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8.

Ganud

23. bis 24. November 1638

Für den Abend des folgenden Tages war die Ankunft der Regierungsberaterin Aureni-Tarat angekündigt. Der Tamaron hatte die Nacht mit Rikmoon verbracht, sie aber seitdem nicht mehr gesehen.

Die Einladung Gota-Thaos zu einem intergalaktischen Frühstück sondergleichen hatte er ausgeschlagen – nicht zuletzt, um zu sehen, wie der Kommandant auf diese Ablehnung reagieren würde.

Dieser nahm es gelassen.

Wir unterhielten uns kurz mit den restlichen Mitgliedern unserer Delegation, für die aber weiterhin die dringende Bitte galt, ihre Quartiere nicht zu verlassen. Wir sprachen über Funk – und wohl nicht ohne unerwünschte Zuhörer – mit Ferinan Andurri an Bord des ZAON-Kreuzers.

Die Lage war ruhig. Auch von der SCIMOR gab es nichts Neues.

Der Tamaron nickte Kommandant Lanbal zu und verschränkte die Arme im Nacken. Er lächelte. »Aktiviert den Paratronschirm – jetzt. Sollte ich mich in exakt einem Tag nicht gemeldet haben, feuert aus allen Rohren auf den Weltraumbahnhof. Richtet in einem der kleineren Hangars ein gut abschirmbares Medozentrum ein. Die Delegation – und dieser Befehl schließt meine Person ausdrücklich ein – ist in diesem Medozentrum aufs Gründlichste zu untersuchen: physiologisch, psychologisch, mnemotechnisch und so weiter. Anderslautende Befehle von mir sind ab sofort zu ignorieren. Lanbal, du bist hiermit zum Kommandeur der Mission ernannt.«

Dann unterbrach er die Verbindung und betrachtete mich nachdenklich. »Wollen wir mal sehen, ob wir in diese Stabilität ein wenig Schwung bringen. Wir machen einen Ausflug zum Wrack auf der vereisten Landefläche.«

»Maghan«, sagte ich und neigte mein Kopfsegment. Manchmal vergaß ich, wie sehr ich ihn mochte. Aber er hatte ein gutes Gespür und wusste gegebenenfalls meine Zuneigung zu erneuern. Wie in jenem Moment.

*

Unser Weg durch den Weltraumbahnhof war denkwürdig. Wir begegneten keinem einzigen Tefroder. Hin und wieder sahen wir den einen oder anderen zwar, aber so, wie man im Hochgebirge scheues Wild sieht: von uns abgekehrt, eilig, beinahe auf der Flucht.

Uns war klar, dass dieses Verhalten koordiniert sein musste. Jemand warnte vor uns.

Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass alle diese Männer und Frauen sich einem willkürlichen Befehl des Kommandanten unterwarfen; dazu waren die Tefroder ein viel zu individualistisches Volk.

Für wahrscheinlicher hielt ich es, dass die Besatzung von YEDDVEN von sich aus abgeneigt war, mit uns in Kontakt zu treten. Zutiefst abgeneigt. Auch die Einrichtung der Privatsphäre, in deren Genuss der Tamaron in der vergangenen Nacht gekommen war, erschien in anderem Licht: Ousha Rikmoon hatte auf diese Weise verhindert, dass die anderen späten Spaziergänger in Unruhe verfielen.

Und die gemeinsame Nacht?

Meiner Vermutung zufolge hatte Rikmoon die Funktion einer Sonde, ausgeschickt, den Tamaron und womöglich die Milchstraßen-Tefroder überhaupt auszuforschen.

Ich lotste den Tamaron durch die Station. Ich erwartete, dass uns der Zugang zu der Landefläche untersagt werden würde, ich erwartete tefrodische Wächter, Kampfroboter, versiegelte Schotte. Nichts davon. Schon auf den letzten hundert Metern vor dem Ausgang hatte ich bemerkt, dass die Atmosphäre in den Korridoren sich verändert hatte, wenn auch nur minimal. Fast überall sonst lag die Kohlenstoffdioxid-Konzentration bei 0,097 Prozent; die ausgeatmete Luft hatte das Gasgemisch mit Kohlendioxid angereichert.

Nahe dem Ausgang betrug der Gehalt an Kohlenstoffdioxid 0,041 Prozent.

Das hieß: An diesem Ort wurde nicht geatmet.

Da hieß: Die Bewohner der Station mieden diesen Sektor.

Und dazu schien kein ausgesprochenes Verbot notwendig zu sein.

Ungehindert betraten wir eine Luftschleuse. Der Tamaron schloss seinen Helm und überprüfte das Lebenserhaltungssystem. Wir aktivierten die Kammer. Die Luft wurde abgepumpt. Das Schott öffnete sich.

Wir betraten die Plattform.

*

Eis. Die gesamte, 95 Quadratkilometer messende Oberfläche war vereist. Die Scheibe des Weltraumbahnhofs war so positioniert, dass, wer auf einer der beiden Landeflächen stand, die Hälfte der großen Spiralgalaxis sah und, wenn er sich im Halbkreis drehte, die gesamte, weit entrückt wirkende Milchstraße.

Planetares Eis schloss manchmal Luftbläschen ein, die es weiß erscheinen ließen. Dieses Eis dagegen war restlos klar. Wie war es hergekommen? Wozu diente es? Hatte man die Wasserstoffvorräte der Maahks mit Sauerstoff gebunden? War es ein Wasser- und Gasreservoir?

Der Tamaron schaltete den Helmscheinwerfer ein und durchleuchtete das Eis. Zehn Meter tief unten spiegelte sich das Licht in der metallenen Verschalung der Station.

Das Wrack lag etwa drei Kilometer entfernt. Der Tamaron gab mir ein Handzeichen: Er wollte gehen.

Wir hielten auf die Fragmente des Radschiffes zu. Ich hörte einen Ausruf.

Vetris-Molaud hob die Hand. Da sah ich ihn auch – den Eisläufer.

Ich war, das gebe ich zu, verblüfft wie selten zuvor. Zwischen uns und dem Eisläufer lagen etwa 400 Meter, manchmal etwas mehr, manchmal weniger, je nachdem, welche Figur er tanzte.

Viele humanoide Völker trainieren ihre Bewegungsfähigkeit und ziehen aus dem Akt der Mobilität Befriedigung und Freude. Eine Quelle von Emotionen, die mir wohl niemals sprudeln wird.

Ich weiß, dass auch die Terraner das Laufen auf Eis als Kunst betrachten: Sie laufen vorwärts und rückwärts, sie gleiten; sie beugen das Knie und strecken das Bein; sie wechseln Fuß, Richtung und Kante. Sie springen, sie drehen Pirouetten. Sie tragen besondere Schuhe dazu, gepolstertes, wärmendes Leder mit Versteifungen, die dem Druck widerstehen. Schuhe, die mit Kufen ausgestattet sind.

