Читать книгу Gangster Squad - Paul Lieberman - Страница 6

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Fred Whalen hatte gelernt, wie man sich entlang des Mississippi, des mächtigsten Flusses der USA, in Billardhallen und bei religiösen Erweckungszeremonien durchschlagen konnte. Er wurde 1898 in Alton, Illinois, geboren, einer Stadt oberhalb von St. Louis. Als Teenager fand er heraus, was die Wanderprediger, die ihre feurigen Reden in Zelten, Scheunen und manchmal sogar Kirchen vom Stapel ließen, wirklich im Schilde führten. Er beobachtete die sich vor der Gemeinde in religiöser Ekstase krümmenden Männer und spürte sofort, was ablief. Schwindler, Gauner und Betrüger unterstützten die Prediger bei ihren Machenschaften. Der kleine Freddie konnte kaum über die Bankreihen sehen, doch er merkte, dass die durch die Seitengänge taumelnden Gestalten alles nur vorspielten. Und so griff er sich seinen Mantel, warf ihn über die Kerle und verdarb die ganze Show … bis ihm die Wanderprediger fünf Dollar zahlten, damit er wegblieb. Für Prediger, die ohne die vom „heiligen Geist ergriffenen“ Schurken ihre Gemeinde über den Tisch zogen, hatte Freddie eine andere Taktik ausgeheckt.

Er brauchte kein Gesangbuch, um bekannte Textzeilen wie „Are you washed in the blood?“ zum Besten zu geben. Er erhob sich mit der Menge und brüllte den Satz bei den letzten Textzeilen des Gospel-Songs.

Are your garments spotless?

Are they white as Snow?

Are you washed in the blood of the Lamb?

Danach gaben die Prediger den Schäflein das Zeichen, Platz zu nehmen, um sie mit ihren heißblütigen Tiraden weich zu kochen. Alle folgten der Aufforderung – bis auf Freddie. Er blieb stehen und schmetterte erneut „Are you washed in the blood?“, woraufhin sich die Anwesenden wieder erhoben und in den Gesang einstimmten. Die Wanderprediger wiederholten ihre Einladung, Platz zu nehmen, doch Freddie sang den Refrain ein weiteres Mal. Schnell war dann ein Deal mit den Predigern geschlossen, denn für fünf Dollar versprach er ihnen, sich zu verdrücken.

Und was Billard anbelangte – da war er ein wahres Wunderkind. Freddie konnte jeden in Alton hauchhoch schlagen, ohne auch nur im Ansatz zu betrügen. Ein alter Fuchs namens Tennessee Brown beobachtete den irischen Teenager, wie er mit Leichtigkeit einigen ordentlichen Spielern ein Einmachglas voller Pennies abnahm. Er bat seine Eltern, den Sohn unterrichten zu dürfen. Freddies Vater arbeitete als Weichensteller für die Eisenbahn im Illinois Terminal und war in Irland unter den Ärmsten der Armen aufgewachsen. Er schätzte deshalb ein kleines Zusatzeinkommen und willigte ein. Schon bald zog Freddie Shows im Trick-Billard ab und holte mit einem Stoß Kugeln von Coke-Flaschen, was die Zuschauer mehr als beeindruckte. Doch das richtige Geld wurde anders verdient. Er versuchte, wie ein mittelmäßiger Spieler zu wirken, gab dem Kontrahenten das Gefühl, dass er immer noch eine Chance besaß, obwohl das Spiel schon längst verloren war – und nahm den Typen dann gnadenlos aus. Freddie verließ die Schule, um mit seinem Mentor und dem Queue das Land zu erobern. Brown begleitete ihn durch die Billardhallen und Spelunken entlang des Mississippi und perfektionierte dabei das Handwerk seines Schützlings. Manchmal bot Brown den Kontrahenten an, dass sich Freddie nur auf eine Tasche beschränke, während sie die Kugeln in fünf versenken dürften. Klar, dass er ihnen die Kohle abnahm, sich danach genüsslich eine 25-Cent-Zigarre ansteckte und seine Gegenspieler provozierte: „Schätze, ihr könnte noch nicht mal den Kleinen hier schlagen?“

