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AUF DEM FELSEN DES AREOPAGS

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Das Kino Thiseio an der Apostolou-Pavlou-Straße rühmt sich, das »beste Freilichtkino der Welt« zu sein, weil man auf seinem begrünten Hof nicht nur den Film sieht, sondern auch die beleuchtete Akropolis. Dem Kino gegenüber – benannt wie auch das ganze Stadtviertel zu Ehren des mythischen Athener Helden Theseus – führt ein Kiesweg den Hügel hinauf und verliert sich zwischen Felsen. In vorgriechischen Zeiten, also vor etwa dreitausendsechshundert Jahren, hießen alle Bewohner dieser Gegend Kranaoi, »Felsenbewohner« …

Von den Felsen der Pnyx wechsle ich hinüber zu den Felsen des Areopags, steige einen Hang hinauf, auf dem kleine Pinien sich an den Boden klammern wie einst Laokoon und seine Söhne bei ihrem Kampf gegen den Wind. Bei Plutarch16 heißt es, in dieser Senke zwischen Areopag, Pnyx und Musenhügel habe Theseus gegen die Amazonen gekämpft. Es war die erste Schlacht, die Athen gegen einen ausländischen Feind führte, für immer festgehalten dort oben auf dem heiligen Felsen, auf dem chryselephantinen Schild der Athene, auf dem Giebel des Niketempels und auf allen Metopen des Parthenon, die in diese Richtung zeigen.

Für die Athener, die diese sorgfältig gearbeiteten Reliefs anfertigten, war in gewisser Weise Theseus der Gründer der Stadt, schließlich hatte er alle Völker Attikas zu einem großen Synoikismos um den Felsen der Akropolis versammelt und so eine neue Stadt gegründet, die seither nicht mehr Kekropia hieß – wie König Kekrops sie zu seiner eigenen Ehre benannt hatte –, sondern Athen – ursprünglich Athēnai, also Plural, wie es sich für einen Synoikismos gehört –, zu Ehren der Göttin Athene. Theseus ließ zum ersten Mal ein Fest feiern, das alle Athener vereinigte – die Panathenäen –, führte den Kult der Aphrodite Pandemos ein, um die Ehen zwischen Mitgliedern der verschiedenen Stämme zu segnen, und teilte die Völker in Adlige, Bauern und Handwerker auf. In der athenischen Mythologie war Theseus aber noch viel mehr: Er war der Gründer des Demos und der Demokratie.17

Es war dieser starke Wunsch nach Teilhabe an der Macht, der die Athener von allen anderen Völkern unterschied, der sie zur Erfindung ihres revolutionären Systems antrieb, der möglich machte, dass die Souveränität von den alten Königen und dem von Kekrops ins Leben gerufenen Rat der Adligen auf ein gut organisiertes und seiner Würde bewusstes Volk überging, das bereit war, die Herrschaft auszuüben. Diese Übertragung der Souveränität, begonnen in der Zeit, als die Helden – wie im Falle Theseus’ – noch mit den Göttern verwandt waren –, glückte nicht sofort: Sie zog sich lange hin: sechs Jahrhunderte Monarchie, drei Jahrhunderte Triumvirate auf Lebenszeit, ein Jahrhundert Triumvirate mit zehnjähriger Amtszeit, eine lange Abfolge von Archonten mit einjähriger Amtszeit, eingebettet in eine auf Abstammung und Reichtum basierende Oligarchie, und eine Reihe von Tyrannen, selbsternannten »Beschützern des Volkes«, die bis zu Solon reichte und trotz der von ihm eingeführten Institutionen und Gesetze noch viele Jahre fortbestand. Theseus mag als der große Einiger erscheinen, tatsächlich aber war die Demokratie eine hart erkämpfte Errungenschaft der Athener und kein Geschenk irgendeines Königs.

Gegenüber, auf dem heiligen Felsen der Akropolis, liegt, hinter dem wilden Flug der Schwalben, die Höhle, in der lange vor Theseus’ Zeit Apollon Krëusa traf, die Tochter des Erechtheus, und mit ihr Ion zeugte, den Stammvater der Ionier. Das Gefühl der Athener, ein alteingesessenes Volk zu sein, geboren auf diesen Felsen, und keine hier nur geduldeten Fremden, war sehr wahrscheinlich einer der Gründe für ihren Wunsch, sich selbst zu regieren. Daneben muss es natürlich noch andere Gründe gegeben haben. Einer war vielleicht der, dass die Macht nicht an eine Priesterkaste geknüpft war: Die Priester dieser dogmenfreien Religion waren selbst Bürger, gewählt, um ein Amt auszuüben und dem Gemeinwesen zu dienen. Ein weiterer Grund war vermutlich der Einfluss der ionischen und athenischen Philosophie, die in Frage zu stellen wagte, dass die Götter der Anfang aller Dinge waren. Damit wurde deren angeblichen Vertretern auf Erden von vorneherein die Macht entzogen, die sie vermutlich durchaus angestrebt hatten, und stattdessen nach den Kriterien der Vernunft übertragen. Und ein weiterer, sehr wichtiger Grund dafür, dass die Souveränität vom Volk ausging, war die Tatsache, dass Griechenland eine Seemacht war und als solche auf das Volk angewiesen. Die Bedeutung der Flotte für die Verteidigung verschob die Balance weg von den aristokratischen Reitern und hin zu den wenig begüterten Hopliten. Wenn also die Hopliten nach einem harten Feldzug, bei dem sie ihr Leben für die Stadt riskiert hatten, als bewaffnete Bürger auf ihren Schiffen zurückkehrten, konnte man ihnen in der Volksversammlung nur schwerlich Sitz und Stimme verweigern. Zu Recht stellte Aristoteles fest,18 dass im Landesinneren die Menschen sehr dem Boden verhaftet seien und ihr Gedeihen von dessen Bewirtschaftung abhänge und sie folglich den wenigen, eifersüchtig darüber wachenden Besitzern und Erben ausgeliefert seien, wohingegen Städte am Meer, die beim Aufbau einer Seestreitmacht auf das Volk angewiesen seien, viel eher dazu neigten, eine Demokratie hervorzubringen.

In der Abenddämmerung steht weiß der Mond über der kleinen Anhöhe, die die Pnyx vom Musenhügel trennt. In seinem Licht tritt schimmernd hervor die bläuliche Linie des Meers.

Die ausgegrabene Demokratie

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