Читать книгу wie Hulle - Peter Baldinger - Страница 13

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Wir hatten viel Spaß. Ich erklärte den beiden, wo alles war und wie alles funktionierte. Sie ließen das gerne mit sich machen.

Stella trug sich in einen Mathematik-Leistungskurs ein. Ich hatte mir felsenfest vorgenommen, die leichtere Variante mit Biologie zu wählen. Aber da ich schon hoffnungslos verliebt war, trug mich ebenfalls für Mathe ein.

Der Alte jubelte begeistert.

In der nächsten Woche war die erste Mathestunde. Ich wartete vor der Klasse auf Stella. Als sie kam, tat ich so, als wäre ich auch gerade gekommen. Wir betraten zusammen die Klasse, nein, sie schwebte mit ihrem grazilen Körperchen, kleinem Po und kleinen aber bestimmt prima Busen, und wir setzten uns so 'ganz automatisch' nebeneinander. Ich war nun schon in jede Winzigkeit verliebt: wie sie roch, aß, trank, ging, den Stift hielt, den Anorak auszog – einfach in alles. Vor Herzklopfen kriegte ich kaum mit was Lehrer Weindorf alles vom Stapel ließ. Nämlich, dass ein Matheleistungskurs richtig harte Arbeit sei. Ich grinste nur und Stella lächelte zurück und sah mir volle Pulle in die Augen. Ein tolles Lächeln, besonders durch den kleinen Leberfleck über ihrer Lippe - aber: nicht ganz so süß, wie das von Lene.

In der Pause verabredeten wir gemeinsames Hausaufgabenmachen. Hurra!

Tobias kam und wir hörten ‚Still Life‘ von ‚Van der Graaf Generator‘. Dazu leerten wir etliche Halbe und ne halbe Flasche Persiko.

Dann wollten wir zu Uwe (von meiner Schule) zucken. Die Tee-Treffen bei Uwe hießen neuerdings ‚Meetings‘. Es goss in Strömen. Ich also aufs Rad gesprungen. Aber Tobias stellte sich erst mal an die Hauswand und pullerte. Das kriegte natürlich der Hausdrachen mit, riss das Fenster auf und schrie rum. Ich verdünnisierte mich und hoffte, dass sie mich nicht gesehen hatte. Am Ende der Rimsockstraße wartete ich. Aber Tobias kam nicht nach. Also gaste ich wieder zurück. Auch nichts. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Ich durchforstete noch eine Weile die Seitenstraßen, dann fuhr ich alleine zu Uwe. Komischerweise war er da auch nicht. Aber dafür Sabine und Stella. Durchnässt setzte ich mich zu ihnen. Uwe schenkte mir in einem übertriebenen Schneidersitz Tee ein. Das wirkte yogamäßig gelenkig, aber auch nach Käsefüßen. Er hatte einen monströsen Eiterpickel auf der Stirn.

Eine Stunde später kam Tobias doch noch. Er sagte, er habe sich verfahren, sei schnell nach Hause gerast, habe auf den Stadtplan geguckt, wo Uwe wohne und sei wieder los. Banane!

Als der Regen nachließ, brachen wir auf zu einer ‚Meditationsveranstaltung‘. Darunter konnte ich mir überhaupt nichts vorstellen. Aber weil Stella hinwollte, wollte ich selbstverständlich auch hin. So simpel war das!

Unterwegs knallte ich mit dem Rad gegen eine Autotür, die ein Depp aufgerissen hatte. Überlebte ich gerade so, aber mein Bein tat höllisch weh.

In der Schule in der die Veranstaltung stattfand, hockten hunderte Meditationswilliger auf dem Turnhallenboden. Einer im Anzug ging ans Mikrophon und begrüßte die Leutchen. Dann ging‘s los:

„Hinlegen!“ Alle gingen runter.

„Der rechte Arm wird leicht und kreist dabei herum." Alle machten das.

„Seht nach rechts ins Leere!“ Alle befolgten es.

Sehr schnell war man ganz benebelt. Ich jedenfalls und die Schose wirkte auf mich wie Massenhypnose.

„Grütze“, rief ich deshalb dazwischen.

Sofort kamen zwei Brechertypen an und griffen mich an den Armen. Tobias sprang auf und rief:

„Das hier ist doch faschistischer Müll! Wir wollen Redezeit am Mikro!“

Die Ordner sagten sogar, sie würden sie uns einräumen, wenn wir nur friedlich mitkämen. War natürlich nur ein billiger Trick, um Tobias und mich näher zum Ausgang zu lotsen.

