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1977

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Kurz bevor ich aus dem Haus ging, wusch ich meine Haare. Sie waren nun so lang, dass sie das Waschbecken ausfüllten. Ich griff meine Schulsachen, die ich in einer schäbigen Plastiktüte hatte, und zog meinen neuen Hirtenmantel über.

Zwei Nachmittage hatte ich in der ganzen Stadt einen braunen Hirtenmantel gesucht, aber in ganz Hannover hatte es keinen gegeben. Dieser hier war leider weiß und ging vorne nicht richtig zu. Wenn es windig war, musste ich die Arme verschränken, damit es nicht reinzog. Was soll‘s – immerhin ein echter Hirtenmantel.

Ich legte die nassen Haare über das weiße Schaffell und machte mich auf den Weg zur Schule. Es war noch ganz dunkel und die Fußwege waren überzogen mit einer frischen Schicht Puderschnee. An der Bude am Stephansplatz kaufte ich eine Flasche ungarischen Rotwein: ‚Rosenthaler Edelkadaker‘. Nur eins achtzig und dafür echt lecker. Es standen schon zwei Kerle da und kippten Flachmänner.

Ich schlitterte über die nächste Kreuzung, drückte den Korken in die Flasche und nahm einen kräftigen Schluck. Der schwere, süße Wein wärmte sofort. Jedenfalls bildete ich mir das ein. Die Scheinwerfer, der auf dem Eis kriechenden Autos, wanderten an den Wänden der Mietshäuser entlang. Auspuffgase dick und weiß.

Ich bog um die nächste Ecke und klingelte bei Paffy, den ich in letzter Zeit morgens abholte.

Weil er wieder mal nicht gleich runterkam, musste ich hoch. Fluchend stellte ich die Flasche in eine Manteltasche und hielt einen Daumen drauf, so dass sie nicht plörrte.

„Paffy ist noch nicht fertig“, sagte Paffys Mutter. Ihre Krampfader-Beine waren unschön, ihre Filzlatschen alt und ihr türkisblauer Stepp-Bademantel uralt. Sie führte mich ins Wohnzimmer. Die Eltern von Paffy hatten einen Wellensittichtick. Rölfchen und Berta flogen aufgeregt durch den Raum und krakeelten vor sich hin.

„Gestern hat unser Rölfchen ganze Geschichten erzählt“, berichtete die Mutter. Unterdessen presste Rölfchen sein Hinterteil zusammen und kackte vom Kronleuchter runter knapp neben eine Schale mit Orangenmarmelade.

„Ich seh‘ mal, wie weit Paffy ist“, sagte ich und stiefelte in sein Zimmer. Über seinem Bett hing auf einem Strick aufgefädelt seine Mercedessternsammlung und ein Poster von ‚Jethro Tull‘ aus einer ‚Bravo‘. Er bürstete ausgelassen seine langen Locken.

„Wird Zeit“, sagte ich ungeduldig.

Endlich zischten wir los. Natürlich waren wir nun spät dran und es wurde schwierig, den ganzen Wein auf dem Schulweg zu vernichten. Musste man aber, da ich ja den Korken in die Flasche gedrückt hatte. Außerdem war es schwer mit der Flasche auf dem Fußweg entlang zu balancieren, weil es unter der Schneedecke wirklich tückische Eisstellen gab. Ich reichte sie Paffy, damit er mir half.

„Ne, danke“, sagte er aber, „bin gestern abgestürzt.“ So musste ich auch noch alles alleine trinken!

Weil grad‘ eine Straßenbahn anzuckelte, fuhren wir eine Station, natürlich schwarz. Das brachte zeitlich zwar nicht viel, aber immerhin.

Wir hetzten weiter. Kurz vor der Schule stürzte ich den restlichen Wein runter und stellte die leere Flasche auf die Mauer der Mädchenschule, die gleich neben unserer war.

Drinnen war prima geheizt und weil es sich so komisch anfühlte, fasste ich mir an den Kopf. Meine Haare waren zu Strähnen zusammengefroren. Schock! Wenn ich dagegen kam, brachen sie ab.

Tobias hatte mir einen Brief geschrieben. Also rief ich ihn an und wir verabredeten uns.

Die Wohnung war viel größer, als ich sie von der Party in Erinnerung hatte. Es roch gemütlich. Wir gingen in Tobias‘ Zimmer. Er hatte dicke Wollsocken an und ich musste meine Latschen auch ausziehen.