Der Eisläufer, der auf dem Eisrund des Weltraumbahnhofs lief, hatte kein Bein. Und humanoid war er keineswegs.

Der Tänzer hatte einen zapfenförmigen, etwa zwei Meter hohen Leib, der sich nach unten stark verjüngte. Ohne Hals saß ein elliptischer Schädel zwischen den abgerundeten Schultern. Aus dem Schädeldach ragte ein Y-förmiges Organ, an dessen oberen beiden Ausläufern sich kugelförmige, facettierte Optikrezeptoren befanden. Zwischen den beiden Augenstreben spannte sich eine v-förmige Membran, mit der dieses Wesen meiner Vermutung nach akustische Signale sowohl von sich geben als auch empfangen konnte.

Im oberen Brustteil lagen zwei waagerechte Münder übereinander, von denen der eine wohl zum Essen, der andere zum Atmen diente.

Der Leib war wie auch der Schädel und die drei Arme stark geschuppt. Die Kopfschuppen waren heller, beinahe knochenbleich, die Körperstamm- und Armschuppen hingegen von einem dunklen Violett. Arme wuchsen dem Eisläufer aus dem oberen, breiten Drittel des zapfenförmigen Leibes. Sie liefen spitz zu und wiesen weder Hände noch Greiflappen auf.

Ich hatte keinen Zweifel, dort ein organisches Wesen tanzen zu sehen. Bis auf eine Art Schal aus grauem Material, den es sich um das untere Drittel seines Leibes geknotet hatte, schien es nackt. Etwas Wärme stieg aus dem Inneren des Weltraumbahnhofs auf und durchdrang den Eispanzer; dennoch betrug die Temperatur auf der Landefläche minus 262 Grad Celsius. Der Tänzer aber leuchtete in der Finsternis, jedenfalls wenn ich ihn im Infrarotbereich betrachtete: ein glühender, tanzender Stern auf dem vereisten Firmament der Landefläche.

Da es keine Lufthülle gab, war es still, leerraumstill.

Die Kreatur trug – mangels Beinen und Füßen – keine Schuhe.

Sie hielt die drei Arme nach unten gestreckt und berührte mal mit allen drei Armspitzen das Eis, mal hielt sie mit zwei ihrer Arme wenige Millimeter Abstand, während der dritte das Eis berührte, wodurch er einem eigentümlichen Ruder gleich.

Ich bin nicht jung, Mascant. Du und ich – was unser Alter angeht, geben wir uns nicht viel. Ich bin nicht immer auf Reisen gewesen, dennoch habe ich viele Lebewesen unterschiedlichster Gestalt gesehen. Mancher Anblick hatte eine Emotion in mir ausgelöst, und manche dieser Emotionen hatten mich selbst erstaunt.

Das Wesen tanzte, es glitt und sprang, es drehte sich. Es tanzte mit einer beispiellosen Grazie. Und es löste Emotionen in mir aus, und ich war mir vom ersten Moment an sicher, dass es die angemessenen Emotionen waren: Ich empfand vor diesem Wesen nichts als Abscheu und Furcht.

Mein positronischer Existenzanteil widersprach. Dennoch: Mir war, als sähe ich einen grauenvollen Totengeist tanzen.

*

Der Tamaron sah dem Schauspiel eine Weile zu. Hinter dem Eisläufer ragte das Felgenfragment des Radraumers auf, 270 Meter hoch und gewölbt wie die Mauer einer Talsperre, die hinter sich das Nichts versammelte. Die Struktur der Schiffshülle mutete tatsächlich steinern an, wie dunkles, an Eisen und Magnesium reiches Glimmergestein. Etwas hatte größere und kleinere Brocken aus dem Ringsegment herausgeschlagen oder möglicherweise herausgeschleudert. War es von innen heraus gesprengt worden? Die Fragmente lagen wie Findlinge über das Eis ausgestreut.

Nachdem der Tamaron mit dem Bemühen gescheitert war, Funkkontakt zu dem Tänzer herzustellen, wandte er sich an mich: »Versuch, ihn zu stellen!«

Ich überwand die 400 Meter in wenigen Sekunden. Der Eisläufer verringerte seine Geschwindigkeit nicht. Ich passte mein Tempo an und schwebte neben ihm her. Ich schickte ihm via Hyperfunk ein paar Zeichenfolgen, Formeln für platonische Körper, Polyeder mit vollkommener Symmetrie, wie sie jeden denkenden Geist ansprechen.

Der Eisläufer reagierte nicht.

Ich aktivierte mein drittes Auge und projizierte ein Holo, das uns beide zeigte, den Tänzer und mich, wie wir zur Ruhe kamen und einander mit den Extremitäten berührten.

Auch auf dieses visuelle Angebot erhielt ich keine Antwort.

Also rückte ich etwas näher an ihn heran und spannte meinen Kopfschirm auf. Ich lauschte auf die Frequenz seiner Hirnwellen, empfing aber nur etwas wie ein unendlich fernes, elektrisches Echo.

Bevor ich physischen Kontakt aufnehmen konnte, berührte der Tänzer mich mit der Spitze eines seiner Arme.

Ich fühlte mich von einer unwiderstehlichen Gewalt herumgewirbelt. Zwei meiner acht Kopfarme wurden herausgerissen, dann ein dritter. Ein Schmerzäquivalent warnte mich; ich wies es zurück. Ich musste mich konzentrieren.

Ich überschlug mich, starrte in rascher Reihenfolge auf die Plattform, in den Leerraum, auf Andromeda, wieder auf die Landefläche, vier, fünf, sechs Mal binnen einer halben Sekunde. Es gelang mir endlich, meinen Flug zu stabilisieren.

Dann erfasste mich die namenlose Kraft erneut und schleuderte mich mit ungeheurer Wucht in Richtung des Wracks. Ich widersetzte mich zunächst nicht, jagte auf das Fragment zu und griff erst kurz vor einem Aufprall ein, aktivierte mein Triebwerk und schoss nicht mehr als eine Handbreit über die steinern wirkende Oberfläche des Wracks hinweg, dann ließ ich mich fallen. Ich verbarg mich, endlich wieder frei.

Meine Autoreparaturroutinen dichteten die beschädigten Partien ab, aus denen meine drei Kopfarme herausgerissen worden waren. Zusätzliche Sicherungsschalen kapselten meinen Neuroplasmaanteil ein und begannen mit einer Diagnose. Das Plasma hatte keinen nennenswerten Schaden genommen. Ich ließ ein wenig Schmerzäquivalent zu, um diese Erfahrung meinem emotionalen Gedächtnis einzugravieren.

Dann aktivierte ich sämtliche Waffensystem, hüllte mich in einen Schutzschirm, beschleunigte und katapultierte mich förmlich über die Wölbung des Wracks zurück.