Auf ein Zeichen hin rissen wir uns los und flitzten zum Mikrophon. Aber neue Ordner kamen hinter der Bühne vor und bremsten uns. Zu sechst trugen sie uns raus.

Vor der Tür machten sie den Fehler uns loszulassen. Sofort rannten wir wieder rein. Diesmal schafften wir es bis zum Mikrofon und Tobias schrie:

„Wir finden diese Veranstaltung hier wirklich Kokolores! Wir fordern Sprechzeit! Warum diese Gewalt? Fürchtet man sich davor, was wir zu dieser Veranstaltung zu sagen haben?“

Dann mussten wir dringend den Rückzug antreten.

Draußen hörten wir noch, wie jemand „Terroristen“ brüllte.

Echt lustig. Ich hoffte nur sehr, sehr, sehr, dass Stella nicht eingeschnappt war. War sie aber - etwas.

Tobias und ich trampten nach Nienburg zu einem Open Air Rockfestival. Da spielte als erstes die ‚Peter Koller Group‘. Es fing an zu regnen und plötzlich brach der Gitarrist zusammen. Der war vielleicht tot, weil er einen Schlag gekriegt hatte. Es gab erst mal eine lange Pause und die Atmosphäre war total verpupst. Dazu schüttete es wie aus Kannen. Shorty, Kretsch, Bonzo, Elke, Stine, Thorsten, Meschan und Suse trudelten ein, als eine andere Band spielte. Die Musik war echt nicht so gut. Also quatschten Tobias und ich ein bisschen.

„Bei uns dreht sich alles immer mehr um Frauen, oder?“ sagte Tobias.

„Das stimmt. Aber so ist das halt. Ich interessiere mich im Augenblick sehr für Frauen“, sagte ich. Ich meinte damit Stella.

„Neuerdings interessiere ich mich auch für Landschaften“, sagte Tobias.

„Landschaften?“ lachte ich.

„Ja, Landschaften im weitesten Sinne sind echt doll. Ich finde plötzlich Städte, Stadtteile, Gebäude, Wiesen und Berge gut“, erklärte er ganz ernst.

Zum Glück lieh uns Bonzo sein Zelt. Er wollte durchsaufen. Aber der Boden der Kuhweide war total aufgeweicht und in dem Matsch waren Steine. Aus Plastiktüten bauten wir uns Gras-Kissen.

Als wir im ersten Glimmer des neuen Tages wieder rauskrochen, lag vorm Zelt das Gerippe von Tobias‘ Regenschirm, den jemand abgefackelt hatte. Da es wieder schiffte, warf Tobias echt sauer das Gestänge durch die Gegend. Ohne den Schirm waren wir irgendwie aufgeschmissen und trampten lieber wieder zurück.

„Kommt doch noch mit zu mir. Zu Hause hab‘ ich noch ne Flasche Rotwein“, sagte eine Millie mit piepsiger Stimme. Sie hieß Beatrice, war klein und hatte braune, kurze Haare. Tobias und ich fanden das Angebot natürlich dufte. Die Fete hatte sich sowieso beträchtlich geleert. Wir zuckten zu ihr nach Döhren. Als sie aufschloss, sagte sie, wir sollten leise sein. Auf dem Türschild stand: ‚Schmetter‘.

„Schmetter? Der Musiklehrer?“ flüsterte ich hektisch. Sie nickte. Ich wollte sofort wieder gehen, aber zu spät, wir waren schon im dunklen Flur.

Sie teilte sich ein Zimmer mit ihrem Bruder. Den kannten wir von Sessions im Leinedomizil, wo er manchmal mitspielte. Eine schräge Type, die immer einen Zylinder trug und starkes Asthma hatte. Wer hätte gedacht, dass er der Sohn vom Schmetter war! Hocherfreut, dass welche kamen, stand er aus seinem Bett auf. Der Pyjama spannte über seinem aufgeblähten Brustkorb. Beatrice ging den versprochenen Wein holen. Wir ließen die Flasche kreisen.

„An die Instrumente“, sagte der Bruder und stöpselte eine E-Gitarre in einen Gitarrenverstärker. Er reichte sie mir und holte eine zweite aus dem Schrank, zusammen mit Rhythmusinstrumenten, wie Rasseln, Schnarren, Klappern, Trommeln und so nen Quatsch. Mir wurde etwas mulmig, weil es bestimmt drei Uhr war. Aber der Bruder hatte seine E-Gitarre nun auch eingestöpselt und klampfte los.