Wie bei mir, war die Gestaltung des Zimmers eins der wichtigsten Dinge. Unter dem Fenster einige Matratzen, ein Bett, ein dicker Teppichboden. Die eine Wand war eine einzige Wandcollage, die vom Boden bis zur Decke reichte. Tausende witziger, pornographischer, schriller, wüster Bilder, zusammengeklebt zu einem Gesamtding. Viele Bilder waren aus ‚Playboy‘ oder ‚Mad‘. Aber dazwischen klebten auch private Fotos, Figuren und Plakate. Echt stark.

Das Loch im Teppich, das Silvester durch die schröggelnde Lederjacke entstanden war, war mit einem Bücherregal verdeckt.

Tobias holte aus der Küche Mandarinentee und entfachte Räucherstäbchen. Wir besichtigten die Kakteen auf seinem Fensterbrett. ‚Livin Blues‘ spielte einen herzzerreißenden Blues.

„Den hier habe ich in einem Blumenladen am Steintor geklaut“, erläuterte er, „den kleinen Racker mit den langen Stacheln auch. Dieser Racker hier drüben kommt aus einem Blumenladen um die Ecke. Diese roten hier, habe ich im Berggarten abgemacht.“

Wir setzten uns im Schneidersitz gegenüber und probierten den Tee.

„Dufte“, sagte ich.

„Ja, knorke“, sagte Tobias.

Inmitten der Wandcollage hing ein Zettel auf dem stand: „Vertrag: Bei ihrer Vorhaut schwören Yogi und Tobias nie im Leben Zigaretten, Zigarren oder Pfeife zu rauchen.“ Drunter waren die Unterschriften.

„Ich hatte mal mit Lene die Abmachung getroffen, dass wir eine Woche keinen Alkohol trinken“, sagte Tobias, „aber sie hat sich nicht dran gehalten. Deshalb mache ich nur noch schriftliche Verträge.“

„Wie lief das überhaupt mit Lene und dir?“ fragte ich neugierig.

„Ich habe viele ganz super Erinnerungen an sie“, sagte er zögerlich.

„Wie lange wart ihr zusammen?“

„Ungefähr ein halbes Jahr und ihr?“

„Auch ziemlich genau ein halbes Jahr“, sagte ich.

„In meinem psychologischen Ratgeber steht, dass Teenagerbeziehungen im Schnitt immer ein halbes Jahr halten. Scheint zu stimmen“, sagte er nachdenklich.

„Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?“ fragte ich weiter, schließlich hatte ich überhaupt nicht mitgekriegt, wie er mir Lene ausgespannt hatte.

„Ich hatte Elke vor dem Haus der Jugend getroffen. Da hab‘ ich sie gefragt, wo Lene ist.

‚Zu Hause‘, hatte sie geantwortet. Da dachte ich, ‚die Arme, muss an einem Samstag allein zu Hause sein, das ist doch nicht richtig.‘ Also bin ich hingedüst und habe sie abgeholt. Wir sind dann zum Maschsee und haben auf Bänken rumgesessen und den Enten zugesehen. Richtig dufte.

Dann waren wir auch schon zusammen. Wir haben uns nachmittags in der Stadt getroffen und Gurken und Melone gegessen. Sehr dufte.

Ich habe zwei Ringe aus Draht gebastelt und als wir an einem Juweliergeschäft vorbeikamen, bin ich schnell reingesprungen. Ich habe den Verkäufer nach der Uhrzeit gefragt. Höhö. Dabei kramte ich dann die Drahtringe vor, ging wieder raus und steckte sie uns an. Hat sich super gut angefühlt.

Knorke war auch, als wir mal auf einer Lichtung im Wald auf einer Decke saßen. Wir kabbelten so rum und irgendwann waren wir völlig nackt. Ich hatte hunderte Mückenstiche gekriegt. Hinterher waren wir hier und haben Rum getrunken. Natürlich viel zu schnell, viel zu viel. Lene war dann ganz blau und wir duschten eine Stunde zusammen, bis es ihr wieder besser ging. Ich musste ihr immer wieder versprechen, sie nicht zu vergewaltigen, was ich ja auch nicht gemacht habe.