Keine fünf Sekunden waren seit der Attacke vergangen. Ich entdeckte den Tamaron, hoch über der Eisfläche und fast einen Kilometer von mir entfernt. Ich vermutete, dass er seinerseits versucht hatte, den Eistänzer anzugreifen. Und wie ich, war er von der fremdartigen Gestalt mit großer Gewalt abgewehrt worden. Er raste in einem irrwitzigen Zickzackkurs über die Plattform dahin. Offenbar kämpfte die Positronik des Anzugs gegen die namenlose Kraft, die den Tamaron immer wieder packte und wie die Faust eines unsichtbaren Riesen schüttelte.

Vetris-Molauds Arme und Beine hingen in verdrehten und verrenkten Winkeln herab, für die weder Knochen noch Sehnen geeignet waren. Seine Knochen mussten am Knie und im Schultergelenk gebrochen sein.

Ich feuerte mit allen Waffensystemen auf den Eistänzer, der sich langsam im Kreis drehte, einen Arm nach unten gestreckt und in Verbindung mit der Eisfläche, die anderen beiden wiesen wie in einer Abwehrhaltung in Richtung des Tamarons.

Ein Impulsstrahl traf den Eistänzer, zeitgleich ein Desintegratorstrahl und der Schuss aus meinem Neuroschocker.

Der Tänzer hielt inne, dann glitt er, schnurgerade wie über eine unsichtbare Schiene, in Richtung des Wracks davon, wenngleich nicht allzu schnell. Eine Flucht sah anders aus.

Ich barg den bewusstlosen Körper des Tamarons mit meinen verbliebenen Kopfarmen im Flug und trug ihn ins Innere der Station zurück. Noch von unterwegs funkte ich die Kommandantur des Weltraumbahnhofs an. Als die Luftschleuse sich vor uns öffnete, warteten bereits zwei Medoroboter und ein tefrodischer Mediker auf uns.

Die Roboter nahmen mir den Tamaron ab und legten ihn in einen mobilen Medocontainer. Wir verließen die Schleuse. Ich übermittelte dem Schutzanzug des Tamarons einen Berechtigungscode und wies ihn, nachdem er diesen akzeptiert hatte, an, den Helm zu öffnen. Der Tamaron schlug die Augen auf.

Obwohl der Anzug ihn sediert und erstversorgt haben musste, schrie Vetris-Molaud im gleichen Moment los.

*

Während sich Vetris-Molaud in der Medostation befand, kontaktierte ich über Funk wieder den Kommandanten des Weltraumbahnhofs und forderte ultimativ uneingeschränkte Bewegungsfreiheit für unseren kleinen Trupp. Ich wollte unsere Begleiter als Wachmannschaft für der Tamaron einsetzen.

Gota-Thao akzeptierte ohne jeden Einwand.

Danach besprach ich mich in aller Offenheit über Funk mit Ferinan Andurri und Lanbal.

Der Kommandant der SCIMOR sagte zu, sein Schiff zwar in höchster Alarmbereitschaft zu halten, aber auch dann noch nicht zuzuschlagen, wenn der Tamaron sich in der von ihm gesetzten Frist nicht gemeldet haben sollte. Ich wollte die Diagnose der Medoabteilung abwarten.

Diese Diagnose kam bald: Vetris-Molaud lag nach diversen Operationen und Regenerationsinduktionen im Heilschlaf. Sein Zellaktivator beschleunigte den Genesungsprozess. Alles verlief wunschgemäß.

Dann sprach ich persönlich bei Gota-Thao vor. Seine Assistentin Rikmoon war bei ihm. Es war ein kleiner, absolut anonymer Besprechungsraum, sachlich und nebensächlich, ein Tisch mit einigen technischen Einrichtungen, vier Stühle.

Ich entnahm dem Muster der Hirnwellen, dass die beiden alles andere als ruhig waren. Die Katastrophe auf der Plattform musste sie geschockt haben. Sie hatten, so meine Vermutung, damit nicht gerechnet. Gut möglich, dass sie hatten in Erfahrung bringen wollen, ob und wie der Eisläufer auf uns reagierte. Dass es diese Art von Reaktion sein würde, hatten sie kaum erwartet.

»Sind wir in eine Falle gelaufen?«, fragte ich Gota-Thao.

»Es war alles andere als das«, sagte der Kommandant matt. Von seiner clownesken Art war nichts geblieben. »Die Kreatur steht nicht unter unserer Kontrolle.«

Für einen Moment drohten mein positronisches und mein neuronal-emergentes Bewusstsein die Verschränkung ineinander zu verlieren. Vetris-Molaud hätte von Verblüffung gesprochen.

»Der Weltraumbahnhof ist, wenn ich es richtig verstanden habe, ein Grundpfeiler eurer galaktischen Defensivarchitektur. Und ihr duldet hier ein unkontrollierbares Etwas, das offenbar über mindestens eine Paragabe verfügt? Denn dieser Eisläufer ist zweifellos ein Telekinet.«

»Zweifellos ist er das«, räumte Rikmoon ein. »Wir bezeichnen die Fähigkeit dieser Kreatur als Kontakt-Telekinese. Was sie mit den Spitzen ihrer drei Arme oder mit der unteren Spitze ihres Rumpfes berührt, kann sie telekinetisch beeinflussen. Und das auch noch, wenn der Kontakt wieder abgerissen ist, jedenfalls für einige Sekunden und über eine bestimmte maximale Distanz. Auch sich selbst bewegt sie mit dieser telekinetischen Kraft.«

»Welcher Art gehört dieses Wesen an?«, fragte ich. »Stammt es aus Andromeda? Stammt es aus dem ursprünglichen Wächtervolk dieses Weltraumbahnhofs?«

»Nein«, sagte Gota-Thao. »Die Maahks hatten Draadru als Wächter bestellt, äußerst langlebige Wasserstoffatmer, die sich aber außerhalb ihrer Heimatwelt nicht fortpflanzen. Als wir die Station übernommen haben, waren sie bereits seit einiger Zeit ausgestorben.«

»Wann habt ihr YEDDVEN übernommen?«

»Im Jahr 1555 eurer Milchstraßenzeitrechnung«, sagte Gota-Thao.

Selbstverständlich rechnete ich mit, rief mir die zeitgleichen und zeitnahen Eckdaten der Milchstraße in Erinnerung und suchte nach einem Zusammenhang. Im Jahr 1552 NGZ hatte die Aussaat der neuen Eiris begonnen, vier Jahre später hatte die Prä-Raptische Phase mit ihrer hyperphysikalischen Unruhe im Solsystem eingesetzt. Die damaligen Wissenschaftler hatten diese Unruhe auf eine noch unbekannte Wechselwirkung zwischen der konvertierten Eiris und der hyperphysikalischen Besonderheit Sols, dem Sonnensiegel, zurückgeführt. 1572 NGZ hatte man die Hyperkorrosion diagnostiziert. Im Jahr 1614 NGZ schließlich, vor 24 Jahren, war es zur Quadratur der Tage gekommen, die Terra und Luna aus dem Solsystem gerissen hatte.

