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BEI DEN SCHUTZGÖTTINNEN DER IONIER

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Geht man ein Stück weiter, stößt man, kurz vor dem Weg, der hinauf zum Theseion, dem Hephaistostempel, führt, auf Steine, die ihr Geheimnis nur zum Teil enthüllt haben. Oben auf dem Hang zum Beispiel ragen vier schiefe, zerbrochene Quader aus dem Boden wie die Stufen einer Treppe. Vermutlich gehörten sie zu einem Gelände, das Synhedrion genannt wurde. Genutzt wurde es für kleinere Versammlungen und weniger bedeutende Prozesse, als die Agora noch nicht der später so belebte Platz war. Gegenüber dieser Tribüne sind zwei Omphaloi zu sehen, wahrscheinlich Bestandteile der Apollonkulte, die in der Nähe abgehalten wurden, an der Stoa des Zeus, wo heute zwischen Ruinen wilder Lorbeer wächst.

Bis vor kurzem dachten manche Archäologen, dass diese Ruinen – das Fundament eines säulenbewehrten Gebäudes mit zwei kleineren Anbauten seitlich – die Überreste jener berühmten Königsstoa seien. Spätere Funde legen eine andere Deutung nahe – womöglich auch diese nur vorübergehend –, nämlich dass sie zum Tempel des Apollon Patroos und dem kleinen Heiligtum des Zeus Phratrios und der Athena Phratria gehörten, in ihrer Funktion als Schutzgottheiten der alten ionischen Geschlechter. Die schlanke Statue des Apollon kitharoidos, die Euphranor für diesen Tempel schuf, wurde eines Tages – ohne Kopf und ohne Arme – in einem Säulengang entdeckt, den man zwanzig Meter weiter südlich ausgegraben hatte, dort, wo auch die Omphaloi gefunden worden waren. Ebenfalls entdeckt wurde am anderen Ende der Agora, bei der Stoa des Attalos, ein Quaderstein mit der Inschrift: VON ZEUS PHRATIOS UND ATHENA PHRATRIA, der heute wieder hier liegt, an der Schwelle jenes Tempels zu ihren Ehren.

Phratrios und Patroos: so hießen die olympischen Götter, wenn ihre Rolle als Beschützer der Phratrien betont werden sollte, jener jahrhundertealten Bruderschaften, die aus untereinander verwandten Familienclans bestanden. Unter diesem Beinamen wurde Apollon in besagtem Tempel als Stammvater der Ionier verehrt, denn wie es hieß, hatte er dort oben, in einer der Höhlen des heiligen Felsens, Ion gezeugt, den Stammvater der Athener. Daher feierte die Stadt nach dem Äquinoktium im Herbst, im Monat Pyanopsion, die fröhlichen Tage der Apaturia: das panhellenische Fest des Ioniertums. Die Feier wurde damit eröffnet, dass alle Phratrien ein abendliches Festmahl der Verbrüderung abhielten; am nächsten Tag brachte man den Schutzgottheiten in den Tempeln ein Opfer; und am dritten Tag wurden dem Clan alle Kinder vorgestellt, die im Laufe des Jahres geboren worden waren, und neue Mitglieder zugelassen, wenn die Phratrie sich darauf einigte, mit ihnen das Opferfleisch zu teilen.

Gegen diese Phratrien und andere althergebrachte Clanstrukturen richteten sich im Sommer des Jahres 508 vor Christus die mutige Sozialreform von Kleisthenes, den viele für den wahren Vater der Demokratie halten. Phratrien und Clans waren durch und durch klassengebundene Strukturen, über die der Blutadel traditionell seine Macht ausübte und sicherte. Schon Solon hatte gegen diese Strukturen angekämpft, indem er das politische Leben um vier Klassen herum organisierte, die sich eben nicht auf Abstammung gründeten; indem er allerdings Besitz zum Kriterium dafür erhob, wie groß die Teilhabe war, blieb Macht weiterhin sehr stark an Abstammung geknüpft und damit an Klasseninteressen. Kleisthenes hingegen begriff, obwohl er selbst dem Adelsgeschlecht der Alkmaioniden entstammte, dass er auf Solons Weg zu wahrer politischer Gleichheit nur dann vorankäme, wenn er endgültig die Vorherrschaft des Blutes brach.

Als das Volk Kleisthenes das Vertrauen schenkte, nahm dieser eine tiefgreifende Strukturreform in Angriff, deren Grundidee darin bestand, in allen Institutionen die gesellschaftlichen Schichten möglichst gut zu durchmischen, damit nicht mehr nur Gruppeninteressen vertreten wurden, sondern das Gemeinwohl im Vordergrund stand. Seine Strategie war ein Geniestreich. Er nahm die einhundertneununddreißig Demos, in die die Region Attika aufgeteilt war, und teilte sie neu auf in dreißig Gruppen, sogenannte Trittyen, nach rein geographischen Kriterien: zehn Stadt-Trittyen, zehn Binnenland-Trittyen und zehn Küsten-Trittyen. Dann ließ er per Los in jeder Region eine Trittye bestimmen und formte daraus zehn neue Phylen (Stämme), damit sich eine möglichst ausgewogene Mischung aus unterschiedlicher geographischer Herkunft, unterschiedlichem Familiengeschlecht, unterschiedlichen Vermögensverhältnissen und unterschiedlichen Interessen ergab. Um Diskriminierung aufgrund von Abstammung zu verhindern, sollte jeder nur noch seinen Eigennamen, den seines Vaters und den seiner Trittye tragen: Inachos, Sohn des Satyros, Heracleota. Apollonides, Sohn des Menodoros, Deradiota …

Diese zehn neuen Phylen (Stämme) ersetzten die vier althergebrachten, die sich von den von Ion gezeugten Söhnen herleiteten: Geleon, Aegikoreus, Argades und Hoples. Des Weiteren ersetzten sie die vier von Solon eingeführten timokratischen Klassen: Vermögende, Reiter, Bauern und Pächter. Diese neuen Einheiten bildeten auch die Grundlage für die Wahl der Archonten, Prytanen, Mitglieder des Rats, Mitglieder der Volksgerichte, der öffentlichen Schatzmeister und Beamten jeglicher Art. Sogar die Organisatoren der Panathenäen, die Musiker und die Tänzer, die an den verschiedenen Spielen teilnahmen, sollten über das System der neuen Phylen ausgewählt werden.

Kleisthenes respektierte die heilige Funktion der Phratrien, aber er schuf mit seiner Reform eine neue Gesellschaft, die zu der Hoffnung Anlass gab, dass sich so etwas wie politische Gleichheit tatsächlich verwirklichen ließ. Seine Reform war ein Triumph der Gleichheit über die Identität, der Gleichheit der Rechte und Pflichten über die Identität von Blut und Stamm. Identität war etwas, das vererbt wurde, also willkürlich war, festgelegt und häufig ausgrenzend; Gleichheit hingegen war etwas, das erkämpft werden musste, und daher die einzig mögliche Grundlage für die Idee der Staatsbürgerschaft.

Die ausgegrabene Demokratie

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