Danach wurde es irgendwie komisch. Sie versetzte mich öfters und ich fragte mich warum. Du kennst das wahrscheinlich, wenn man so eine Weile zusammen geht, interessiert man sich mehr und mehr dafür, was der andere macht und nicht so sehr dafür, wie er ist. Jedenfalls, oft stimmte es nicht, was Lene sagte. Zum Beispiel sagte sie letztes Jahr beim Altstadtfest, dass sie nicht könne, weil sie mit ihren Eltern nach Ratzeburg fahren müsse. Ich traf sie dann aber. Sie sagte nur, sie habe doch nicht mit nach Ratzeburg gemusst. Hätte sie ja auch mal anrufen können, oder?“ Er machte eine Pause und legte Genesis ‚The lamb lies down on broadway‘ auf.

„Dann lernte ich Carmen kennen und dachte, ‚Wow, es gibt auch noch andere süße Millies‘. Also habe ich mit Lene Schluss gemacht. Es war an einem Sonntagnachmittag bei ihr zu Hause. Ich sagte es ihr und sie sagte, dass sie auch gerade mit mir Schluss machen wollte. Na ja. Wir lachten dann ewig - bis Elke reinkam und fragte, was los sei. Die hat vielleicht blöd geguckt, als wir ihr sagten: ‚Nö nichts, wir haben nur gerade Schluss gemacht!‘

Aber wie war es bei dir? Erzähl du jetzt“, sagte Tobias.

Ich erzählte meine Geschichte vom Altstadtfest und alles andere.

Anschließend schwiegen wir lange. Wir waren aufeinander eifersüchtig und gekränkt. Tobias‘ blaue Augen waren fest auf eine Kerze gerichtet. Wir vereinbarten, in Zukunft nur noch, wenn es sich nicht vermeiden ließ, über Lene zu reden.

Tobias‘ Mutter kam und begrüßte mich. Prima Mutter. Wir kriegten Schwarzbrot mit Salami und Senf. Tobias und ich schrieben einen Vertrag:

„Bei Lenes Lächeln und ihren super Busen werden unterzeichnende Personen ihre Unschuld nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Wir werden den ersten Sex in unserem Leben so lange wie möglich hinauszögern. Denn Sex ist eine Sucht, schlimmer als Heroin oder Alkohol. Sex führt zu Verblödung, Abstumpfung, kaputten Ehen und Kindern. Alle die einmal Sex hatten, sind verblendet.“ Unterschriften. In die Collage geklebt - fertig.

Als es Zeit wurde, mich vom Acker zu machen, lud ich Tobias zu meiner Geburtstagsparty ein.

Für die Geburtstagsparty kaufte ich Bier und Chips von ‚Knappheide'. Ich astete zwei Kästen auf einmal die Rimsockstraße entlang. Das reißt einem ja die Arme ab! Beim nächsten Gang nahm ich lieber nur noch eine Kiste.

Die Leute vom Säuferkollektiv knallten sich hin und hatten Spaß. Mein Zimmer wirkte unheimlich voll mit den bulligen Kerlen. Elke und Heike waren auch da. Alle gaben sich die Kante, weil ja schön viel Bier da war.

Tobias brachte Schröder und Karine an. Karine behielt ihren Parka an. Schröder war ein Kumpel aus Tobias Grundschule. Er war Klempner. Deshalb erzählte er allen, die es nicht hören wollten, aus seinem Berufsalltag:

„Ich schraube die Rohre unten im Keller auf, dann kommt tonnenweise die Scheiße raus. Dann frühstücke ich erst mal. An den Gestank gewöhnt man sich. Das lasse ich mir gut bezahlen.“

Tobias ging das Gelabere auf den Sack, deshalb zuckte er mit Heike, Karine und ein paar anderen los zu einer anderen Fete.

Ich hatte nun den Schröder am Hals.

Und Sylvia die Kretsch angeschleppt hatte. Die hatte den totalen Knall. Sie fing damit an, Ecken aus Gläsern zu beißen, darauf rumzukauen und das Glas in ihrem Mund knirschen zu lassen. Zwischendurch knutschte sie mal einen ab, aber alle hatten Angst vor den Scherben, besonders ich, weil ich ja eine Scherbenphobie habe. Ich kriege schon einen Kloß im Hals, wenn an einem Glas auch nur eine winzige Ecke fehlt.