»Wann ist das Schiff des Eistänzers hier aufgeschlagen?«, fragte ich.

»Im Jahr 1577 NGZ«, antwortete Gota-Thao. »Die letzten Maahks zogen sich damals aus YEDDVEN zurück. Wir hatten mit der Übernahme begonnen. Seit etwa sieben Jahren waren die Onryonen involviert.«

Ousha Rikmoon dachte offenbar angestrengt nach. Ich beobachtete eine leichte Verschiebung ihrer Hirnstromfrequenz. Sie sagte: »Damals hatte eine erste Testphase mit dem Prototypen des Linearzonen-Passagen-Definitors begonnen. Wir verloren ein Raumschiff, die Onryonen ebenfalls. Kurz danach havarierten die Fremden auf YEDDVEN.«

»Demnach besteht ein Zusammenhang?«, fragte ich.

»So sieht es aus«, sagte Rikmoon. »Obwohl wir bis heute nicht herausgefunden haben, welcher.«

»Die Onryonen haben die Sonnentransmitter benutzt, um Andromeda zu erreichen?«

»Soweit ich weiß: ja. Die meisten«, sagte Gota-Thao.

Alles passte und zugleich nichts. Der Weltenbrand hatte zweifellos viele Onryonen aus der Milchstraße vertrieben, manche davon offenkundig nach Andromeda. Was jedoch nicht ausschloss, dass onryonische Expeditionskorps schon früher in die Nachbargalaxis vorgestoßen waren. Ihre technischen Mittel mussten den Tefrodern reizvoll vorgekommen sein.

Aber wozu bauten sie an diesem Schutzwall mit? Und wovor sollte der Schutzwall schützen? Soweit wir wussten, hatte sich die Ekpyrosis nicht nach Andromeda ausgebreitet, ehe sie gelöscht worden war.

»Das Geschöpf nennt sich übrigens Audh«, sagte Ousha Rikmoon. »Wir haben das Fragment eines Hyperfunkspruchs aufgefangen, ultrakurz gerafft, kaum entzifferbar. Wir haben den Funkspruch nicht übersetzen können, wissen nicht einmal, ob es ein Hilferuf war oder eine Warnung. Nur dass es sich bei Audh um eine Selbstbezeichnung handelt, scheint unseren Xenolinguisten klar.«

»Kann ich mir eine Aufzeichnung des Funkspruchs anhören?«

Rikmoon zögerte. »Später vielleicht. Diese Tonaufnahme befindet auf Anordnung des Virths derzeit unter Verschluss.«

»Habt ihr keine Anstrengung unternommen, mit diesem Audh Verbindung aufzunehmen? Ihn zu neutralisieren?«

Gota-Thao lachte bitter. »Meine beiden Vorgänger haben das mehrfach versucht. Aber die Kreatur kommuniziert nicht.«

»Stammt dieser Audh aus Andromeda oder einer ihrer Satellitengalaxien?«

»Kein Tefroder hat je von einem Volk wie diesem gehört«, sagte Gota-Thao. »Kein Gaid. Kein Taymakko. Kein Tabang, die seit ewigen Zeiten versuchen, sämtliche Lebensformen in Karahol zu katalogisieren. Einerseits ist diese Galaxis ein unbegreiflich großer Lebensraum, und nicht einmal die Biokataloge der Tabang sind annähernd vollständig, sodass es möglich wäre. Aber ich persönlich halte es für unwahrscheinlich.«

Rikmoon spitzte kurz die Lippen. »Es gibt eine alte visuelle Aufzeichnung des Erstkontaktes. Willst du sie sehen?«

Täuschte ich mich – oder bemühte sich die Assistenten des Kommandanten, ihre neuronale Erregung zu kaschieren? Ich dachte: Das ist kein Angebot. Das ist, worauf unser ganzes Gespräch hinauslaufen sollte. Rikmoon will uns diese Aufzeichnung präsentieren. Sie will wissen, wie wir reagieren.

»Ich würde sie gerne sehe«, sagte ich.

Ousha Rikmoon fuhr mit der Fingerspitze über ihren Gürtel. Eine bis dahin unsichtbare Tasche öffnete sich, der sie einen münzförmigen, opalisierenden Speicherkristall entnahm. Ich sah, wie sich die Tasche spurlos wieder schloss, und nahm mir vor, diesen Gürtel ein wenig im Auge zu behalten. Mir schien, er müsste mehr sein als ein modisches Zubehör.

Rikmoon übergab dem Kommandanten den Kristall, dieser platzierte ihn auf den Tisch. Die Tischoberfläche vertiefte sich ein wenig, nahm den Kristall auf und aktivierte ihn. Ein Holoprojektor aktivierte sich.

Was ich sah: eine Landschaft wie im Schneesturm. Im Licht der Suchscheinwerfer weiß aufleuchtende Trümmerstücke des aufgeschlagenen Schiffes. Das Fragment der Felge, die verbogene Röhre der Speiche, das Bruchstück der Nabe.

Ich dachte: Wenn das Objekt radförmig war – wo sind dann die Reste? Kampf- und Medoroboter im Anflug, dahinter Tefroder in schweren Schutzanzügen, in schimmernde Energieblasen gehüllt. Nur zwei der Einatzkräfte trugen den Helm mit dem stilisierten roten Blutstropfen darauf, der sie als Angehörige einer Medonotfalleinheit auswies.

Am Rand der Szene: geborstene Tanks. Von dort könnte sich das Wasser ausgebreitet und über die Landeplattform verteilt haben. Warum ist es nicht sofort vereist? Wie hat es diesen glatten Film bilden können?

Annäherung an das Wrack. Desintegratoren im Einsatz an der Schiffshülle. Fahles, grünes Leuchten der Molekülschwaden. Entweichende Atmosphäre. Einstieg. Röhren als Korridore. Fremdartige Maschinen im Inneren, Buchten und Gruben, deren Funktion mir nicht klar wurden. Girlanden, an denen undefinierbare Gebilde pendelten – organischer Natur? Technische Artefakte? Die Bilder wackelten.

Dann die erste Leiche, den Körper von einer Art Frosthaut überzogen. Die Facettenaugen im Y-förmigen Organ matt und erloschen.

Rufe in einem monotonen, administrativen, dann plötzlich aufgeregten Tefroda. Der Eisläufer kommt ins Bild. Ohne Eile schwebt er durch einen Korridor, aus dem Wrack. Kurzes Flackern der Bilder; Dunkelheit. Dann wieder Licht.

Tefrodische Roboter werden in Marsch gesetzt, nähern sich dem Eisläufer vorsichtig. Der Eisläufer weicht aus, ohne einen einzigen Haken zu schlagen, wie von magnetischen Feldern abgestoßen, unberührbar. Er tanzt, dreht sich, fährt einen Bogen. Seine Bewegungen sind so gewandt und zielsicher, als wäre er eine von unsichtbarer Hand geführte Feder, die kryptische Zeichen auf das Eis der Station schreibt.