Freddies Kindheit wurde ein jähes Ende gesetzt, als sein hart arbeitender Vater an der Schwindsucht erkrankte. Er kam nicht gegen die Hustenattacken an. Es gab nur eine Möglichkeit: John Whalen machte sich ohne seine Familie in Richtung Kalifornien auf, diesem wunderschönen und weit entfernten Staat, der allerlei Wunderheilungen versprach. Vier Wochen später kehrte er, vom Heimweh geplagt, wieder nach Alton zurück und hustete sich immer noch die Lunge aus dem Leib. Freddie war 14, als sein Vater 1912 starb.

Er zog nach Chicago und setzte sein ganzes Wissen über die menschliche Natur ein, um als Vertreter sein Glück zu suchen, der sich die Schuhsohlen von Tür zu Tür plattlief. Freddie war schlank und ungefähr 1,80 groß. In seinem grauen Anzug mit Weste sah er wie ein Erwachsener aus. Er hatte ein breites Lächeln, das Lächeln eines erfolgreichen Verkäufers. Es war ihm egal, wenn das für manche aufgesetzt wirkte, denn die meisten Kunden mochten es, wenn er mit seiner Freundlichkeit einen tristen Raum erhellte. Freddie überzeugte zwei rivalisierende Fotostudios in der Windy City, ihn als Repräsentanten einzustellen. Für nur einen Dollar erhielten die Familien einen Gutschein, den sie für ein schlichtes 20 mal 25 Zentimeter großes Porträt einlösen konnten. Natürlich verriet er keinem der Studios, dass er auch für die Konkurrenz arbeitete.

Schon nach kurzer Zeit vertrieb er ein interessanteres Produkt, nämlich eine „Scheck-Stanze“. Die Leute hatten Angst davor, dass Kriminelle ihre Schecks fälschten und den Betrag änderten, um an mehr Geld zu gelangen. Die Schreibmaschinen-ähnliche Maschine stanzte durch einen Perforations-Mechanismus die exakte Summe in das Papier. Die amerikanische Redewendung „to cut a check“ [einen Scheck ausstellen] stammt aus dieser Zeit. Für Freddie war es einfach, die Kunden davon zu überzeugen, dass sie in höchster Gefahr schwebten, wenn sie nicht eine seiner Maschinen besäßen. Schon bald bot ihm die Herstellerfirma einen Job in New York an, den er wegen eines Mädchens aber ablehnte. Die Familienchronik der Whalens hat zwei Versionen parat, wie er Lillian Wunderlich begegnete. Die eine war typisch amerikanisch – süß, romantisch und unschuldig. Sein Vertreterjob führte Freddie nach St. Louis zurück, wo er kurzzeitig in einer überfüllten, von Lillians Mutter geleiteten Pension unterkam. Der Wunderlich-Clan war mit 16 Kindern riesig groß, und viele von ihnen wurden auf einer Farm in Pacific, Missouri, großgezogen, wo sie harte Feldarbeit erledigten. Vielleicht waren die Jungs deshalb so stark? Einer von ihnen – Augustus („Gus“) – konnte den schwersten Holzstuhl im Haus mit nur einer Hand in die Luft heben. Doch es war das Älteste der Mädchen, geboren 1899, also nur ein Jahr nach ihm, das Freddie zur Rückkehr bewegte. Als sie zum ersten Mal ausgingen – auf Schritt und Tritt von einigen Wunderlichs verfolgt, die den Billard spielenden Vertreter mit dem breiten Lächeln nicht aus den Augen ließen –, zählte Lillian erst 14 Lenze.