Bald hauten alle anderen ab, bis auf eben diese Sylvia, die sich auf meinem Bett ausstreckte. Als ich glaubte, sie wäre eingeschlafen, legte ich mich auch ab - direkt neben sie. Was sollte ich auch sonst tun? Aber die Schnepfe fing an, an mir rumzumachen. Sie hatte nun keine Jeans mehr an und rieb ihren ekligen Plastikschlüpfer an meinem Schenkel. Ich stellte mich schlafend, bis sie sich über mich lehnte und ihre ledrige Zunge in meinen Mund presste. Als sie es geschafft hatte, biss sie so fest sie konnte in meine Zunge. Ich schrie auf.

„Lass das! Bist du verrückt!“ fuhr ich sie an. Unbeeindruckt rollte sie sich zur Seite.

Ich legte mich auch wieder hin und döste weg. Schnell wachte ich erneut auf, weil sie wie eine dicke Flunder auf mir lag und mich wieder in die Zunge biss.

„Jetzt reicht‘s!“ schrie ich verärgert, „raus jetzt! Hau ab!“

Sprittig wie sie war, musste ich sie anziehen und nach unten auf die Straße bugsieren. Sie wollte Terz machen und alle Klingeln im Haus drücken, also blieb mir nichts anderes übrig, als sie zur Straßenbahnhaltestelle zu bringen.

Sie saß auf dem Gepäckträger meines Rads, kreischte bei der Fahrt und flog wie ein Sack runter. Dann riss sie so an mir rum, dass es uns beide in eine Vorgartenhecke haute. Aber ich kriegte sie bis hin.

Es war wohl gegen vier Uhr, aber nach Fahrplan fuhr die erste Bahn erst um fünf. War mir egal. Ich ließ sie dort sitzen und brauste zurück.

In meinem Zimmer hockte ich mich zwischen die Müllhaufen und guckte mir zu ‚Genesis‘ ‚Foxtrott‘ die Dämmerung an. Auf den Matratzen und dem Teppich waren nasse Flecken und es stank trotz des offenen Fensters höllisch nach Bier, Rauch, Kotze und Schweiß. Die Zunge war zwar lädiert, aber nichts Schlimmeres.

Ich war mit Yogi und Tobias auf dem Flohmarkt verabredet. Wir lungerten am Turm rum. Lene und ihr neuer Freund auch. Nach einer Weile sprach Lenes Schnösel Tobias an:

„Tut mir leid, dass dich Lene manchmal wegen mir versetzt hat. Das hätten wir nicht tun sollen.“ Tobias hätte ihm am liebsten eine verpuhlt (hätte er aber garantiert den Kürzeren gezogen).

„Wenn ich was wirklich hasse“, erwiderte er grinsend, „dann ist es, sitzen gelassen zu werden. Aber belogen zu werden, ist auch reichlich blöd.“ Ohne ein weiteres Wort rauschten sie ab.

Wir schlenderten eine Runde. War ätzend. Also zuckten wir los zur ‚Pennerbank am Brunnen‘ (ein neuer Treffpunkt des Kollektivs). Weil Yogi kein Rad hatte, schoben Tobias und ich unsere. Im Maschpark machten wir Halt und tranken einen Halben am Teich.

Vier Rocker fetzten an. Völlig ohne ersichtlichen Grund packte einer von ihnen Yogi an seinen dünnen Haaren und schüttelte ihn und schleifte ihn daran über die Wiese. Die anderen passten auf, dass Tobias und ich gar nicht erst aufstanden. Yogi jaulte auf vor Schmerzen und da hatte der Kerl ihm ein großes Haarbüschel ausgerissen, das er in den Tümpel warf, wo es wie blondes Entennest umhertrieb. Dann machten sie sich vom Acker.

Yogi wimmerte. Ein Viertel seiner Haare fehlte. Er ließ sich nicht davon abbringen, die Bullen zu holen. Also suchten wir eine Telefonzelle.

Als zwei Polizisten kamen, machten sie nichts weiter, als einen Krankenwagen zu rufen.

Die Erstehilfeleute des Krankenwagens wiederum packten Yogi ein und düsten los. Die zwei Polizisten wollten dann noch alles ganz genau wissen, kritzelten was in ein Büchlein und entließen uns.