Mehr und mehr Roboter fliegen herbei. Sie umstellen ihn, halten ihn auf. Sein Leib verändert sich.

»Wir haben einige dieser Wesen in tiefgekühltem Zustand in den Trümmern ihres Raumschiffes gefunden«, berichtete Gota-Thao. »Alle tot, aber konserviert, bis auf den Eisläufer. Die Versuche, mit ihm zu kommunizieren, sind gescheitert. Das Wesen weicht bei Annäherung aus. Verstellt man ihm den Weg oder nimmt ihn gefangen, verwandelt sich sein Körper in eine eisenartige Struktur: hohe elektrische Leitfähigkeit, verformbar, glänzend. Die Wärmeleitfähigkeit aber sehr gering. Die biochemischen Prozesse im Körper kommen zum Erliegen, werden gewissermaßen eingefroren. Nur im Hirn zeigen sich dann noch schwache elektrische Muster.

Unsere Wissenschaftler bezeichnen diese Verhärtung als Metabolische Pseudo-Metallifizierung. Um aus diesem Zustand wieder zu erwachen, sich zu revitalisieren, benötigt das Wesen zwischen ungefähr drei bis dreißig Minuten – je nachdem, wie lange es in dieser Eisenstasis gelegen hat. Wir kennen nichts Vergleichbares in Andromeda.«

»Und woher stammt dieses Volk dann folglich?«, fragte ich.

»Das wissen wir nicht«, gestand Rikmoon ein.

Gota-Thao hatte sich nach und nach entspannt. Sein Gesicht zeigte wieder einen leutseligeren Ausdruck. »Natürlich sind wir keine Geheimnisträger höherer Kategorie. Bald wird die Beraterin eintreffen. Vielleicht weiß sie mehr. Frag sie. Sie war lange Jahre Virth.«

Die Medostation meldete sich. Der Tamaron, nunmehr umgeben von unseren Leuten, war wieder bei Bewusstsein. Er wollte mich sprechen.

Rikmoon bat mich, ihn zu grüßen.

*

Der Schutzanzug des Tamarons hatte beim Angriff auf mich keine wie auch immer geartete Energieentladung registriert und die Attacke auf mich deswegen nicht als solche erkannt. Der Tamaron hatte mich über die Plattform wirbeln sehen – worum es sich dabei handelte, war weder ihm noch der Positronik seines Anzugs sofort klar geworden.

Nach dem telekinetischen Angriff auf mich war der Audh auf Vetris-Molaud zugeglitten. Der einfache Energieschirm, den der Anzug aktiviert hatte, wäre imstande gewesen, Desintegrator- und Impulsfeuer abzufangen. Der ausgestreckte Arm der Kreatur aber war feststofflich und nicht als Gefahr identifiziert worden. Mit der Berührung hatte der Audh seine Kontakt-Telekinese eingesetzt. Der telekinetische Schlag hatte dem Tamaron nicht nur etliche Knochen gebrochen, sondern einige innere Organe verletzt und das Nerven- wie Muskelsystem strapaziert.

Wie ich nun in der Medostation erfuhr, war der Tamaron dem Tod nur knapp entkommen.

Das war auch seiner Wachmannschaft klar, und ich spürte, wie verstört die Tefroderinnen und Tefroder unter ihrer professionell unbewegten Mimik waren. Die Verletzlichkeit des Tamarons so vor Augen geführt zu bekommen, verunsicherte sie.

Und eine strategische Meisterleistung konnte auch ich im Nachhinein in unserem Ausflug nicht erkennen.

Ich berichtete Vetris-Molaud, was ich von Gota-Thao und Rikmoon gehört hatte. »Grüße von Rikmoon, übrigens«, sagte ich.

Der Tamaron reagierte nicht darauf.

»Wir sind in Feindesland«, sagte einer der Wächter. »Fast ...« Er wies mit dem Kinn auf meine noch nicht behobenen Beschädigungen.

»Nur fast«, erwiderte ich. »Ich werde mir auf der SCIMOR ein neues Ensemble von Kopfarmen zulegen. Vielleicht zehn Arme statt acht. Was meinst du?«

Der Tamaron lachte unterdrückt. Er warf die Medodecke ab. Bis auf eine lange Unterhose, die auch die Füße umschloss, war er unbekleidet. Allerdings hatten die Mediker des Weltraumbahnhofs seinen Körper mit einem flachen Exoskelett versehen, das ihn stützen und gegen unbedachte Bewegungen sichern sollte. Vetris-Molaud richtete sich wie in Zeitlupe auf, bis die Füße den Boden berührten. Eine der Wächterinnen wollte ihm unter die Arme greifen. Er schob ihre Hände sanft, aber bestimmt von sich, atmete durch, stellte sich auf die Beine, schwankte. Dann stand er sicher.

»Wann trifft diese Beraterin ein?«

»Laut Gota-Thao in etwa vier Stunden.«

Er nickte. »Sie nennen dieses Wesen Audh?«

»Ja.«

»Nur dieses oder gibt es mehrere von seiner Art?«

Ich überlegte kurz. »Es war die Rede von mehreren.«

Der Tamaron sah mich nachdenklich an. »Wo sind die anderen? Ihre Leichen?«

*

Auf Bitte des Tamarons empfing uns Kommandant Gota-Thao noch einmal und hatte Neuigkeiten für uns: Das Raumschiff, mit dem Aureni-Tarat anreiste, die Beraterin des aktuellen Virths, hatte sich vor der letzten Linearraumetappe beim Weltraumbahnhof gemeldet. Aureni-Tarat ließ ausrichten, dass sie sich über die anstehende Begegnung mit dem Tamaron freue.

Auf unsere Frage nach den anderen Audh gab sich der Kommandant wiederum zurückhaltend. Er wolle der Beraterin nicht vorgreifen. Dabei hatte ich das sichere Gefühl, dass auch sie in dieser Sache nicht sehr viel auskunftsfreudiger sein würde.

Ich sollte recht behalten.

Es versteht sich, dass der Tamaron der Landung des Kurierschiffes mit Spannung entgegensah. Vetris-Molaud meldete sich bei Lanbal. Das Kräftemessen zwischen der SCIMOR und den Raumstreitkräften der Andromeda-Tefroder war vertagt. Eine zumal von unserer Seite kluge Entscheidung, wie ich fand. Der Prototyp eines intergalaktischen Raumers war nicht als Kriegsschiff ausgelegt. Seine trotzdem vorhandene Schlagkraft hätte dem Weltraumbahnhof ebenso wie den andromedanischen Verbänden sicher Respekt eingeflößt. Schadlos überstanden hätten die SCIMOR und ihre Kreuzerflottille eine ernsthafte Auseinandersetzung allerdings kaum, zumal sie ohne Hilfe und Billigung der YEDDVEN-Tefroder nicht im Linearraum operiere konnte.

