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1972

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Meschan war katholisch, ich evangelisch. Sein Vater spielte sonntags in der Kirche die Orgel und Meschan sang im Knabenchor. Ich wollte mir das mal anhören.

Schnell war ich in den ganzen Gottesdienst verwickelt und es war unmöglich wieder abzuhauen. Also wackelte ich auch vor den Altar und spülte die trockene Oblate mit dem ranzigen Wein runter.

Hinterher war Meschan total sauer:

„Das kannst du doch nicht machen“, sagte er entsetzt, „du bist nicht mal konfirmiert!“

Wir hatten Musikunterricht bei Schmetter. Schon ein halbes Jahr saßen wir alle mit unseren Mistblöckflöten da und mussten zusammen oder einzeln aus dem Volksliederbuch: ‚Bruder Singer‘ was flöten.

Zum Abschluss des Halbjahres sollte jeder was vorspielen, was Schmetter für uns auswählte. Ich sollte die Nationalhymne blasen. Also dazu hatte ich überhaupt keine Lust, also ließ ich den Quatsch. Dafür kriegte ich natürlich ne Sechs und im Zeugnis eine Fünf.

Muttern sagte, sie wolle mal mit dem Lehrer reden. Dazu machte sie sich fein und legte Lippenstift auf.

Als ich im neuen Halbjahr wieder Musik hatte, ließ mich Schmetter in Ruhe. Ich durfte mir sogar ein Stück aussuchen und eine Woche lang zu Hause eintrainieren. Am Schluss hatte ich eine Drei. Außerdem sollte ich Grüße an Muttern bestellen. Hab‘ ich aber nicht gemacht.

Kurz vor den Abiturprüfungen war jemand nachts in die Schule eingebrochen, hatte die Waschbecken zugegipst und alle Wasserhähne aufgedreht. Das Wasser war durch alle vier Stockwerke bis in den Keller gelaufen und hatte die Penne unbenutzbar gemacht. Die nächsten zwei Wochen war schulfrei.

Mein Vater war ein Mathefreak, der nur so aus Spaß sich mit Mathe befasste. Er gab einem Typen aus der dreizehnten Klasse Mathe-Nachhilfe. Der hatte eine lange, rote Matte und Sommersprossen. Ohne die Nachhilfe konnte er das Abitur nie bestehen.

Im Korridor kriegte ich mit, wie mein Vater abends den wirklich schlechten Nachhilfeschüler spaßeshalber fragte, ob er die Verwüstung in der Schule angerichtet hätte. Der lief feuerrot an, röter als seine wilden Locken und kam nie wieder.

Carsten wohnte in einem modernen Mietblock am Maschsee. Seine Eltern waren viel älter, als meine. Der Vater war echt schrullig und hatte einen Sammeltick. Der ganze Keller war voll mit irgendwelchem Zeug. Hauptsächlich sammelte er Standuhren und Kuckucksuhren. Hunderte, die zu jeder vollen Stunde einen Höllenlärm machten.

„Wie könnt ihr dabei pofen?“ fragte ich.

„Gewöhnt man sich dran“, sagte Carsten und biss von seiner Karotte ab.

Ich entdeckte bei ihm eine schrottige Gitarre und fragte den Vater, ob ich sie haben könnte.

„Ich repariere sie dir“, sagte er, „und für 40 Mark ist sie deine.“

Beim nächsten Mal kaufte ich die Gitarre.

Die Mutter von Carsten war böse, weil der Vater sie mir so teuer verkauft hatte. Mir war es aber schnuppe.

Carsten und ich zuckten mit der Gitarre zu mir. Meschan kam auch und wir hörten ‚Deep Purple‘ ‚Made in Japan‘, meine erste Platte. Den Plattenspieler hatte ich vom Sperrmüll und auch das Röhrenradio, an das ich ihn anschlossen hatte. Carsten schlug zu der geilen Mucke auf Stühlen und Töpfen rum und ich versuchte auf der Gitarre mitzuspielen. Wegen der Stahlsaiten hatte ich schnell blutige Finger. Wir beschlossen eine Band zu gründen.