Tobias und ich stiegen auf unsere Räder und rasten wortlos zur Pennerbank. Da saßen Bonzo und Kretsch. Denen erzählten wir, was passiert war und Bonzo schlug wütend den Hals einer Weinflasche ab und Tobias und ich schütteten das Zeug auf Ex in uns rein. (Kostete mich starke Überwindung, wegen meiner Glasscherben-Phobie.) Kretsch erhob sich, öffnete wie selbstverständlich seinen Hosenladen inmitten der Mütter und ihrer am Wasser spielenden Kinder und pisste in den Brunnen. Schimpfend räumten sie das Feld.

Tobias und ich zischten zu Tobias, der sturmfreie Bude hatte. Wir knallten die Heimorgel bis zum Anschlag hoch und ‚rockten‘ - dazu Ananastee und geglotzt.

Nachts ins ‚Apollo‘ Kino gedüst und zu Pasolinis ‚120 Tage von Sodom‘ gebechert.

Hinterher völlig ausgerastet. Durch die Stadt bis zur Eilenriede getobt. Noch mehr gesoffen. Mitten auf die Straße gelegt. Leute angeschrien. Barrikaden errichtet.

Dann war totale Ruhe.

Meschan, Shorty, Kretsch und ich jockelten abends in einem ‚geliehenen‘ VW-Bus los nach Köln. Schnell waren alle gefährlich betrunken. Auf einem Autobahnparkplatz schliefen wir dann. Wir mussten alle drinnen schlafen, weil es arschkalt war. Das stank mächtig.

Am nächsten Morgen in Köln, das Wetter war für Juni wirklich säuisch, kauften wir als erstes einen Kasten Bier, mit dem wir den Kölner Dom besichtigten. Gut angetörnt hatten wir unseren Spaß mit den Besuchern des Doms. Nach ein paar Warnungen hatten die Domheiligen die Schnauze voll von uns und warfen uns raus.

Wir hatten vor, bei einem Open Air Konzert, bei dem ‚Genesis‘ als Hauptgruppe spielen sollte, umsonst reinzukommen. Es fand in einem Radrennstadion statt. ‚Manfred Manns Earth Band‘ spielte zuerst. Wir lungerten auf dem Parkplatz rum (es hatte endlich aufgehört zu schiffen) und hatten den dritten Kasten in Arbeit und ich war reichlich blau, wenn nicht sternhagelvoll. ‚Manfred Mann‘ war mäßig und ‚Gentle Gaint‘, für die ich vielleicht sogar bezahlt hätte, fielen aus.

Mein Alter hatte mir aus seinem Amt Fraß aus Bundeswehrbeständen besorgt. Das Zeug würgte ich mir rein. Dann zechte ich mit den Jungs weiter. Aber schnell wurde mir kotzschlecht und ich verbrachte den Nachmittag in den Büschen.

Als ‚Genesis‘ anfing, wurden die Tore aufgemacht. Das war natürlich superdufte. Besoffen wie ich war, verlor ich Meschan, Shorty und Kretsch im Getümmel. Ich setzte mich ganz oben in das Stadion. Die Musik war astrein - ein spirituelles Erlebnis. Die Sterne am Himmel, die Lightshow und das Lichtermeer aus Feuerzeugen und Wunderkerzen - echt toff.

Im Morgengrauen erwachte ich wieder auf dem Autobahnparkplatz. Als wär‘ ich gar nicht in Köln gewesen. Null Erinnerung daran, wie ich die anderen wiedergefunden hatte und wie wir hierher gefahren waren. Die anderen ratzten. Es stank bestialisch. Meine Knie waren ganz weich, der Magen rebellierte und mein Herz jagte. Ich kletterte umständlich raus und schlug die Schiebetür zu.

Hinter dem Parkplatz war ein kleiner, schwarzer See. Es fing gerade an zu dämmern und dicke Nebelschwaden krochen aus dem Wasser. Ich trabte los, um den Schüttelfrost loszuwerden, steigerte mich rein und rannte schließlich, bis mein Körper taub wurde.

Als ich um den See rum war, wachten auch die anderen auf. Wir würgten uns ein Bier rein und düsten zurück.

„Ihr müsst unbedingt mal kommen und den Eierlikör meiner Mutter probieren. Sie macht den besten Eierlikör der Welt“, hatte Astrid aus meiner Klasse versprochen und einen Schmollmund gezogen. Ihre Zottelhaare bis über die Ohren waren auch sehr knuffig.