Zaghaft machte ich mit und auch Tobias trommelte etwas rum. Beatrice lehnte sich aus dem Fenster und quarzte eine. Danach versuchte sie, zu dem Chaos zu singen.

Plötzlich ging die Tür auf und Schmetter erschien in einem langen Nachthemd. Er wetterte:

„Was ist denn hier los? Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen?“ Er erkannte mich und sagte:

„Was machst du denn hier? Schluss jetzt! Verschwindet! Aber sofort!“ Und schlug mit aller Kraft die Tür zu.

Wir verdünnisierten uns.

In der nächsten Musikstunde (wegen welcher Millie hatte ich nur diesen Musikkurs belegt?) holte Schmetter mich nach vorne und ich sollte einen Bolero-Rhythmus auf einer kleinen Trommel vorklopfen. Klappte natürlich nicht. Er genoss es sooo sehr und schrieb null Punkte auf.

In der Schule war eine Fete. An einem Montag! Tobias kam mit, obwohl er in Misburg auf ein Gymnasium ging. Die großen Fenster der Mensa waren mit Vorhängen abgehängt. Rote Scheinwerfer und ‚Dschinghis Khan‘ Musik - auweia! Das war ohne Bier nicht auszuhalten. Wir zuckten zur Bude, tranken das Bier gleich auf ex, da am Eingang zur Mensa Lehrer Bolz stand und aufpasste.

Kaum wieder drin, dackelten wir ein zweites Mal los, weil es ohne Bier wirklich nicht auszuhalten war. Danach waren wir schon ganz gut angetörnt. Tobias tobte wie wild zu ‚Slade‘ und machte Lisa an. Die war knuffig. Blonde Haare, Stupsnase und Rubens-Rundungen. Ich sah den beiden zu und wippte sogar etwas zur Musik, während ich mit Martin und Stella quasselte. Stella zwinkerte mir zu – ein Zeichen. Wir ließen Martin stehen und schoben nach draußen.

Der Rasen war nass vom Abendtau und meine Botten undicht. Außerdem musste man Angst haben, dass man im Dunkeln in Hundetretminen trat. Ich griff Stellas Hand. Das war ganz einfach gewesen. Mein Herz pochte aber wie Hulle. Die Lichter der Autos die das Rudolf-von-Bennigsen-Ufer entlangrasten, flackerten durch ihre magischen Augen. Meine Lippen berührten ihre Stirn. Ihre Haare dufteten nach Shampoo und Vanille. Lachend befreite sie sich, tanzte, drehte sich herum, die Arme ausgebreitet, bis zum Eingang zur Mensa.

Der Schweißgeruch der tobenden Leute verschlug mir den Atem.

Um zehn war alles vorbei. Tobias, Martin und ich zogen in die ‚Südstadt-Klause‘, der ödesten Kneipe unter der Sonne.

Ein Geschichtslehrer aus der Schule und ein anderer alter Knacker hingen an der Theke. Der Geldspielautomat arbeitete alleine hinter ihren Rücken. Mit geröteten Augen griente er uns an und hob kurz die Hand, die dann aber doch das Bier griff.

Wir fläzten uns an einen der Tische. Martin popelte und schmierte das Zeug auf einen Bierdeckel.

„Alte Sau“, rief Tobias und lachte höhnisch. Die Wirtin stellte ein Frischgezapftes drauf. Tobias und Martin quatschten intensiv über die Band ‚Slade‘. Die fand ich echt primitiv. Deshalb strich ich über die Innenfläche meiner Hand und versuchte mir einzubilden, dass es Stella täte.

Sturmfreie Bude. Ich lud ein paar Leute ein, um einen Grund zu haben, Stella einzuladen: Uwe, Martin, Sabine, Lene, Tobias. Tobias nuckelte an einer Flasche Jambosala rum. Martin strich sich immer wieder durch die Haare. Er trug sein buntes Hemd zwei Knöpfe offen, so dass etwas von seiner Brust zu sehen war. Mann, fand der sich toff.

Ich setzte mich ins Wohnzimmer auf die Ledercouch und beobachtete wie Stella und Sabine tanzten. Stella war schnell aus der Puste. Kein Wunder, sie tobte ja auch ekstatisch rum. Da haute sie sich neben mich hin und schlug ihre Füße unter ihre Beine ein. Prima Ringelsocken.