Wir verfolgten den Anflug der Beraterin über den Holomonitor in unserem Quartier. Wenige Lichtstunden von YEDDVEN entfernt traten zwei Schiffe aus dem Linearraum: ein 1900-Meter-Kugelraumer, von der Klasse, wie sie auch beim Weltraumbahnhof im Einsatz war, und ein gewaltiges Trägerschiff, das knapp über 2600 Meter durchmaß und über einen gewaltigen Ringwulst verfügte, der meinen Berechnungen nach sechs bis acht größere Beiboote im Kreuzerformat beherbergte.

Der Raumriese schwenkte in eine Umlaufbahn um YEDDVEN ein; in den frühen Morgenstunden des 24. November 1638 landete der 1900-Meter-Kugelraumer auf der nicht vereisten Plattform.

Obwohl sie eine Reise über Zehntausende von Lichtjahren hinter sich hatte, brauchte die Beraterin offenbar keine Ruhepause. Sie bat uns in einen Besprechungsraum, den Gota-Thao im Weltraumbahnhof für die Begegnung vorbereiten sollte.

Wir machten uns auf den Weg.

Der Tamaron ging voran, ich schwebte an seiner Seite. Unser Tross aus zehn Raumlandesoldaten – jeder von ihnen mit einer wissenschaftlichen Zusatzausbildung – folgte. Anderen Tefrodern begegneten wir nicht.

Fast hätte man meinen können, YEDDVEN wäre evakuiert worden. Die Wahrheit aber war nicht zu leugnen: Man wich uns aus wie einer Partei Unberührbarer.

*

Aureni-Tarat war eine alte Frau mit straffer Haut und straffer Haltung. Die Wangenknochen setzten hoch an; die Augen strahlten in einem fast unwirklichen Blau. Sie trug eine silbrige Kappe, eine weiße, eng anliegende Uniform und quer über die Brut eine handbreite, herbstlaubrote Schärpe.

Sie hatte an einer Längsseite des ovalen Tisches Platz genommen, der zwanzig Personen bequem Platz bot.

Kommandant Gota-Thao und Ousha Rikmoon nahmen hinter ihr Aufstellung. Die Assistentin trug wieder ihr Abendkleid mit dem darum geschlungenen Gürtel; auf die Schusswaffe hatte sie verzichtet, oder sie war ihr vom Sicherheitsdienst der Beraterin abgenommen worden.

Dafür waren zwei weitere Tefroder anwesend, die, wie ich vermutete, mit der Beraterin eingetroffen waren. Sie trugen Raumfahrerkombinationen und waren mit Strahlern bewaffnet, die sie in geöffneten Holstern trugen.

Neben Aureni-Tarat saß ein älterer Tefroder, hochgewachsen, dunkle, fast schwarze Haut, die zu seinem schlohweißen Haar in einem auffälligen Kontrast stand. Das weiße Haar hatte er am Hinterkopf zu einem Dutt gebunden. In seiner Art und Weise fühlte ich mich an Crest erinnert, den alten Mentor der Menschheit.

Aureni-Tarat nickte dem Tamaron zu; dann warf sie einen langen Blick auf mich. Sie machte mit der Hand eine einladende Geste, woraufhin sich der Tamaron und seine anderen Begleiter setzten.

Ich schwebte hinter Vetris-Molaud und befand mich nun Gota-Thao und Rikmoon genau gegenüber.

»Das ist Sapar-Nuhanu«, stellte sie den Mann vor, der neben ihr saß. »Wir haben euch erwartet, Tamaron. Uns war klar, dass euer Besuch unvermeidbar sein würde.«

Ich war ihr nahe genug, um ihre Hirnwellenfrequenz wahrzunehmen: Beta-Wellen, 18 bis 20 Hertz. Die Beraterin war hellwach und konzentriert.

»Unsere Verbindung zueinander schien mir zu verblassen«, sagte der Tamaron.

Die Beraterin musterte ihn eine Weile lang stumm. »Wessen Verbindung?«

»Die Verbindung zwischen den Tefrodern diesseits und jenseits des Leerraums.«

Aureni-Tarat nickte langsam und schloss die Augenlider, als müsste sie nachdenken. »Wir haben die Milchstraße unter Quarantäne gestellt«, setzte sie nach einer Weile neu an.

»Worüber weder wir noch andere Milchstraßenvölker unterrichtet worden sind«, erwiderte der Tamaron.

»Ja«, sagte die Beraterin gedehnt, als nähme sie eine altbekannte Bagatelle zur Kenntnis. Ihre Hirnwellenfrequenz erhöhte sich um wenige Hertz. »So wie wir über viele Entwicklungen nicht unterrichtet wurden.«

Der Tamaron schwieg.

Die Beraterin zeigte die Andeutung eines Lächelns. »Ich weiß ja: Manchmal ist es schwierig, Freundschaften über so große Entfernungen zu pflegen. Dabei haben wir deinen Aufstieg durchaus verfolgt.«

Vetris-Molaud hob die Augenbrauen.

»Aus der Ferne«, sagte Aureni-Tarat. Es klang beschwichtigend. »Du bist im Jahr 1455 eurer Zeitrechnung geboren, auf Gloster im Helitassystem. Seit 1514 trägst du einen Zellaktivator, wir wissen nicht genau, welcher Herkunft. Du bist 183 Jahre alt – einer der jüngsten der unsterblichen Heroen eurer Galaxis.«

Gota-Thao lachte vergnügt auf.

Die Beraterin fuhr unbeeindruckt fort: »Wir haben auch den Aufstieg deiner Tochter Saliana beobachtet, wie sie, behutsam, aber beharrlich wie ihr Vater, dich in eine Art aufgeklärten Absolutisten verwandelt hat, der dem gewählten Parlament, dem Tamanischen Rat, mehr und mehr Befugnisse eingeräumt hat.

Wir schätzen deine politische Weitsicht, deine Sensibilität, dein persönliches Geschick, wenn es um deinen Machterhalt geht und die Erweiterung der Einflusssphäre des Neuen Tamaniums.« Wieder erschien diese Skizze eines Lächelns auf ihren Lippen. »Und wir fürchten all dies.«

»Was willst du mir sagen?«, fragte Vetris-Molaud.

»Wozu bist du hier?«, fragte die Beraterin zurück.

»Die Sonnentransmitterstrecke ist nicht benutzbar«, sagte der Tamaron.

»Wir haben sie außer Betrieb gesetzt«, sagte Aureni-Tarat.

»Wie?«

»Mit unseren Mitteln«, antwortete die Beraterin kühl. »Den Mitteln des Bundes zur Stabilisierung der Verhältnisse in Karahol.«

Das Gespräch nahm, wie ich fand, eine unangenehme Wendung. Diese Eröffnung klang beinahe wie eine Kriegserklärung.

