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HINUNTER NACH THISEIO

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Unter dem letzten Zirpen der Grillen steige ich den Hang des Areopags wieder hinunter zum Stadtviertel Thiseio. Die tief stehende Sonne ergießt sich wie ätherische Lava zwischen die Pinien und entflammt Gräser und Felsen. Kurioserweise sind die Straßen Thiseios heute benannt nach jenen alten Königen der Bronzezeit: Aktaios, dem ersten König überhaupt, der über die Felsen der Küste herrschte; Amphiktyon, dem Nachfolger Kekrops’; Demophon und Akamas, den Söhnen des Theseus; den Herakliden, die Attika für die Dorier hatten erobern wollen; und dem Geschlecht des Neleus, das bis zur Opferung Kondros’, des letzten Monarchen, dafür kämpfte, dass Attika ionisch blieb.

Es mag durchaus normal erscheinen, dass nur spärliche Informationen aus diesem fernen zweiten Jahrtausend vor Christus zu uns gedrungen sind, und diese auch nur im Gewand der Legende, doch es ist erstaunlich, dass die Quellen zu jenen Jahren, in denen die Demokratie erblühte, ebenfalls sehr fragmentarisch sind. Die Pentekontaetie (479–431 v. Chr.), die fünfzig Jahre zwischen dem Rückzug der Perser und dem Beginn des Peloponnesischen Krieges – zwischen dem großen Unternehmen, das die Griechen einte, und dem, das sie entzweite –, ist paradoxerweise die am wenigsten bekannte Periode in der Geschichte des antiken Athen. Denn damals entstand überhaupt erst so etwas wie Geschichtsschreibung. Thukydides, der Athener Schüler Herodots, der damals die große Aufgabe in Angriff nahm, den Menschen als Motor der Geschichte darzustellen, beklagt sich, dass die wenigen Geschichtsschreiber vor ihm diese Periode vernachlässigt und sich lieber Fragen zu der Zeit vor und während der Perserkriege gewidmet hätten; und dass der Einzige, der darüber geschrieben habe, Hellanikos von Lesbos in seinen Atthis, nur kurz darauf eingegangen und in den Zeitangaben ungenau gewesen sei. Was wir – einmal abgesehen von Inschriften – über diese Epoche wissen, stammt aus dem Werk Thukydides’. Erwähnt wird es auch in den Schriften Diodors und in einigen Biografien Plutarchs und Cornelius Nepos’, doch ist das, was wir dort erfahren, eher nebulös, durchwirkt von weißen Flecken und verleumderischen Stimmen.

Die Dunkelheit bricht herein, das Gittertor zum Gelände der klassischen Agora ist bereits geschlossen, also setze ich mich auf die Terrasse eines Cafés, das ausgerechnet – aus weiß Gott welchem Zufall – Athenaion Politeia heißt.

Athenaion Politeia (»Der Staat der Athener«)19 ist die wichtigste Quelle, um uns eine Vorstellung von der antiken Demokratie Athens zu machen. Es handelt sich vermutlich um ein Vorwort Aristoteles’ zu einem Gemeinschaftswerk seines Lyzeums, in dem laut Diogenes Laertios die politische Ordnung von einhundertachtundfünfzig Städten analysiert wurde. Wir können gar nicht genug bedauern, dass diese monumentale Arbeit verlorengegangen ist. Andererseits ist es eben nun mal so, dass unser Wissen über die Demokratie – wie über das antike Griechenland überhaupt – sich aus Fragmenten speist, die dem Vergessen entrissen wurden. Eine Keramikscherbe, einige Steine, gefunden unter den Ruinen eines Hauses, ein Torso, dem Kopf und Arme fehlen, ein paar Buchstaben, gemeißelt in einen Marmorblock, der gerade noch lesbare Schriftzug auf einem zerbrechlichen Stück Papyrus …

Von der Athenaion Politeia, dem Eckpfeiler der Erinnerung an die Demokratie, waren lange nur einzelne, von antiken Autoren zitierte Passagen bekannt, doch dann fand man vor gut einem Jahrhundert unter dem Sand des antiken Arsinoe zwei Papyrusblätter, die uns die Elegie des Solon bescherten; und in der Grabungsstätte von Oxyrhynchos, auf der Rückseite der Abrechnung eines ägyptischen Kleinbauern, in einer von vier Schreibern angefertigten Kopie, den fast vollständigen Text von Der Staat der Athener. Ein Glücksfall.

Unter dem nahezu vollen Mond wartet die Agora. Morgen.

Die ausgegrabene Demokratie

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