Da Sommerferien waren, holten Tobias und ich sie in einem Zentrum für geistig Behinderte ab, in dem sie jobbte. Die Behinderten, die sie betreute, mussten im Akkord Plastikdeckel von hinten in leere Füllerpatronen stöpseln, was irgendwie fies wirkte.

Astrid führte uns in die Kantine und wir mampften schrottiges Schnitzel. Danach ging‘s mit der Bahn nach Döhren zu Astrid nach Hause.

Wir quetschten uns auf eine harte Eckbank in der Küche. In den hellen Sonnenstrahlkegeln wehte nur ein ganz klein bisschen Staub. Martin, der ja auch in meiner Klasse war, kam auch. Er wohnte gleich um die Ecke, sonst hätte er es bestimmt nie geschafft zu kommen. Wie konnte er nur Hawaiihemd tragen - würg!

Die quirlige Mutter setzte uns den Eierlikör vor. Sie hatte hunderte Liter von dem Zeug in der Badewanne gepanscht. Ein altes Rezept von der Oma und so weiter, mit echter Vanille und echten Eiern. Aber ganz lecker, knallte auch ganz dufte. Aber sie fragte uns blödes Zeug über die Schule und was wir mal werden wollten und so. Das nervte richtig, weil wir so nicht mit Astrid flirten konnten.

Deshalb haute Tobias ganz plötzlich ab. Hätt‘ er mich ja mal mitnehmen können! So musste ich anstandshalber noch ne halbe Stunde länger bleiben. Dann fetzte ich aber auch los. Martin blieb noch, weil er nichts gegen Mütter hatte - der Arme.

Nachts, ich hatte schon gepennt, klingelte es Sturm. Es war zwei Uhr. Muttern kam aus dem Schlafzimmer vor und fragte wütend: „Was ist das denn?“

Woher sollte ich das denn wissen? Ich sah aus dem Fenster nach unten. Tobias - er schwankte im Stehen. Ich bediente den Summer und versuchte Muttern zu beruhigen.

„Also, so was! Seid wenigstens leise“, stöhnte sie und ging wieder ins Bett.

Tobias‘ Kleider waren triefend nass.

„Ich war in den Kiesteichen baden“, rief er belustigt.

„Schscht“, fauchte ich, „nicht so laut.“

„Das war affengeil. Alleine und das viele schwarze Wasser um mich, richtig irre“, sagte er etwas leiser.

„Eierlikör oder Bier?“ fragte ich ihn.

„Bier“, sagte er und wir prusteten, weil uns der Eierlikör zu den Ohren heraushing.

Ich legte von ‚Peter Hammill‘ ‚Over‘ auf, aber nur ganz leise.

„Warst du bis jetzt unterwegs?“

„Klar. Von Astrid bin ich zu Carmen. Ihre Freundin war auch da. Die ist auch ne prima Millie. Wir haben Wein und Bier getrunken. Dann sind Carmen und ich in die Eilenriede gezischt. Da haben wir einen wegen Reparaturen in Holz eingepackten Brunnen gefunden. Konnte man von oben reinklettern. Haben wir gemacht. Wir konnten uns nicht sehen - nur fühlen. Die Hände sind gewandert. Als Leute von draußen kamen, haben wir gerufen: ‚Verschwindet, hat man denn nirgends seine Ruhe!‘ War echt dufter Fun. Dann musste Carmen nach Hause. Seitdem besuche ich weiter Leute. Macht echt Spaß, alle aus dem Bett zu klingeln. Als nächstes sind Stine, Karin und Christiane dran.“

Es waren Sommerferien und Tobias und ich fanden alles total öde. Alle waren verreist. Auch Tobias Eltern! Der einzige Lichtblick.

Schon ab 11 brieten wir bei ihm auf dem Balkon in der Sonne. Zwischendurch zischten wir Cola.

Nachmittags mampften wir Ravioli mit Tabasco und radelten zu ‚Boots‘ einem neuen Plattenladen. Ich kaufte mir eine Scheibe von ‚Birth Control‘ und eine von ‚Gentle Giant‘.

Wir machten Halt im ‚Maulwurf‘, einer Drogenkneipe in der Lavesallee. Dröge Pinte, Musik von den ‚Doors‘, olle Holztische, Kerzen, hellgelbe Wände, wirklich das allerletzte. Shorty war da. Er zeigte uns einen LSD-Trip. Ein kleines putziges Ding. Der hatte es nötig.