In den Sommerferien fuhren wir nach Norwegen. Von Dänemark aus ging‘s mit der Fähre weiter. Die Überfahrt dauerte sieben Stunden. Ewig streunte ich durch die langen Gänge mit den Kabinen irgendwo unten im Rumpf des Schiffs. Als ich genug davon hatte, fläzte ich mich auf einen Stuhl bei meinen Eltern und schlürfte eine Cola. Draußen hinter der dreckigen Scheibe tobte das Meer. Der Seegang war eigentlich nicht so schlimm, aber schlimm genug, dass sich einige mit Kotztüten beschäftigten.

Plötzlich sah ich ein Mädchen in einem bunten Kleid, das mich antörnte. Sie hatte große Augen, einen Schmollmund, lange hellblonde Haare und ganz goldbraune Beine.

Ich konnte meinen Blick nicht mehr von ihr lassen. Pausenlos stierte ich sie an. Wenn sie ins Café oder sonst wohin ging, stand ich auch auf und folgte ihr. Wie besessen, ließ ich sie keine Sekunde mehr aus den Augen, nagelte sie mit Blicken fest.

Sie versuchte alles Mögliche, um mich abzuschütteln: drehte mir den Rücken zu, las ein Micky-Maus-Buch oder lächelte mich an. Da nichts half, verpetzte sie mich bei ihren Eltern, die mir wütende Blicke zuwarfen. War mir aber völlig egal.

Nach einer ganzen Weile fasste sich ihr Vater ein Herz und kam an unseren Tisch. Er klärte meinen verblüfften Vater über die Sache auf.

Als der Vater des Mädchens wieder zu seiner Familie gegangen war, sagte mein Vater diplomatisch, dass ich so was lieber nicht so auffällig machen solle. Aber mir war es immer noch völlig schnuppe, was wer dachte, ich fixierte sie offen weiter, bis sie und ihre Eltern verfrüht in die Autodecks verschwanden, lange bevor wir Norwegen erreicht hatten.

Viele Wochen verfolgte mich ihr Bild in meinem Kopf. Es war dort wie eingemeißelt. Ich träumte von ihrem Körper, wie sie so herrlich wütend war und der Art, wie sie sich bewegte. Ich schwor mir, sie später auf der ganzen Welt zu suchen.

Ein paar Tage später hatte ich sie schon vergessen.

Bei Meschan. Meschans großer Bruder war auch da. Sein Holzbein stand gleich hinter der Tür. Als Kind hatte ihm ein Zug das echte abgefahren. Wir saßen bei ihm im Zimmer. Er war colasüchtig. Also machte er mal wieder eine neue Liter-Flasche auf und gab uns auch ein halbes Glas ab. Auf seinem Schrank-Plattenspieler spielte er ‚Uriah Heep’, ‚Fleetwood Mac’, ‚The Birds’, ‚The Doors’ und so was.

Dann gingen Meschan und ich ins Wohnzimmer und vertrieben die Schwester, die am Klavier saß. Ich versuchte sie zu knutschen, aber sie wollte das nicht.

Wir sahen in der Glotze einen Auftritt der Gruppe: ‚Family‘ und Roger Chapman. Echt stark.

Danach lief eine Sendung mit John Peel, der Gitarrenunterricht gab. Meschan hatte sich die Telecastergitarre seines Bruders gegriffen, ich hatte meine akustische aus der Stoffhülle geholt und wir versuchten mitzuspielen. Meschan war gut, weil er ein super Gehör hatte. Der Bruder hatte unterdessen geduscht und hüpfte nun auf einem Bein und im Bademantel durchs Wohnzimmer. Seine Freundin war auch gekommen. Sie hatte nicht viel an, einen Minirock und ein Trägershirt. Dufte Biene, mit einer ganz tiefen, rauchigen Stimme. Sie zischten dann los. Im Treppenhaus sprang Meschans Bruder immer über acht Stufen auf einmal. Das ganze Haus erzitterte davon. Aber er war viel schneller als jeder mit zwei Beinen.

