Читать книгу wie Hulle - Peter Baldinger - Страница 6
1971
ОглавлениеHeute klemmte ich mich oben zwischen den Türrahmen und las. Ging astrein, weil meine Filzpantoffeln Gummisohlen hatten.
Danach fesselte ich meine Schwester. Ich schnitt von einem Kaktus ein Stück ab, zermantschte es, verknetete es mit Mehl und briet das Ganze zu einer Art Pfannkuchen. Meine Schwester musste das Klößchen essen, damit ich sie wieder losband.
Endlich kam Meschan. Er hatte Schokolade und Sprite mitgebracht. Da er katholisch war, musste er alles mit mir teilen. Höhö.
„Sonst blutet den Katholiken das Herz“, sagte er ernst. Super.
Seit ein paar Wochen beschäftigten wir uns damit Einpfennig- und Zweipfennigstücke aus dem dritten Stock auf die Straße zu werfen. Die Uridee war superchristlich (zumindest waren wir davon überzeugt): die Leute sollten sich freuen, wenn sie Geld fanden und einen netten Tag haben.
Mit der Zeit hatten wir die Idee etwas abgewandelt und hatten Groschen mit Kleber auf die Straße geklebt.
Aber danach war uns heute nicht.
Wir fingen das Programm damit an, vorbeigehende Leute mit Wasser aus dem Aquarium zu bespritzen.
Das langweilte uns aber auch bald. Also pullerten wir in eine Gießkanne und begossen die Passanten damit. Das machte schon viel mehr Spaß. Später bewarfen wir Leute mit Blumenerde, angelutschten Bonbons, gekochten Spaghetti und Gurkenstückchen.
Einige klingelten überall im Haus, weil sie nicht wussten, wo es herkam, oder standen ewig unten und schimpften.
Ein neuer Freund von mir war Carsten. Er aß ununterbrochen Karotten. Seine Haut war ganz gelb davon. Er trug eine an der Seite nach oben geschwungene Hornbrille, die er von seiner Mutter geliehen hatte, weil er keinen Bock hatte, zum Augenarzt zu gehen. Die Brille war viel zu stark für ihn.
Meschan, Carsten und ich gingen auf ein brachliegendes, eingezäuntes Gelände. In einem Busch lag ein Porno, den blätterten wir durch. Ich hätte schwören können, dass eine der Frauen Carstens ältere Schwester war. Sagte ich ihm aber lieber nicht.
Später zeigte Carsten Meschan und mir seinen Dödel, da er beschnitten war. Erregt stand er wie eine eins nach oben. Wir staunten nicht schlecht. Aber Carsten sagte, dass so eine freie Eichel unangenehm in der Unterhose reibe.
Weil ich immer von dem Mädchen mit den Rattenschwänzen abgeschrieben hatte, schaffte ich es sogar ins Gymnasium. Obwohl Meschan besser war, packten ihn die Eltern auf eine Realschule.
Schulferien. Es war richtig warm. Meschan und ich gingen ins Maschseebad. Der See war flach und voller Algen und Wasserpflanzen. Wir meldeten uns für den Fahrtenschwimmer an.
Sofort ging es los. Wir mussten mit acht anderen dreißig Minuten im Kreis schwimmen. Ein Kerl stand auf einem Steg und bewachte die ganze Schose. Aber es war am Ende des Stegs noch so flach, dass ich mit den Füßen den ekligen, schlammigen Boden berühren konnte. Ich tat also so, als würde ich schwimmen und lief eine halbe Stunde im Kreis herum. Ich versuchte dabei herauszukriegen, ob all die anderen wirklich schwammen oder ob sie auch nur liefen. Wahrscheinlich war ich aber einfach etwas größer als sie.
Hinterher verriet ich niemand, selbst Meschan nicht, dass ich geschummelt hatte. Als unsere Mütter und Schwestern mittags im Freibad eintrudelten, zeigten wir stolz die Plaketten und den Schwimmpass.
Wir cremten uns alle gegenseitig ein und die Mutter von Meschan fing dabei an, meinen Rücken zu kraulen. Das machte sie ewig lang, obwohl es mir gar keinen Spaß machte. Aber sie sagte:
„Warte doch nur ab. Du wirst sehen, gleich wird es dir ganz toll gefallen.“ Tat es aber nicht. Es war eher eine Folter, da ihre Finger meine Haut fast nicht berührten.
Aber ich merkte mir die Technik, weil ich dachte, dass sie später mal nützlich sein könnte.