Der Tamaron blieb sachlich: »Ohne uns zu informieren?«

»Wir informieren euch jetzt.«

Gota-Thao warf ein: »Wir haben euch schon darüber unterrichtet, dass wir Karahol unter Quarantäne gestellt haben.«

»Ich erinnere mich«, sagte Vetris-Molaud.

Ich hob sacht einen meiner Kopftentakel und sagte: »Ich möchte etwas fragen, Beraterin.«

Aureni-Tarats Hirnwellenfrequenz erhöhte sich. Ihr Herz schlug schneller. Ihr Gesicht aber blieb beherrscht und unbewegt. Sie schaute Vetris-Molaud an. »Dies ist, wie ich hörte, ein Posbi. Keine bloße Maschine, sondern ein Wesen mit Persönlichkeitselementen? Spricht es für dich oder für sich?«

»Frag ihn getrost selbst«, sagte der Tamaron.

Die Beraterin nickte mir zu. »Sprich.«

»Was fürchtet ihr von der Milchstraße?«, fragte ich.

Sie betrachtete mich nachdenklich. »Alles.«

»Ist das nicht ein wenig irrational?«

Aureni-Tarat gestattete sich ein etwas längeres Lächeln, das aber ohne Freude blieb. »Weißt du, wie viele Jahre die Terraner damals in Andromeda waren, wie lange ihre Invasion gedauert hat?«

»Zwei Jahre«, antwortete ich. »Vom Januar 2404 der alten terranischen Zeitrechnung bis zum Jahr 2406. Zieht man ihre Aktionen in den Satellitengalaxien hinzu, kommt man auf sieben Jahre. Sieben Jahre maximal.«

»Sieben Jahre von 50.000, die wir Tefroder in Karahol leben; ein Sternenreich, das über die Ressourcen von knapp über tausend Sonnensystemen und Planeten verfügt, zerstört einen Sternenstaat aus 50.000 Welten. Von den Welten der vielen Hilfsvölker zu schweigen.«

Der Tamaron betrachtete die Tefroderin. »Was willst du damit sagen? Dass die Geschichte nicht fair ist? Dass der Glanz der Meister sehr viel länger strahlte als die Explosion ihrer Herrschaft in nur sieben Jahren?«

»Ich rede nicht den alten Maghanen das Wort, Vetris-Molaud. Niemand will sie zurück – weder die Maahks noch die Gaids, weder die M'saada noch die Fesoasoani, weder die Pytulum noch die Enjjo, weder die Komeuk noch die Indarrean, weder die Tabang noch die Taymakko, um nur ein paar der dreißig wichtigsten der ehemaligen 200 Hilfsvölker zu nennen – mächtige Zivilisationen damals wie heute, die den meisten Terranern nicht einmal dem Namen nach bekannt sein dürften.«

»Hilfsvölker?«, warf ich ein, »oder doch eher versklavte Völker?«

Aureni-Tarat warf mir einen irritierten Blick zu. »Natürlich haben die Meister sich damals auch mit Waffengewalt durchgesetzt, aber es war mindestens ebenso viel kluge Diplomatie im Spiel. Unsere Vorfahren sind in keine unbewohnte Galaxis eingeflogen. Sie haben zugleich als Flüchtlinge um Aufnahme gebeten und versprochen, dass sie Andromeda von den Bestien freihalten und vor einem Krieg bewahren würden.«

»Bestien, die ohne diese Fluchtbewegung kaum auf Andromeda aufmerksam geworden wären«, wandte ich ein. »Haben sie nicht also diese Bestiengefahr erst heraufbeschworen? Und vor ihnen geflohen sind die Tefroder doch, weil sie ihnen unterlegen waren – wie glaubwürdig war also dieses Versprechen?«

Aureni-Tarat sagte: »In der alten Galaxis standen unsere Vorfahren allein. In Karahol trafen sie auf etliche technisch hoch entwickelte Völker, mit denen sie eine schlagkräftige Allianz schmieden konnten.«

»Nachdem sie die Vorherrschaft der bis dahin dominierenden Maahks gebrochen hatten?«, bohrte ich nach.

Die Beraterin machte eine unwillige Handbewegung. »Wie einfach die Dinge scheinen, wenn man sie nur aus hinreichend großer Entfernung betrachtet, Posbi. Dass sich dein Volk nach den vielen Massakern, die es zu verantworten hat, bedingungslos auf die Seite der Terraner geschlagen hat, wird gewiss nicht auf allen anderen Welten eurer Galaxis Jubelstürme ausgelöst haben. Oder täusche ich mich?«

Der Tamaron beugte sich leicht nach vorne und lächelte. »Diese Allianz – wer hat sie geschmiedet? Unsere Quellen sind da etwas dürftig.«

»Faktor VII, soweit wir sehen«, antwortete die Beraterin. »Faktor VII schuf ein militärisches Bündnis gegen die Gefahr aus der Milchstraße.«

»Die«, meinte der Tamaron, »damals vermutlich nicht akut war, aber eine gute Drohkulisse abgab.«

»Wie auch immer: Diese Allianz versammelte etwa 200 raumfahrende Nationen. Als diese Sternenvölker später nach und nach zu bloßen Hilfsvölkern und Befehlsempfängern der Meister degradiert wurden, geschah dies, soweit wir sehen, nicht auf Betreiben, sondern gegen den ausdrücklichen Wunsch von Faktor VII.«

Der Tamaron hob kurz die Augenbrauen.

»Vernichtet wurden die Völker dieser Allianz jedoch nie. Ich denke: Hätte nur eines von ihnen sich gegen die Terraner erhoben, sie wären aus Karahol vertrieben worden«, sagte die Beraterin.

»Aber sie erhoben sich nicht«, sagte der Tamaron.

»Sie erhoben sich nicht. Weil sie es nicht wollten. Weil sie es den Terranern überlassen wollten, der morbiden Machtarchitektur der Meister den Todesstoß zu versetzen. Die Terraner kamen und gingen. Kulturen wie die Terraner kommen und gehen immer. Und sie hinterlassen eine Spur der Verwüstung.«

»Das klingt mir etwas voreingenommen«, wandte der Tamaron ein. »In der Milchstraße sind sie alles andere als ein flüchtiges Phänomen.«

»Wenn man das nach 3000 Jahren sagen kann, Vetris-Molaud. 3000 gegen 50.000. Du siehst die Relation?«

Der Tamaron nickte stumm.

»Bist du schon einmal auf Tefrod gewesen?«

Der Tamaron hob in Anbetracht des abrupten Themenwechsels kurz die Brauen. »Nein. Aber ich kenne eure Zentralwelt aus Aufzeichnungen.«

»Du solltest dir einmal im Leben die Metropole Vircho ansehen, 50 Millionen Einwohner! Eine Stadt wie eine Chromosphäre, glühend und licht. Die Jedewelt-Werft. Der Palast des Virths. Die künstliche Mondscheibe mit den Visionen des Virthaniums.«

»Es gibt so viele Städte und so viele Welten«, sagte Vetris-Molaud.