Die zweite Fassung der Geschichte vom ersten Treffen klingt anders. Die Wunderlichs wussten ganz genau, was für ein Früchtchen sie da in ihre Familie aufnahmen: Der junge Gus mochte das Spektakel der Erweckungszeremonien und besuchte eine Feier in einer heruntergekommenen Scheune. Am nächsten Abend schleppte er begeistert seine Schwestern Lillian und Florence dorthin: „Das müsst ihr unbedingt sehen!“ Sie setzten sich auf den Heuboden und sahen auf den Prediger hinunter, der die Menge mit den Worten aufpeitschte: „Ich WEISS, dass unter euch ein Sünder weilt – ein dem Glücksspiel, dem Alkohol und den Frauen verfallener Sünder. Wenn wir demutsvoll unsere Köpfe zum Gebet senken, wird er HEUTE NACHT dem Herrn begegnen. Trete hervor, Sünder, TRETE HERVOR!“ Bei diesem Stichwort sprang ein schlaksiger junger Mann mit schwarzen Haaren und abgerissener Kleidung auf. „Ich bin es!“, schrie er inbrünstig und kroch auf den Knien und mit Tränen in den Augen zu dem Prediger, um Erlösung zu finden. Natürlich war es Fred Whalen! Nach der Zeremonie führte Gus seine Schwestern hinter die Scheune und meinte: „Seht euch das mal an.“ Freddie und der Prediger schüttelten sich die Hände, wobei der Würdenträger dem reumütigen Sünder des Abends mehrere Papierscheine überreichte. Plötzlich war der gottlose Geselle sein bester Freund!

Lillian fühlte sich vom ersten Augenblick an wie verzaubert. Sie erzählte gerne davon, dass ihre Großmutter mit den beiden Zugräubern Frank und Jesse James um 1850 herum Tanzveranstaltungen besucht habe. Die Präferenz für Männer, die eine Neigung zum Kriminellen hatten, lag also in Lillians Blut. Als sie Freddie heiratete, war sie gerade erst 16 und er ein Jahr älter. Die beiden verbrachten die Flitterwochen im Mineral Springs Hotel in Alton, das mit dem therapeutischen Nutzen des Wassers warb, das aus einer Quelle im Keller aus der Erde blubberte. Es wurde in Flaschen abgefüllt und den Gutgläubigen angedreht.

Lilian brachte zuerst eine Tochter namens Bobie auf die Welt, gefolgt von einem Sohn namens Jack. Noch Jahrzehnte nach der Geburt beharrten die Eltern darauf, dass ihr Sohn bei der Geburt ungewöhnlich groß gewesen sei – neun Pfund schwer, oder 13, vielleicht sogar 15 Pfund. Familienlegenden variieren oft derart. Auf der Geburtsurkunde des Staates Missouri jedenfalls stand lediglich, dass Jack Fredrick Whalen am 11. Mai 1921 kurz nach Mitternacht das Licht der Welt erblickte.

Ein Jahr darauf führte Fred Whalen den Clan gen Westen, wobei seine Frau und die zwei Kinder von einem Haufen Wunderlichs begleitet wurden. Er tauchte in ihrer Pension auf, mit nur 26 Dollar in der Tasche, dem Billardstock und einigen schicken Kleidungsstücken. Draußen warteten zwei Wagen. „Wer mit nach Kalifornien will, sollte jetzt seine Klamotten packen. Wir fahren gleich“, gab er bekannt. Ein gutes Dutzend Fahrgäste brachten die beiden vor der Tür wartenden Transportmittel beinahe zum Platzen. Der eine Wagen war ein schwarzer „Hoffentlich-kommt-er-noch-um-die-nächste-Ecke“-Sedan, gebaut von der Dorris Motor Car Company in St. Louis, die mit dem Slogan warben: „Wir legen Wert auf hohe Qualität – nicht auf einen niedrigen Preis!“ Die Karre gab schon bald den Geist auf und musste ersetzt werden. Das andere Auto war ein ins Auge stechender Marmon Touring Car, gebaut von eben der Firma in Indianapolis, deren gelber Einsitzer das erste 500-Meilen-Rennen in der Stadt gewonnen hatte. Nun konzentrierte sich Marmon auf das Tagesgeschäft und bediente die Wünsche des prosperierenden Automobilmarkts, unterstützt durch die Werbung: „Das beste Auto in der besten Klasse!“ Es hatte eine vom Fahrer aus gesehen weit nach hinten versetzte und geräumige Sitzbank, breite Trittbretter auf jeder Seite und einen Rückspiegel. Auf der Kühlerhaube war eine silberne Figur angebracht, die man nur am Wagen eines millionenschweren Firmen-Besitzers vermuten würde – und genau diesen Eindruck wollte Fred in den kleinen Städtchen auf der Strecke schinden!