Seit dem Abend vor der Mensa berührte ich sie manchmal, als sei es eine ‚Vorstufe‘ unseres Zusammenseins. So strich ich ihr durch die dicken, braunen Haare. Sie freute sich und legte ihren Kopf auf meine Schulter. Weil sie nur ein T-Shirt anhatte, fühlte ich einen ihrer Busen auf meinem Oberarm liegen. Ich wagte kaum zu atmen, um den Augenblick nicht zu gefährden.

„Stella, weißt du, wo mein Haarband ist“, fragte Sabine. Martin hatte ‚Yes‘ aufgelegt, was zum Tanzen ungeeignet war. Stella sprang auf und half suchen.

„Ich muss wieder los“, sagte Lene und ich brachte sie zur Tür. Sie zog mich in den Hausflur und küsste mich ganz sehr mit Zunge und so. Das war total komisch, so als würde das Blut im Körper falsch rum fließen. ‚Könnte sie sich nur in Stella verwandeln‘, dachte ich und drückte sie ganz fest an mich.

„Ich muss jetzt wirklich gehen“, sagte sie dann zärtlich und entklammerte sich. „Ihr seid eh alle betrunken“, setzte sie traurig hinzu und stapfte die Treppen runter.

Tobias rief alle möglichen Millies an. Karine kam daraufhin. Sie und Tobias tranken fiesen Wodka aus einer verschnörkelten Flasche, den sie mitgebracht hatte. Dann verschwanden sie im Zimmer meiner Schwester, wo Tobias bestimmt seine Hände wandern ließ.

Wie immer lungerte ich in der ersten großen Pause in Stellas Nähe herum.

„Hast du am Wochenende schon was vor?“ fragte ich sie, als mal gerade kein anderer mit ihr quatschten wollte, „ich weiß eine Fete. Aber wir könnten auch zum Griechen essen gehen oder ins Kino.“

„Ich fahre nach Berlin“, sagte sie.

„Was? Das ist ja toll“, erwiderte ich locker, aber in Wirklichkeit enttäuscht. „Was machst du denn da? Die Stadt ansehen?“

„Du bist ganz schön neugierig“, fuhr sie fort, “ich treffe Bimmi.“

„Bimmi?“ fragte ich.

„Meinen Freund“, sagte sie keck und tippte mir mit ihrem Finger auf die Nase. Es klingelte und sie ging zurück in den Klassenraum. Ich blieb stehen und kämpfte mit den Tränen.

In der zweiten großen Pause trottete ich wie eine gehirnlose Hülle mit Martin zu Winni. Winni wohnte alleine in einem riesigen Apartment gleich gegenüber der Lüdersschule. Er mixte Cocktails an seiner Bar. Wir hörten blöde ‚Styx‘-Musik auf der gigantischen Stereoanlage. Am Plattenspieler stand die Warnung, dass der Motor so stark sei, dass er einem den Arm abreißen könne. Winni hatte auch einen eigenen Flipperautomat. Ich war zu aggressiv und tilte das Ding dauernd. Winni war eh unschlagbar, schließlich kannte er die Maschine auswendig. Ich überredete die beiden, dass wir uns den restlichen Unterricht schenkten. Nach Stundenplan wäre bei mir Mathe mit Stella dran gewesen. Da wollte ich auf keinen Fall hin.

Am späten Nachmittag trottete ich nach Hause. Die Sonne schien, aber sie wärmte nicht all zu sehr. Tonnenweise Kastanien lagen auf dem Fußweg rum. Ich kickte ein paar durch die Gegend. Sie rollten und hüpften ewig weit, die breite Allee entlang.

In der 'Südstadt-Klause' hockte wie gewöhnlich der Geschichtslehrer an der Theke. Keine Ahnung warum, aber bei dem Anblick schossen mir Tränen in den Augen und ich lief über die Ampel, die noch rot war. Ein Auto kam und weil ich nicht aufgepasst hatte, musste der Fahrer volle Kanüle auf die Bremse treten. Es hielt direkt vor meinem Knie an, ich machte einen weiteren Schritt und war gerade an dem Auto vorbei, als ein anderer Wagen von hinten reinkrachte, so dass der Wagen der gebremst hatte, einen Satz nach vorne machte. Er streifte mich sogar noch, aber es war nichts passiert. Das heißt doch, denn total im Schock rannte ich wie besemmelt los. Hinter mir wurde geschrien, aber ich rannte immer schneller, bis ich meinen schmerzenden Körper gegen eine Häuserwand brettern ließ.

