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AN DER KÖNIGSSTOA

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Jenseits der Gleise, in der Adrianou-Straße, sieben Meter unter der Terrasse der Taverne Eridanos, liegt im Bahnschacht vergessen ein großer, länglicher Stein. Um ihn herum bilden Quadersteine ein rechteckiges Fundament – mit vier Säulensockeln in der Mitte, genau auf der Längsachse –, auf dem die Königsstoa errichtet war. Erbaut wurde sie, um jenem rätselhaften länglichen Stein einen Ort zu geben. Auf ihn wurde das Opferfleisch gelegt, an ihm legten aber auch die neun Archonten der Stadt ihren Amtseid ab, schworen die per Los bestimmten Würdenträger, ein Jahr lang die Ämter auszuüben, die noch aus der Zeit der alten Könige stammten. Es gab drei Hauptarchonten: den Archon eponymos, den Archon basileus und den Archon polemarchos. Die anderen sechs Archonten hießen Thesmotheten. Ein Sekretär komplettierte das Kollegium aus zehn gewählten Mitgliedern, die jeweils einen Stamm der Stadt repräsentierten.

Der Archon eponymos, der dem jeweiligen Jahr den Namen gab, ließ über einen Herold verlautbaren, dass kein Bürger sich auf Kosten eines anderen Bürgers bereichern dürfe, solange er das Amt innehabe. Die sechs Thesmotheten – Gerichtsherren, deren Aufgabe es war, Prozesse anzustrengen gegen korrupte Bürger und all diejenigen, die Gesetze zum Schaden des Gemeinwesens erließen – schworen einer nach dem anderen, ihr Amt redlich auszuüben, und verpflichteten sich, eine menschengroße Statue aus Gold zu errichten, sollten sie selbst Bestechungsgelder annehmen. Und als Letztes legte, ebenfalls an diesem Stein, der Archon basileus seinen Amtseid ab, die oberste Autorität in religiösen Angelegenheiten und allen Tötungsdelikten. Er war es auch, der seinen Sitz in der Königsstoa hatte.

Hier, in der Königsstoa, bewahrten die Athener die berühmten Gesetze Solons auf. Diese Gesetze, die der Kaufmann und Dichter verfasst hatte, um die Stadt zu befrieden, waren zunächst auf hölzernen Drehtafeln festgehalten und auf der Akropolis ausgestellt; später jedoch, in der goldenen Zeit der Demokratie, beschloss das Volk, sie hier auf der Agora in Steinstelen zu meißeln, damit jeder sie lesen konnte. Damit wollte man deutlich machen, dass diese Gesetze die Grundlage der Demokratie darstellten.

Eigentlich war es Drakon, nicht Solon, der die Gesetze Athens zum ersten Mal schriftlich festhielt; wenn auch »mit Blut, nicht mit Tinte geschrieben« – wie der Redner Demades später sagen würde21 –, war die Niederschrift eine mutige Tat, um der Vorherrschaft der Aristokratie über die Justiz ein Ende zu setzen, die auf einer tendenziösen Auslegung nicht schriftlich fixierten Gewohnheitsrechts basierte. Mit seinen Gesetzen – die zu Recht für ihre Härte getadelt wurden – gab Drakon den Athenern zum ersten Mal ein Instrument an die Hand, damit die Justiz eine objektive Gewalt sein konnte und nicht wie bisher ein Werkzeug der Mächtigen zur Ausübung von Willkür und Rache.

Solon schwang sich nicht zum Tyrannen auf und nutzte die geschriebenen Gesetze, allerdings so, dass er erneut zum Pionier wurde: Er sorgte dafür, dass sie nicht einfach mit Gewalt durchgesetzt, sondern aus Überzeugung eingehalten wurden. Daher nannten die Athener, die in den letzten Jahren des fünften Jahrhunderts vor Christus beschlossen, diese Gesetze hier, in der Königsstoa, festzuhalten, Drakon, Lykurg und die alten Gesetzgeber aus anderen Regionen Thesmotheten, »Stifter von Normen«, also Gesetzen, die durch ein Orakel oder von einem Rat der Götter diktiert worden waren; Solon hingegen behielten sie im Gedächtnis als Nomotheten, als einen »Verfasser von Normen« (νόμοι), also von Gesetzen, die das Volk überzeugt hatten und in die es sich fügte wie in eine »gute Ordnung«, eine Eunomia.

Solon schaffte Drakons eiserne Bestimmungen ab – mit Ausnahme derer zu Mord – und führte stattdessen Gesetze ein, die dazu dienen sollten, Missbrauch bei Schulden, Erbschaften, Aussteuern, Beleidigungen und anderen Dingen des alltäglichen Lebens zu verhindern; daneben nahm Solon aber auch strukturelle Reformen vor, die das Machtgefüge tiefgreifend veränderten. Er brach das Machtmonopol der adligen Familien, unterteilte die Gesellschaft in vier Klassen22 auf der Basis ihre Einkünfte und nicht ihrer Herkunft, gab über die Volksversammlung und die Volksgerichte allen Bürgern Teilhabe an der Macht und übertrug ihnen entsprechend ihres Vermögens Rechte und Pflichten. Darüber hinaus schuf er einen Rat aus vierhundert gewählten Mitgliedern – je hundert pro Klasse – und begrenzte damit die ausufernde Macht des alten Areopags. Außerdem erließ er ein Gesetz, das jeden Bürger verpflichtete, bei allen das Volk betreffenden Entscheidungen Stellung zu beziehen, andernfalls verlor er seine Bürgerrechte. Und zu guter Letzt eröffnete er allen Bürgern die Möglichkeit, Teil eines Geschworenengerichts zu werden, und verankerte das universelle Recht, jegliche Ungerechtigkeit vor einem Geschworenengericht zur Anzeige bringen zu können, in der Überzeugung, dass man so der Unmoral am besten Einhalt gebot.

Mit dieser und anderen Reformen gab Solon Athen nicht nur geschriebene Gesetze; er gab der Stadt auch zum ersten Mal eine echte Verfassung. Für den Dichter waren es nicht die besten Gesetze schlechthin, sondern nur »die besten, die sie sich gefallen ließen«.23 Weil sich im Anschluss trotzdem immer wieder Athener persönlich an ihn wandten wie früher an den Tyrannen, damit er ihre Streitigkeiten beilegte, entschloss Solon sich zu einem radikalen Schritt: Er zog aus der Stadt fort und ließ die Bewohner mit den Gesetzen allein.

Hier, vor der Königsstoa, stand jahrhundertelang eine Bronzestatue Solons. Von ihr hat sich jegliche Spur verloren; sehr wohl aber fand man unter den Trümmern, nur wenige Meter von dem Ort entfernt, an dem seine Gesetze zur Schau gestellt waren, einen verstümmelten Torso der Themis, der Göttin der Gerechtigkeit, der Tochter des Himmels und der Erde.

Die ausgegrabene Demokratie

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