Weil er immer noch nicht kapierte, dass er uns nicht beeindrucken konnte, zeigte er uns seinen neuen Ohrring.

„Wollt ihr euch nicht auch ein Loch stechen lassen. Das sieht gut aus“, sagte er.

„Ich falle lieber mit meiner Intelligenz auf, als mit Äußerlichkeiten“, ballerte Tobias ihm vor den Bug. Beleidigt drehte er sich zur Seite und wir zogen weiter.

Auf dem Schützenfest verdrückten wir ne Bratwurst und vernichteten ne Lüttje Lage. Der Schnaps, der eigentlich ins Bier darunter laufen sollte, landete voll in meiner Fresse. Tobias lachte dreckig.

Wir wollten Lene besuchen. Pech. Es war nur Elke da und die wollte gerade gehen. Also zuckten wir wieder los.

Unten vor meiner Haustür stand Meschan und fummelte an der Vespa rum. Zusammen gingen wir zu mir hoch, tranken Tee und hörten die neuen Platten. Beide recht dufte. Dabei muckelte jeder für sich alleine rum. Ich las von ‚Sartre‘ ‚der Ekel‘. Meschan blätterte den ‚Stern‘, was er immer bei uns machte und weshalb ich ihn in letzter Zeit nur noch selten einlud. So ein Langeweiler. Tobias schrieb Tagebuch.

Abends hängten wir Meschan wieder ab und düsten zu meinem Alten. Der war zum Glück nicht da. Aber ich hatte die Erlaubnis, wann ich will, zu kommen und mich zu bedienen. Ich fischte Bier aus dem Kühlschrank und wir glotzten einen Jerry Lewis, der gerade in der prachtvoll großen, neuen Glotze lief. Der Wodka und Rum turnte auch ganz gut.

Tobias wurde dann nölig. Es war ja auch ein echt klebriger Tag gewesen, aber er ließ es an mir aus.

„Ich muss dir mal sagen, dass du einfach nicht genug Leute kennst. Du sitzt immer nur zu Hause rum und liest“, meckerte er.

„Na und? Schließlich gehen mir Leute auch oft auf den Senkel. Dir doch auch“, konterte ich.

„Stimmt, aber ich versuche wenigstens mit ihnen auszukommen. Du dagegen bist Leuten gegenüber feindlich eingestellt und stößt ihnen dauernd vor den Kopf. Außerdem bist du unsicher. Das merken die Leute“, motzte er weiter.

„Und du bist perfekt, oder was? ‚Carnegie‘, das ist doch Schund!“ blaffte ich zurück. D. Carnegie: ‚Wie man Freunde gewinnt‘, war Tobias‘ ‚Bibel‘. Er hatte das Buch irgendwann mal im Kaufhaus auf dem Grabbeltisch gefunden und schon drei Mal gelesen.

„Jedenfalls perfekter als du“, sagte er, „und ich arbeite weiter daran.“ Dazu sagte ich nichts.

Weil wir uns so langweilten, trampten wir zwei Tage später einfach los: Deutschland angucken.

Zuerst nach Kassel. Dort lief die Kunstshow: Documenta 6. Ganz dufte. Auf Wiesen gesessen und Persiko getrunken. Kritzelbilder gemacht und an die Wände zwischen die anderen Bilder gehängt und die Reaktionen der Leute beobachtet. Nachts auf einer Schaukel in einem Park Bier gebechert. Dabei wild geschaukelt. Tobias verlor sein Geld und den Pass. Lange krochen wir mit einem Einwegfeuerzeug rum, bis wir alles wiederfanden. Dann war es aber schon nach elf und wir mussten in die Jugendherberge einbrechen, um in unsere Betten zu gelangen.

Am nächsten Tag ging's nach München. Die ganze Strecke mit nur einer Hippieschleuder: ‚Ford Transit‘. Bergauf verreckte er fast immer.

In München stiefelten wir als erstes in einen 'Wienerwald', lasen Zeitungen, die wir vorher aus so Kästen geklaut hatten und schlugen uns die Bäuche voll.

Einen ganzen Tag lungerten wir im Deutschen Museum rum. Kostete nur eine Mark Eintritt. Dafür gab es eine Menge knorker Vorführungen.