Am nächsten Tag rief gleich nach der Schule Tobias an und fragte, ob ich einen Schlafplatz für Bernard wüsste.

Mutterns elender Sekretärinnenjob erlaubte ihr in ihrer Mittagspause nach Hause zu kommen. Also fragte ich sie beim Mittagessen (Leber, noch leicht blutig, mit Kartoffelmus aus der Tüte und fast schwarz gebratenen Zwiebeln), ob Bernard für ein paar Nächte bei uns schlafen könne. Sie war einverstanden.

Am Nachmittag brachte Tobias ihn vorbei und düste gleich wieder los.

Bernard packte eine Flasche Ouzo aus. Seine zittrigen Hände hatten Probleme den Deckel aufzudrehen.

Wir nippten die ganze Flasche nieder - mit Eiswürfeln aus kleinen Gläschen. Bei jedem Nachschenken klingelten Bernards 40 Silberarmreifen.

Leise fast flüsternd erzählte er ein bisschen über sich, dass er aus Claustal Zellerfeld komme und mit 13 zu Hause rausgeflogen sei, dass er seitdem rumziehe und noch anderes Tränendrüsenzeugs. Dabei nagelte er mich mit seinen winzigen Pupillen so fest, dass mir keine andere Wahl blieb, als zuzuhören.

Als abends Muttern von der Maloche kam, stellte sich Bernard ihr gleich an der Tür vor:

„Ich heiße Bernard“, hauchte er mit seiner unwiderstehlichen, sanften Stimme und schüttelte ihr vorbildlich die Hand. Muttern war begeistert.

Am nächsten Tag schleppte ich ihn mit in die Schule (seine Idee). In der ersten Stunde hatte ich Schmetter. Das war spaßig, weil Schmetter nicht verstand, was dieser schräge Typ in bestickter Hippiebluse in seinem Unterricht wollte. Außerdem konnte er ihn überhaupt nicht ausstehen, vielleicht noch weniger als mich. Er fragte ihn etwas über Mozarts Zauberflöte. Bernard flüsterte eine patzige Antwort, die Schmetter zum Glück akustisch nicht richtig mitkriegte.

In der Pause zischte Bernard los, weil er auf Penne doch keinen Bock hatte.

Um zwei Uhr nachts klopfte es an unserer Haustür. Es war Bernard - total zugedröhnt. Wortlos sackte er immer wieder in sich zusammen. Ich kriegte ihn irgendwie in mein Zimmer, ohne das Muttern aufwachte.

„Alles klar? Was ist denn mit dir los?“ fragte ich ihn. Er holte kleine Glasampullen aus seiner Jacke und ließ sie auf den Teppich fallen.

„Morphium. Hab‘ ich im ... Krankenhaus geklaut“, sagte er. Die Augen drehten sich nach oben. „War nicht einfach ...“, ergänzte er Minuten später. Ich ließ ihn auf den Matratzen liegen und deckte ihn mit einer Decke zu.

Noch bevor die Sonne aufging, schlich er sich wieder raus.

Erst zwei Nächte später tauchte er wieder auf - wieder völlig zugefixt. Und am Morgen war er wieder verschwunden.

Das wiederholte sich eine Weile, bis ich zu ihm sagte: „Es tut mir echt leid, aber ich denke, du musst dir was anderes zum Pofen suchen. Muttern ist echt genervt.“ Das stimmte zwar gar nicht, aber ich hatte keine Lust in harte Drogensülze verwickelt zu werden.

„Kein Problem“, flüsterte er, „ich hab‘ eine Wohnung in Aussicht. Übrigens gleich hier in der Rimsockstraße“, antwortete er.

Ungläubig nickte ich.

An einem Nachmittag, ich hatte, wie fast jeden Nachmittag, autistisch mit einer Feder schwarze Tuschelinien auf Papier gekritzelt und die Felder mit Buntstift gefüllt und dann das ‚fertige Bild‘ mit Stecknadeln an die Raufasertapete gepinnt, holte er seine Reisetasche ab.

„Übriges: Vielen Dank für alles. Wirklich, meine ich ernst“, hauchte er, „ich wohne jetzt Rimsockstraße 16. Komm doch mal rum.“

Machte ich. Nummer 16 war das vorletzte Haus, gleich neben der katholischen Mädchenschule, die mit Morgengottesdienst und solchen Schikanen auffiel.