»Ich bin nicht auf Tefrod geboren«, fuhr Aureni-Tarat fort, wie in einen Traum versunken. Ihre Hirnwellenfrequenz dagegen signalisierte: höchste Aufmerksamkeit! »Ich bin auf Colvan zur Welt gekommen. Kein Name, den du dir merken müsstest. Gelegen im äußeren Zentrumsring von Karahol. Eine antike Rote Sonne, unter ihren Trabanten die Nummer zwei, ein lemurgroßer Planet, von zahllosen Generationen geduldig und liebevoll tefrodisiert. Lichte Wälder, breite, langsame Ströme mit lauter Goldkörnern, die wir in Tierhäuten fingen, als Kinder. Eine etwas altmodische Werft, die große Frachtschiffe in den Himmel schickte. Eine Universität, auf der ein Team von Forschern die Desintegratorkavitation weiterentwickelt hat. Woraus man auf Colvan eine erhebliche Menge Stolz schöpft.«

»Du bist in einem Idyll aufgewachsen«, stellte der Tamaron fest.

»Beinahe. Colvan ist, vor vielen Millionen Jahren, von einem Asteroiden getroffen worden. Es muss ein welterschütternder Einschlag gewesen sein. Der Krater durchmisst über 80 Kilometer, und noch heute kann man dort massenweise geschockten Quarz, Strahlenkegel und Reste von Impaktschmelzgesteinen finden.

Etwas ist mit diesem Asteroiden nach Colvan gekommen, vermutlich fremdartige RNS-Sequenzen, Bruchstücke von Ketten, dabei hoch kollaborativ. Die Tierwelt im Umkreis des Einschlags veränderte sich. Und wenigstens eine völlig neue Tierart erschien auf dem Planeten. Wir nennen sie die Vikurru. Sie sind endemisch, bis zum heutigen Tage fast ausschließlich auf das Gebiet des Kraters beschränkt, der mittlerweile stark verwittert ist. Aber trotz dieser Verwitterung verlassen die Vikurru ihr angestammtes Gebiet nicht. Es ist, als hätte jemand einen Bannkreis um ihren Lebensraum gezogen.«

»Sind sie gefährlich?«

»Sie sind schlank, sie sind schön. Sie schillern in einem metallischen Anthrazit. Ihr Leib ist lang wie mein Arm, fünffach gegliedert; sie werden von drei Flügelpaaren getragen. Sie sind gedankenschnell, lautlos. Sie jagen in Schwärmen. Ihr Biss ist toxisch. Er zersetzt das betroffene Gewebe in wenigen Augenblicken und verwandelt es in einen zähflüssigen Nahrungsbrei. Sie sehen in der Nacht nicht schlechter als am Tag. Sie orientieren sich mit Licht, mit Schall in allen möglichen Frequenzen. Und sie wittern Blut in der geringsten Verdünnung.«

»Du fürchtest sie?«, fragte ich.

»Ob ich sie fürchte?« Die Beraterin des Virth dachte nach. »Lassen wir mich aus dem Spiel, Posbi. Ich bin keine Abenteurerin. Ich bin keine Zoologin. Ich bin und bleibe Politikerin. Ich weiß kein lohnenderes Handwerk als die Politik. Ich liebe Rationalität und Kalkül. Ich liebe es, darüber zu reden, wie unsere tefrodische Gesellschaft in naher und in ferner Zukunft gestaltet sein soll und welche Funktion sie haben soll in einer ausbalancierten Galaxis Andromeda.

Ich möchte, dass meine Enkel und fernen Urenkel in dieser Galaxis unterwegs sein können ohne Furcht. Ganz gleich, ob sie einem der sagenhaften letzten Maahkraumer begegnen, einem Veränderlichen Schiff der Enjjo oder einem technifizierten Asteroiden der Indarrean, einer Gefechtseinheit der Fesoasoani, einem Walzenraumer der Gaids oder einem Einschalen-Hyperboloid der M'saada – sie sollen sich nicht fürchten. Sie sollen wissen: Die Stabilität schützt ihr Leben, und deswegen sollen sie die Stabilität behüten, zur Not mit ihrem Leben.«

»So weit, so gut«, sagte der Tamaron. »Und also?«

»Also meiden wir alles, was die Stabilität nachhaltig stören, was sie am Ende vernichten könnte. Einige unserer Wissenschaftler und Philosophen verfügen über ein sehr feines Gespür. Ich bin nur eine Politikerin. Ich habe kein solches Gespür. Aber ich traue denen, die es besitzen.«

»Und was haben deine Ratgeber gespürt?«, wollte Vetris-Molaud wissen.

»Sie haben gespürt, dass etwas zutiefst unheil ist in deiner Milchstraße. Dass etwas diese Milchstraße beschädigt hat oder verletzt, viel mehr, als ihre Bewohner bis heute ahnen.

Tamaron, wie die Vikurru auf Colvan leben im Kosmos Wesenheiten, die solche Verwundungen wittern, die das Blut einer solchen Beute spüren über Jahrmillionen von Lichtjahren hinweg.«

»Und ihr fürchtet, dass die Aufmerksamkeit, die die Milchstraße auf sich lenkt, jene hypothetischen Jäger zugleich nach Andromeda locken könnte?«

Der Tamaron ergänzte: »Was ja nicht ausgeschlossen ist. Aber auf die Idee, dass die Stabilität Andromedas sich gerade deswegen mit den Sternenvölkern der Milchstraße verbünden könnte, ist keine einzige leidenschaftliche Politikerin gekommen? Weder im Virthanium, noch in der Stabilität und all ihren Sternenvölkern?«

Aureni-Tarat löschte das Lächeln aus ihrem Gesicht wie einen Irrtum. »Die Stabilität basiert auf dem alten Bund, den Männer aus deiner Galaxis, den Atlan und Perry Rhodan mitbegründet haben. Aber dieser Bund von Sicatemo hat sich verändert. Auch in Andromeda stehen die Großen Uhren nicht still.« Sie seufzte. »Es ist zu spät, Tamaron. Und es ist zu früh. Wir haben uns entschieden, unser eigenes, großes Projekt voranzubringen – darum ist es zu spät, uns an eure Seite zu stellen. Andererseits ist die Stabilität weit davon entfernt, in sich gefestigt zu sein, stark und unerschütterlich – darum ist es zu früh, uns an eure Seite zu stellen.«

Der Mann, der mich an Crest erinnerte, räusperte sich leise. »Wir sollten den Galaktikern sagen, warum wir die Milchstraße fürchten. Mehr denn je.«

Perry Rhodan-Paket 62: Mythos (Teil2)

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