Nürnberg war doof: Studenten in Sandalen.

In Würzburg waren wir im Kino: ‚die Welt in zehn Millionen Jahren‘, ein Zeichentrickfilm. Recht dufte. Das Weizenbier später turnte auch gut - in der ‚Hühnerdiele‘. Höhö.

Von Würzburg aus latschten wir die Landstraße entlang nach Estenfeld, weil da erst die Autobahn war. Wir waren angekotzt, weil es ewig weit war. Nach der letzten Tanke hatte die Landstraße außerdem keinen Weg mehr an der Seite. So stolperten wir also im Graben lang. Plötzlich lag vor uns ein Geldschein. Ich bückte mich und hob ihn auf. Dann bückte sich Tobias. Wir steckten das Geld weg und sahen uns um. Die Autos rauschten an uns vorbei, die Fahrer beäugten uns. Wir suchten noch etwas den Graben ab, aber nicht lange.

Auf der Autobahnauffahrt sahen wir vorsichtig in unsere Taschen: ein Tausender und einen Hunderter. Wow!

Bis nach Göttingen brauchten wir drei Karren. Dort stiegen wir in einem Hotel ab. 34 Mark, ganz schön happig. Aber wir hatten es ja.

Vor der Glotze tranken wir eine Flasche Schlehenfeuer (Wildfruchtlikör). Davon waren wir schnell breit und gingen Steak mampfen. Hinterher zogen wir durch ein paar Kneipen.

Die Flasche Portwein, die wir auch noch gekauft hatten, entkorkten wir erst am nächsten Morgen im Zug nach Hannover.

Am darauffolgenden Samstag trafen wir uns auf dem Flohmarkt. Tobias kaufte sich ein Mainzelmännchen aus Gummi, die er neuerdings sammelte. Lene sahen wir auch. Sie hatte schon wieder einen neuen Freund im Arm. Diesmal ein älterer.

„Wie kann man nur so mit seinen Gefühlen rumschmeißen“, kommentierte Tobias das. Aber wir waren natürlich nur voll eifersüchtig.

In der Stadt gönnten wir uns, in Erinnerung an die dufte Reise, ein Bier und ein Heringsbrötchen von ‚Nordsee‘. Dann zuckten wir zu ‚Brinkmann‘ (Elektrokaufhaus) und ich kaufte mir einen neuen Verstärker. 598 Mark mit Boxen. Reichlich teuer, aber ein echt gutes Teil. Wir fuhren zu mir, schlossen alles an und hörten Platten.

Elfte Klasse. Kurssystem. Das ich mal so weit käme, das hatte niemand erwartet, ich sowieso nicht. Eigentlich auch nur weil ich in das Caesarbuch: ‚De Bello Gallico‘ eine kleine Übersetzung geklebt hatte. Ich hatte schön viele Fehler eingebaut und schüchtern gestottert. Nicht so Lex, der mit der selben Methode aufgeflogen war und abgehen musste. Er hatte heftig protestiert und gesagt, dass ich auch geschummelt hätte. Aber die Lateinlehrerin hatte gesagt, es wäre immer noch ihre Sache, das zu beurteilen, und wenn sie etwas nicht ausstehen könnte, so wäre das petzen. Rache ist Blutwurst.

Aufgeregt stellte ich mich in eine der Schlangen, um mich in Kurse einzutragen. Begeistert begaffte ich die supervielen neuen Millies. Die Schule war jetzt richtig voll damit.

„Hallo“, sagte jemand hinter mir.

Ich drehte mich um und überlegte, wer sie war.

„Kennst du mich noch?“, fragte sie und lächelte frech. „Es ist schon ein paar Jahre her, bei ‚Arminia‘.“

„Ach ja, Stella, die Freundin von Shorty“, rief ich.

„Mit Shorty bin ich schon längst nicht mehr zusammen.“

Hätte ich auch gewusst, wenn. Ich musterte sie. Sie sah jetzt völlig anders aus, trug ein Hippie-Outfit, wie ich. Die albernen Stiefel und den Minirock konnte man sich an ihr nicht mehr vorstellen.

„Gehst du jetzt hier zur Schule?“ fragte ich sie.

„Ja, Sabine und ich kommen von der Realschule. Jetzt wollen wir Abitur machen“, sagte sie und die pummelige Sabine neben ihr nickte.

wie Hulle

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