Schon im Hausflur roch es intensiv nach Haschisch. Bernard wohnte im ersten Stock. Im Korridor sprang mich ein junger Schäferhund an. Der Haschischgeruch in der Wohnung war überwältigend.

„Du hast jetzt einen Hund?“ fragte ich.

„Ja, immer wenn ich mir zu viel drücke und auf der Straße zusammenbreche, bewacht er mich, bis ich wieder zu mir komme.“

„Das ist ja Wahnsinn“, sagte ich und versuchte mir vorzustellen, wie Bernard stundenlang in der erzkonservativen Südstadt auf der Straße herumlag. Gelang absolut nicht.

Er führte mich rum. Eine kleine Einzimmerwohnung, hell und freundlich. Bis auf eine alte Matratze und eine alte Teekiste aus Holz, die der Tisch war, war sie unmöbliert. An einer Wand waren einen Meter hoch in Leinen eingepackte Platten mit Haschisch gestapelt. Es mussten Hunderte sein. Ich nahm eine hoch. Sie war klebrig vom durchquellenden Haschharz und wog ein Kilo, das stand jedenfalls drauf.

„Aus Afghanistan“, flüsterte Bernard. Aber er flüsterte ja immer.

Er baute einen stolzen Joint und wir rauchten ihn. Lange lagen wir so rum, bis wir wieder sprechen konnten.

„Wenn du was von dem Zeug willst“, sagte er, „bedien' dich. Was auf dem Boden liegt, kannst du mitnehmen. Komm so oft du willst einsammeln.“

Tatsächlich lagen auf dem grauen Teppichboden vom Zerbrechen der Platten jede Menge Dopestückchen herum.

Ich besuchte ihn jede Woche. Wir redeten, rauchten was und ich steckte was ein.

Trotz ihres neuen Freundes Bimmi war ich über die Schmerzgrenze hinaus in Stella verliebt. Es war wie ein Brandmal im Gehirn. Ich spielte Millionen Varianten durch, wie ich sie (zurück-) erobern konnte. Wenn ich mit ihr sprach, schüttelte es mich vor lauter Sehnsucht. Von all dem sagte ich ihr aber lieber nichts. ‚Stella‘ war nun ein ‚Projekt‘ - eine lang angelegte Geschichte, die sich vielleicht erst nach Jahren oder Jahrzehnten zum Glücklichen wenden könnte.

Mein erster Schritt war, Eifersucht hin oder her, Bimmi genauer kennenzulernen. Als er letztens Stella von der Schule abgeholt hatte, war mir so elend gewesen, dass ich kaum ein ‚Hallo‘ rausgekriegt hatte. Doch, dachte ich, wenn ich seine Stärken und Schwächen studierte, könnte ich ihn vielleicht leichter ausbooten. Dazu trampten Tobias und ich nach Berlin und besuchten ihn.

Zur Begrüßung umarmte er uns herzlich. Es gab zu kiffen und Bier. Hinterher fetzten wir zu einer Fete in einem Jugendzentrum am Schlachtensee. Die Sonne war noch nicht ganz untergegangen. Die letzten roten Blätter fielen von den Bäumen. Der See glitzerte algengrün. Bimmi hatte einen ollen, beigen Lodenmantel und Botten ohne Schnürsenkel an. Er hatte die Hände tief in die Manteltaschen gesteckt und seine langen strähnigen Haare fielen ihm bei jedem Schritt ins Gesicht.

Die Wände des Jugendzentrums waren mit bunten Drachen, Hexen und Anarchiezeichen bemalt. Eine gute Hippieband spielte. Bimmi stellte uns einigen Leuten vor, die sofort mit uns nett quasselten. Wir flirteten mit wirklich duften Millies. Am nächsten Mittag frühstückten wir in einer echt starken Anarchokneipe und kifften (Bimmi und ich) und becherten (Tobias, Bimmi und ich). Die Atmosphäre war so supidupi locker, dass es einfach nicht zum Aushalten war.

Als Tobias und ich an der Grenze in Dreilinden auf ein Auto warteten, das uns mitnehmen wollte, war klar, dass Stella und Bimmi ein perfektes Paar waren. Bimmi und ich waren uns zwar irgendwie ähnlich, aber er war schlicht eine Klasse besser: gut aussehend, weltstädtisch, überhaupt nicht überheblich und zusätzlich auch noch ein dufter Kumpel. Aber ich würde nicht aufgeben Stellas Herz zu erobern - niemals!

Nachmittags kam Tobias.

