letzte Wort. Dann wandte er sich um und räumte seinen Schreibtisch.

Bender seufzte. »Es ist vielleicht etwas unpassend, doch ich wollte dich fragen, ob ich mich an dich wenden kann, wenn im Rosetti-Fall Unklarheiten aufkommen? Ich würde mich freuen, wenn ich deine Einschätzung bekommen könnte.«

Am liebsten hätte er Nein gesagt, doch er würde Bender brauchen, um weiterzukommen. »Kein Problem, ruf mich einfach an, wenn du mich brauchst.«

Bender wartete noch einen Augenblick, doch als Finkler wieder schwieg, verließ er wortlos das Büro.

»Er meint es gut mit dir.«

»Lass gut sein, Lukas.«

Als Finkler die Schreibtischunterlage anhob, segelte ein Notizzettel gemächlich wie ein altersschwacher Falter aus einem der seitlichen Einschubfächer und landete auf Schulz’ Seite. Dieser griff den Zettel, sah kurz drauf und reichte ihn über den Tisch. Finkler riss ihm das gelbe Papier unwillig aus den Fingern.

»Briefgeheimnis gilt nur für verschlossene Post.« Schulz grinste schief wie ein beim Rauchen ertappter Schüler.

11.05.

23:00 Uhr – Club Rose

FN wird dort sein

Finkler betrachtete den Zettel. Er stammte von ihm selbst. Wie es seine Gewohnheit war, hatte er oben am Rand das Datum vermerkt. Er musste nicht nachrechnen: zwei Wochen vor dem Lkw.

»Club Rose, der ist meines Wissens gleich bei den Banken«, mischte sich Schulz weiter ein.

Finkler antwortete nicht, knüllte den Zettel zusammen und steckte ihn achtlos in die Tasche. Es war Zeit zu gehen.

Als er in der Tür stand, sah er sich nochmals im Zimmer um. Es fühlte sich wie ein Abschied für immer an. Er seufzte und wandte sich ein letztes Mal an seinen Kollegen.

»Tu mir nur einen Gefallen. Wenn weitere Details zu der Toten vom Parkdeck hereinkommen, schick mir die Datei.«

Es entstand eine Pause, während der Schulz nachdachte. »Warum?«

»Seit gestern hat das etwas Persönliches.«

Schulz nickte. »In Ordnung. Bleibt aber unter uns.«

Finkler nickte und zog die Tür endgültig zu.

***

Finkler marschierte über leere Felder, die sich unterhalb des Taunus erstreckten. Der Winter rückte näher und anders als früher graute es ihm vor der Dunkelheit und Kälte. Heute allerdings schien die Sonne ab und an zwischen den Wolken hervor. Keine Menschenseele war unterwegs und nur in der Ferne durchfurchte ein Traktor die Erde, während ihn Saatkrähen umflatterten.

Er mochte die Leere hier und brauchte Abstand zur Stadt und ihrer Hektik, um seine Gedanken zu sortieren und den Frust zu vertreiben. Und tatsächlich: Nach einer Weile half ihm die gleichmäßige Bewegung an der frischen Luft, klarer zu denken.

Wenn er es nüchtern betrachtete, war es logisch, dass Prock ihn vom Rosetti-Fall abzog. Er hätte wahrscheinlich nicht anders gehandelt. Sein körperlicher Zustand war schlecht, sein Gedächtnis nicht intakt und die Akten nicht vollständig.

Auch dass Prock ihn so überstürzt vom Dienst freigestellt hatte und gleich mit einer Untersuchung drohte, konnte er verstehen, schließlich musste er die Arbeit in seiner Abteilung vor einem möglichen Manipulanten schützen. Aber konnte es wirklich sein, dass Prock ihn ernsthaft verdächtigte? Nach all den Jahren ihrer Zusammenarbeit?

Er trat gegen einen Stein und fluchte. Verdammt! Wenn er sich doch bloß erinnern könnte.

Wo waren die Unterlagen geblieben? Bei Güdner?

Und was, wenn die Akten tatsächlich manipuliert worden waren? Zugang zu ihnen hatte praktisch jeder, der über einen Personalschlüssel verfügte. Das hieß, alle Kollegen der Abteilung III und noch einige andere, angefangen bei der Putzkolonne. Er betrachtete die Skyline Frankfurts. Oder hatte Güdner vor seinem Tod irgendetwas an den Akten gedreht?

Und was war mit ihm selbst? Was, wenn Procks Verdacht ins Schwarze traf? Konnte er sich da sicher sein? Machte er sich gerade auf, um sich selbst zu überführen? Er wusste es nicht und das war zum Verzweifeln.

Wichtig war es, vorerst in Deckung zu gehen, um weiter im Rennen zu bleiben. Er würde unter dem Radar mit Daniel zusammenarbeiten, nur so käme er an die relevanten Informationen und nur so könnte er herausfinden, was wirklich passiert war, was hinter dem Ganzen steckte, denn alles lief in diesem einen Fall zusammen.

Doch dann war da immer noch die Tote. Sein Gehirn hatte sie gemeinsam mit dem Rosetti-Fall in einem Traum zusammengeworfen, doch gab es diese Verbindung wirklich? Unwahrscheinlich. Sie lag seit dreißig Jahren oder länger dort unter dem Parkdeck. Der Gedanke war lächerlich. Ihr Medaillon hatte ihn in den Traum getriggert. Was noch? Er konnte sie nicht kennen, damals war er zwei Jahre alt gewesen. Die Verbindung musste sein Gehirn auf einer anderen Ebene hergestellt haben, die er nicht erfasste. Er brach den Gedankengang ab. Sarah sollte das interpretieren.

Inzwischen hatte er sein Auto erreicht und stieg ein, fuhr aber noch nicht los. Und wenn er auch zu dem Schluss kommen sollte, dass er selbst mit drinsteckte – dann wüsste er es wenigstens. Außerdem war wegducken nicht seine Art, daran konnte er sich erinnern.

Das Traummosaik

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