Den Rest des Nachmittags träumten wir von unserer Band.

Früh morgens. Meine Schwester und ich frühstückten und machten uns für die Schule fertig. Muttern stand am Fenster und sah nach unten. Sie war nervös, weil der Alte die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen war. Dann rief sie auf einmal runter: „So brauchst du dich gar nicht erst blicken zu lassen!“

Ich sah nach, was da los war. Der Alte kam total knülle auf allen Vieren die Straße entlang gekrabbelt. An der Haustür zog er sich hoch. Muttern rannte zum Summer und drückte schnell – denn sie hatte Angst vor dem Gerede der Nachbarn. Der Alte brauchte ewig, bis er die drei Stockwerke geschafft hatte. Er schob sich, gerade so stehend, an der Wand entlang. Seine Stoffhose hatte an den Knien zwei große Löcher. Alles war voller Blut und Dreck. Seine Brille hatte einen Sprung und er lachte irre.

Muttern heulte und schrie rum. Der Alte verschwand im Bad und duschte. Als er wieder rauskam, war er schon nüchterner. Er zog neue Klamotten an und suchte seine alte Brille. Gelassen frühstückte er ein Brötchen. Manchmal biss er ins Leere. Muttern stopfte die kaputte Hose in den Mülleimer und weinte leise.

Als es Zeit war, zur Arbeit zu gehen, nahm der Alte ein Jackett von der Garderobe und zog wortlos die Tür hinter sich zu.

Ich hatte Biologie bei Rattler. Bevor der Unterricht losging, musste man das Spiel: „Hände hinter den Rücken! Zappelt nicht! Aufstehen! Setzen! Aufstehen! Setzen!“ mitmachen. Das weckte einen angeblich.

Dann zeigte er uns Dias von seinen vorsintflutlichen Expeditionen in den Amazonas und nach Afrika. Die Dias waren aber klasse. Dazu erzählte er Geschichten über Badeerlebnisse in Flüssen voller Krokodile, Piranhas und über riesige Insekten und so weiter.

Zwischendurch kriegte Rattler Tobsuchtsanfälle. Er war halt ein alter Fascho. Dabei schlug er mit einem Bambusstock wild auf den Tischen rum, immer dicht neben die Finger. Wenn er den Stock fransig geschlagen hatte, flogen einem die Bambusstücke um die Ohren. Mit hochroten Kopf schrie er dazu, was das Zeug hielt.

Die Stöcke bekam er paketeweise von einer Schulbedarfsfirma direkt in die Schule geliefert.

Dann war er wieder friedlich und sagte, dass es mit Sexualkunde weitergehe.

Das war natürlich ein Witz, denn er hielt uns einen Vortrag über die Wichtigkeit des täglichen Schwanzwaschens, Vorhautverengungen und darüber, dass wenn man mal müsse, man schnellstmöglich ein Klo aufsuchen solle, da jedes Verdrücken ungesund sei.

Bei Rattler hatte ich auch Kunst: Zuerst mussten wir jede Menge Kniebeugen machen. Dann wurde mit Wasserfarben getuscht. Dazu rührten wir unser eigenes Deckweiß in Marmeladengläsern an. Ich lernte, dass es kein Weiß und kein Schwarz in der Natur gibt. Das ein Bild aber fast nur aus Weiß und Schwarz besteht. Interessant.

Am Ende der Stunde mussten wir fegen und die Tische genau nach dem Fliesenmuster auf dem Boden ausrichten, da das nicht auf Anhieb klappte, spielte er wieder etwas mit dem Rohrstock und wir mussten erneut das Rauf-Runter-Gehampel machen.

Insgesamt fand ich Rattler dufte, weil ich etwas über Malerei lernte. Am Ende des Jahres fragte er jeden, ob er eine Eins oder Zwei im Zeugnis haben wollte. Ich entschied mich natürlich für eine Eins und kriegte sie auch.

Als er mit dem Stock jemanden auf dem Rücken erwischte, schickte man ihn in Rente.

wie Hulle

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