„Ich habe Neuigkeiten“, hatte er am Telefon gesagt. Abends wollten wir auf ein Konzert in Döhren. Bis dahin war noch viel Zeit. Wir hörten Punk und vernichteten ‚Herris‘ (Bier). Erst ‚Sex Pistols‘ und dann ‚Clash‘. Echt geil. Neuerdings fuhren wir voll auf Punk ab.

Die Neuigkeit war, dass Tobias mit einem Gitarristen (Christian) eine Session gemacht hatte. Tobias wollte nun Schlagzeuger werden. Er suchte schon eine ‚Schießbude‘.

Dann erzählte er ne knorke Story: „Der Bunker in dem wir geübt haben, ist in der Brentanostraße. Ich bin Bus gefahren. Da stiegen zwei dreiviertelalte Typen ein und machten eine Flasche Sekt auf, die sie dann zechten. Der Busfahrer stoppte den Bus und sagte durch den Lautsprecher, dass sie aussteigen müssten, weil in seinem Bus nicht gesoffen würde. Sind sie aber nicht. An der nächsten Haltestelle auch nicht. Dann ganz plötzlich ist der Bus umgedreht und ist zu einem Bullenrevier gedüst. Alle anderen Passagiere waren stinksauer. Dort hat der Fahrer dann die Bullen geholt und die beiden Typen verhaften lassen. Ich bin solidarisch mit den beiden mit ausgestiegen und habe bei den Bullen unterschrieben, dass sie nichts gemacht hatten, außer Sekt zu trinken. Diese Fahrer-Sau. Der hat doch ne Panne oder?“ Gelacht.

„Schlagzeug ist total super, um sich von den Wellentälern abzureagieren“, sagte Tobias nach einer Pause nun bitterernst, „dann kommt man eher wieder auf einen Wellenberg.“

Wir laberten über Millies, den Hauptgrund für unsere Wellentäler und Wellenberge.

„Denen dürfen wir wirklich nicht mehr so viel Aufmerksamkeit schenken. Damit muss endgültig Schluss sein“, argumentierte Tobias.

„Ja“, stimmte ich zu, „es sind Gefühlsschwämme.“

Zu Tobias waren in letzter Zeit Viola, Lisa, Karine, Conny, Astrid, Stine und Tina blöd gewesen.

Lisa hatte nicht auf seine Briefe geantwortet. Was Tobias‘ sonst so unschlagbare Briefmethode stark in Frage stellte. Viola war zu jung. Karine wollte Tobias nur am Wochenende als Vorzeigehengst für ihre Clique treffen. Mit Stine war es ja eigentlich vorbei, weil sie ihren alten Freund wieder hatte, mit dem sie ja nie richtig Schluss gemacht hatte. Conny hatte ihm schon im November gesagt, dass sie vor Weihnachten keine Zeit mehr habe. Was soll das denn! Mit Astrid konnte es ja noch was werden, aber sie war keine hundertprozentige Favoritin.

Zu mir waren Stella, Lene und Tina blöd gewesen.

Stella natürlich, weil sie aus heiterem Himmel Bimmi als Freund hatte und auf den konnte man noch nicht mal einen richtigen Brast haben. Lene, weil sie mich geküsst hatte, ohne dass es ihr ernst war. Trotzdem war ich natürlich froh, dass sie es getan hatte.

Tina war ein Spezialfall von Tobias und mir. Sie war eine echt hübsche Emanzen-Millie. Sie hatte sich mit jedem von uns verabredet (nur ein Tag hatte dazwischen gelegen) und jedem von uns gesagt: „Ich möchte mit dir schlafen.“ Bei Tobias hatte sie noch dazugesetzt: „Heute Nachmittag habe ich mit Torsten geschlafen.“ Torsten war ihr eigentlicher Freund.

Wir waren uns einig:

Erstens, möchte man nicht wissen, was Torsten mit einem machen würde, wenn er es spitz kriegen würde, denn er ist ein verschrobener, aggressiver Brecher.

Zweitens haben wir absolut keinen Bock unsere Unschuld so lapidar zu verlieren.

Aber es war schwer gewesen, es abzuwehren, weil Tina es total drauf hatte, einen heiß zu machen.

„Warum fühle ich mich von Mädchen eigentlich dauernd bedroht?“ fragte Tobias resümierend.

„Sie wissen bestimmt gar nicht, dass sie einem das Leben zur Hölle machen“, sagte ich.

