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1.5 Soziale Schichtung
ОглавлениеSoziale Ungleichheit war und ist in der Schweiz weniger als in anderen Ländern ausgeprägt und in den hier betrachteten beiden Kantonen im Schnitt wohl noch etwas weniger. Abgesehen davon, dass es immer irgendwie in Armut geratene Leute gab und diese zu einer Zeit, in der der Sozialstaat noch wenig ausgebaut war, häufiger als heute vorkamen, betonten alle Interviewpartner die grundsätzliche Gleichheit. Eine schmale Oberschicht von einigen Prozent der Bevölkerung existierte sicherlich in den Hauptorten: Regierende, Akademiker, Lehrer, einige Geschäftsleute und bessere Handwerker, sowie reich gewordene Rentiers. Darunter aber lebte eine breite Mittelschicht, und insbesondere unter den Bauern waren, wie noch zu zeigen sein wird,35 die Unterschiede nicht sehr ausgeprägt, wurden jedenfalls nicht ausgesprochen als solche empfunden.36 In Appenzell war das soziale Schichtenmodell ganz einfach: Es gab die «Hofer», die Mehrheit der Bewohner des Hauptortes, die breite Masse der Bauern auf dem Lande und schliesslich am unteren Ende der Leiter die «Rietler»,37 die ärmeren Leute, die konzentriert am Rande des Dorfes, südlich der Bahnlinie, in kleinen Häuschen lebten, die sie auf dem eher schattig gelegenen Land einer schon im 15. Jahrhundert errichteten sozialen Stiftung erbaut hatten. In Sarnen und in den übrigen Dörfern Obwaldens waren, neben den immer noch zahlreichen Bauern, das kleinbürgerliche Element und die Arbeiterschaft etwas stärker vertreten. Umgekehrt war dort die Oberschicht der politisch seit Jahrhunderten führenden alten Geschlechter wohl noch etwas abgehobener als in Appenzell, obschon es auch hier etwa ein halbes Dutzend Familien gab, die häufiger als andere in der Regierung sassen.38 Die genannten alten, in der Politik gut vertretenen Obwaldner, aber auch sonstige angesehene bürgerliche und bäuerliche Familien verfügten nämlich bis in die 1960er-Jahre auch in den Kirchen über reservierte Sitzplätze («Chremmli») oder als Amtsinhaber über besondere Ratsherrenstühle.39 Sie wurden als Landammänner oder Gemeindepräsidenten an hohen Festtagen von Weibeln zum Kirchgang abgeholt und durften sich in Sarnen in hervorgehobenen Grablegen nahe der Kirche ihrer letzten Ruhe erfreuen. In Obwalden konnte sich eben im Laufe von Jahrhunderten eine Schicht herausbilden, die als Landvögte der Gemeinen Herrschaften und als Soldunternehmer einigen Reichtum ansammelte, zu Hause die politischen Ämter monopolisierte, sich repräsentative Wohnsitze erbaute und von ihren Renten lebte, ganz analog zu den städtischen Patriziern der eidgenössischen Stände. Die Appenzeller Oberschicht musste diese Möglichkeiten zur Distinktion weitgehend entbehren, die Innerrhoder waren insgesamt immer ärmer, weil ihnen die finanziellen Ressourcen ungleich den übrigen Alten Eidgenossen weitgehend verschlossen waren.40 Auch der Solddienst im Ausland war hier viel weniger verbreitet.