Zwischendurch sprangen wir ins Wasser. Aber das war nun ganz warm und gelb von der vielen Pisse aller Kinder (einschließlich meiner). Also ließ ich mich wieder kraulen. Meschans Mutter war richtig vernarrt in diese Sache und ich war froh, als es endlich ein ‚Mini Milk‘-Stieleis gab.
Anschließend düsten Meschan, seine Schwester und seine Mutter nach Hause, weil Meschan mit dem Knabenchor in der Kirche proben musste und seine Schwester noch eine Klavierstunde hatte.
Muttern, meine Schwester und ich brieten weiter, bis Muttern mit dem VW-Käfer nach Hause fuhr, da sie einige Anrufe machen und was zu essen und zu trinken holen wollte.
Als das Freibad geschlossen wurde, war sie aber immer noch nicht zurück und ich latschte mit meiner Schwester den ganzen Weg nach Hause.
Zu Hause war Muttern aber auch nicht. Also warteten wir nur so ab. Als sie kam, hatte sie eine Halskrause und überall blaue Flecken im Gesicht. Am Sallplatz war ein Auto von hinten in unseren Käfer gerast und hatte ihn gegenüber gegen eine Kirche geschleudert. Von dort war er wieder abgeprallt und auf der Straße hatte ihn noch ein anderer Wagen von der Seite gerammt. Totalschaden.
Von dem langen Tag in der Sonne, hatte ich rote, juckende Hitzepusteln am Hals.
Das Gymnasium hieß Lüdersschule und war eine reine Jungenschule. Würg.
Lex, ein rotzfrecher Knirps, der einzige, mit dem ich auch schon auf die Grundschule gegangen war, wollte unbedingt, dass ich sein Freund wurde. Da ich sonst noch niemanden kannte, war er halt etwas mein Freund. Aber er wollte mir immer alles abluchsen. Das hasste ich. Lexes Mutter war eine anspruchsvolle Haarsprayblondine und sein Vater ein armes Würstchen.
Wir gurkten durch die Eilenriede. Ich hatte mein Fahrrad mit einem Bananensattel und einem hohen Lenker ausgestattet. Wir rasten die Rodelbahn runter. Unten überschlug ich mich bei voller Fahrt, lag auf dem Boden und kriegte keine Luft mehr. Nur kurz. Ich drehte den Lenker wieder grade und wir rasten die Huckelwege lang.
An einem Tümpel holten wir unsere Fischnetze vor. Wir fischten Stichlinge, Lurche und kleine Flusskrebse. Die packten wir mit Wasser in eine Plastikschüssel. Ich hatte mein Aquarium in ein Terrarium umgewandelt. Aber die Kaltwasserviecher krepierten dauernd. Während wir noch etwas mit Blutegeln spielten, gab Lex wie zehn nackte Neger mit seinem Bruder an. Der klaute immer und war gerade wieder mal im Knast. Na toll!
Als Lex merkte, dass ich ihn gar nicht so sehr abkonnte, wie er dachte, suchte er sich einen anderen Kumpel - einen Brutalo. Einen ganzen Winter lauerten die beiden mir auf dem Nachhauseweg auf und verdroschen mich, wenn sie mich kriegten.
Die meisten Sonntage mussten meine Mutter, meine Schwester und ich um acht aufstehen, weil der Alte wandern wollte. Keiner hatte Lust, aber es war eine Pflichtveranstaltung. Müde schleppten wir uns durch den Wald im Deister. Es wurden Pilze und Beeren gesammelt.
Regelmäßig trotz des ‚grünen Führers‘ und deshalb bestimmt absichtlich, denn seine Orientierung war normalerweise ausgezeichnet, verlief sich der Alte und fand das Auto nicht mehr. Wir rannten also den ganzen Tag durch die Walachei, manchmal weit mehr als 25 Kilometer. Der Alte vorneweg, dann in der Mitte meine Schwester und ich und fünfzig Meter weiter hinten Muttern.
Wenn wir endlich wieder im Auto saßen, standen wir im Stau mit all den ganzen anderen Deppenfamilien, die auch den ganzen Tag rumgelatscht waren. Ich war dann echt sauer, denn alles war genau wie immer: wieder würde ich den Anfang von ‚Raumschiff Enterprise‘ verpassen, wenn nicht die ganze Folge, obwohl der Alte hoch und heilig versprochen hatte, dass wir rechtzeitig zurück seien.
Muttern und der Alte stritten sich, ob die gesammelten Pilze genießbar, essbar oder giftig wären. Sie wälzten Pilzbücher, aber sie konnten sich nicht einigen. Schließlich heulte Muttern und warf dem Alten die Pilze an den Kopf.
Er briet sich die Reste und aß sie. Er starb nicht daran – aber vielleicht lagen sie ihm schwer im Magen.