„Lasse ich nicht gelten!“ entgegnete Tobias. „Durch diese Einstellung ist man viel zu verwundbar. Du lässt dich dann in gewisse Kreisläufe einfach reindrängen. Kommt nicht in Frage!“

Schön angetörnt gondelten wir nach Döhren und holten Martin ab. Wenn man den nicht abholte, kam er nie irgendwo hin. Weil es für die Band immer noch zu früh war, klingelten wir bei Martins Freund. Der war irgendwas Höheres in der Jungen Union und hatte den totalen Sockenschuss. Wir fraßen seine Dominosteine auf und dreschten dumme Sprüche, bis er uns rauswarf. Er wollte am Abend seine Freundin besuchen - das war’s! Sonst nichts! Wie kann einem das an einem Samstag genügen?

Wir taperten in die Kneipe, in der die Band schon zu spielen angefangen hatte. Total beknackte Rock’n‘Roll-Grütze. Die Leute waren auch alle plemplem.

„Da soll mal einer sagen, es gäbe in der BRD keine Missstände“, sagte ich trocken. Tobias und Martin bogen sich vor Lachen. Ich kapierte erst nach und nach, dass ich einen Super-Kalauer vom Stapel gelassen hatte.

Dann zuckelten Tobias und ich zur Mensa in der Uni. Dort spielte ‚Guru Guru‘. Übers Dach kamen wir umsonst rein. Nur ein bisschen Kletterei. Drinnen trafen wir natürlich das ganze Kollektiv. ‚Guru Guru‘ war ganz dufte und Umsonstkonzerte beurteilte man schließlich objektiver, als die, bei denen man bezahlt hatte.

Martin kannte eine Frauke aus einem Urlaub mit seinen Eltern. Weil er aber zu lasch war, mit einer zu gehen und erst recht mit einer, die in Freiburg wohnte, hatte er weiterhin keine Freundin.

Frauke hatte Martin geschrieben, dass es auf der Silvesterparty, auf die sie wollte, einen Frauenüberschuss gebe. Na so was! Glücklicherweise hatte Martin keinen Bock alleine nach Freiburg zu gondeln und Tobias und ich boten uns an ihn zu begleiten, denn es gab garantiert nichts besseres, als Silvester nicht in Hannover zu sein.

Tobias und ich trampten kurzerhand hin. Martin kam mit dem Zug nach. Feigling! Trampen war aber wie immer ätzend.

Tobias und Martin wohnten bei Frauke. Ich wohnte bei Kati, der besten Freundin von Frauke. Kati sah recht dufte aus. Gute Figur, schulterlange Haare, Seitenscheitel. Ich durfte sogar in ihrem Bett schlafen. Sie leider nicht. Schade, ich hätte gerne meine Finger wandern lassen.

Tobias ließ sich zweimal beim Schwarzfahren erwischen und musste 20 Mark blechen. Depp! Martin dudelte die ganze Zeit auf einer beknackten Blockflöte rum. ‚Supertramp‘ oder ‚Genesis‘ Melodien – würg!

Die Party war ein voller Flop. Ein dröges Rumgehänge bei Fraukes Freundin in einem Kleinmädchenzimmer. Um zwölf etwas Knallerei, hauptsächlich die Kanonenschläge, die Tobias mitgebracht hatte. (Schön laut!) Immerhin waren wir prima angetörnt und auf dem Rückweg sagte Tobias zum Taxifahrer:

„Taxi fahren – das ist ja wohl das Allerletzte!“

„Was soll das denn heißen?“ fragte der Fahrer gekränkt.

„Na, dauernd so Besoffene rumkarren und die kotzen dann, pöbeln rum und so“, sagte er betont lallend. Der Fahrer schwieg, sah aber bei jeder Gelegenheit wütend in den Rückspiegel. Tobias lachte laut auf und gab Frauke einen heftigen Hollywoodkuss. Ich nahm Katis Hand. Martin der vorne saß, ging leer aus.

Am nächsten Tag zischten Tobias und ich zurück. Mit einem Mercedes über 220 Sachen gebrettert. Wahnsinn! Dann mit nem Irren, dessen Lenkrad locker war – er konnte es abnehmen! Hilfe! Außerdem mussten wir ihn immer anschreien oder rütteln und ganz laut Musik dudeln, weil er drohte einzuschlafen. Irgendwann hatten wir die Nase voll. Wir haben uns mitten auf der Autobahn absetzen lassen und ihn seinem Schicksal überlassen. Über schwarze Felder zum Zug gestolpert. Gute Tour!

wie Hulle

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