Wenn sie an irgendeinem Ort im staubigen Nirgendwo der USA Rast machten, stiegen alle aus, bis auf Fred, seine junge Frau und Muskelpaket Gus. Eine Tante kümmerte sich um Baby Jack, das in einer selbstgebauten Wiege reiste, die mit Seilen im Innenraum des Wagens befestigt war. Die anderen Wunderlichs gingen zu einer nahegelegenen Farm, um ein streunendes Hühnchen zu stehlen, während Fred seinen Dreiteiler anzog und Lillian ein kesses Rüschenkleid mit einem passenden Hut. Auch Gus schmiss sich in Schale und zog ein weißes Hemd und eine Weste über – ohne dabei die Chauffeursmütze zu vergessen. Die Drei fuhren danach mit dem auffällig pompösen Marmon in Richtung Hauptstraße des Städtchens, wobei Gus hinter dem Lenkrad saß und das Pärchen auf der Rückbank Platz nahm. Fred nannte ihn „Kid“ oder „Kumpel“. Gus war der ideale Chauffeur, da er nach dem Abgang aus der sechsten Klasse auf Farmen die Maschinen gefahren und die Motoren repariert hatte.

In der Stadt machte sich Gus auf die Suche nach dem bestbesuchten Saloon und parkte den Marmon direkt davor. Kurz nachdem er ausgestiegen war und während er noch unter die Motorhaube schaute, hatte sich schon eine Menschentraube um den Wagen herum gebildet und begaffte das Auto, das natürlich kein stinknormaler Ford sein konnte, und das piekfein gekleidete, vornehme Paar auf dem Rücksitz. Gus inspizierte den Motor, schüttelte mit dem Kopf und fragte, ob jemand wisse, wo man Werkzeug auftreiben könne. Dann ging er zu Fred und meinte: „Entschuldigen Sie, Sir. Die Reparatur wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Warum gehen Sie nicht in die Gaststätte, wo es kühl ist und Sie sich erfrischen können?“

Fred reichte Lillian den Arm zum Unterhaken und stolzierte mit ihr zur Kneipe. Sobald sie darin verschwunden waren, wollte einer der Herumstehenden wissen, wer das denn sei. Chauffeur Gus erzählte daraufhin die Geschichte von der Investmentfirma, die sein Boss leite, und ließ dabei einige wichtige Namen fallen, um die Glaubwürdigkeit der Story zu unterstreichen. Danach fragte er den ahnungslosen Bewohner, ob im Saloon akzeptable Billard-Tische stünden.

„Ja, na klar.“

„Tja, mein Boss hält sich für einen ausgezeichneten Spieler. Er denkt, dass er Billard beherrscht.“

Gus schaute sich argwöhnisch nach allen Seiten um, doch sein „Chef“ war nirgendwo zu sehen. Er verriet den Leuten, dass jeder halbwegs fähige Spieler, der gleichzeitig nüchtern bleibe, seinen Vorgesetzten schlagen könne. Er bat die Umstehenden lediglich darum, ihm für den heißen Tipp einen kleinen Anteil des Preisgeldes zukommen zu lassen, nachdem sie seinen Chef nassgemacht hätten. Blitzschnell verbreitete sich die Neuigkeit, dass ein reicher Schnösel in der Stadt sei, den man leicht ausnehmen könne.

Und so finanzierten sich die Whalens und die Wunderlichs ihre lange und beschwerliche Reise gen Westen – mit dem Geld, das Fred den armen Schluckern im Herzen der USA aus der Tasche zog.

Gangster Squad

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