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Vorwort

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In meinem Buch «Musse und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter» (Herder, Freiburg 2006) habe ich, entgegen den gängigen Modernisierungstheorien, versucht, eine dem frühneuzeitlichen Katholizismus eigene und andersgeartete Mentalität («Positive Rückständigkeit») herauszuarbeiten, welche diese Gesellschaft bis in die letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts entscheidend prägte und in einem diametralen Gegensatz zur «Protestantischen Ethik» (Max Weber) stand. Trotz der fundamentalen Kritik der Aufklärung daran und den in mehreren Staaten versuchten Massnahmen, auch den Katholiken auf allen Ebenen zu einem «modernen» Menschen umzuschaffen, lebten diese Einstellungen gleichwohl in etwas veränderter Form im 19. Jahrhundert wieder auf und hielten sich trotz allen gegenteiligen Bestrebungen, etwa durch den Liberalismus, in grossen Teilen bis zur erneuten umfassenden Modernisierungswelle nach dem Zweiten Weltkrieg, beziehungsweise kirchlicherseits bis zum Zweiten Vatikanum – jenseits bloss politischer Ereignisse ist die Zeit zwischen etwa 1955 und 1960 deshalb eine Epochenschwelle.

Im vorliegenden Werk versuche ich, im Sinn einer derzeit gerade noch möglichen Spurensicherung, in einem beschränkten räumlichen Rahmen und mit der Methode der «oral history», die letzten Reste dieser nun fast vollumfänglich verschwundenen Einstellungen und ihre Auswirkungen im Alltagsleben ausfindig und dingfest zu machen. Der auch im 20. Jahrhundert erhebliche Mangel an schriftlichen Quellen zu diesen Fragen lässt es als dringend erscheinen, diese «spätestbarocke» Mentalität zu dokumentieren, bevor ihre letzten Träger verschwunden sind: Meine Interviewpartner und -partnerinnen waren Personen, welche die unmittelbare Nachkriegszeit als junge Erwachsene noch bewusst miterlebt haben, heute aber in einem Alter von über 75 Jahren stehen (mehrere sind inzwischen verstorben). Es ging also um eine Bestandesaufnahme in letzter Stunde, denn in ein bis höchstens zwei Jahrzehnten wird diese «world we have lost» (Peter Laslett) nicht mehr oder nur noch fragmentarisch zu rekonstruieren sein. Schon jetzt stiess ich bei einigen Fragen auf Erinnerungslücken.

Bei der Arbeit an dem eingangs erwähnten Buch beschäftigten mich mehrere mentalitätsgeschichtliche Fragen, die sich aufgrund der problematischen Quellenlage nicht mit Sicherheit beantworten liessen. Es waren jedoch Sachverhalte, bei denen man eine gewisse Kontinuität bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein erwarten konnte. Deswegen habe ich schon dort gelegentlich volkskundliche Studien zum 20. Jahrhundert benutzt, als Anregung, auf mögliche Kontinuitäten zu achten, sowie neue Fragen an die Quellen zu stellen und sie im Lichte späterer Entwicklungen stimmiger zu interpretieren. In der vorliegenden Untersuchung richtete ich an meine Interviewpartner neben eher allgemeinen auch bestimmte gezielte Fragen. Damit wollte ich versuchen, Lücken in den schriftlichen Quellen aus dem Barockzeitalter zu schliessen und unter Beachtung späterer Veränderungen einige hypothetische Aussagen des obengenannten Werks zu überprüfen, zu präzisieren, wenn nötig zu korrigieren oder auch fallen zu lassen. Gleichzeitig wollte ich damit die dort nur grob skizzierte These vom (endgültigen) «Untergang des Barock» nach 1945 etwas ausführlicher begründen.

Neben diesen konkreten Anliegen leitete mich eine dritte allgemeinwissenschaftliche Zielsetzung. Gegenüber einer immer noch stark auf Dogmen, Institutionen, Parteien, Personen und das Verhältnis zum Staat bezogenen Kirchengeschichte möchte ich einer mehr die sozialen, ökonomischen und kulturellen Folgeerscheinungen der Religiosität, in diesem Falle einer bestimmten Konfession, betonenden Geschichte, unter Berücksichtigung anderer und neuer methodischer Ansätze, das Wort reden. Ich gehe damit einig mit meinem Freiburger Kollegen Urs Altermatt. In seinem grundlegenden Werk «Katholizismus und Moderne» hat er neben entsprechenden theoretischen Ausführungen bereits Mitte der 1980er-Jahre auch einige Bereiche des katholischen Alltags mit «oral history» und schriftlichen Quellen untersucht (S. 261ff.), diesen Ansatz dann aber sowohl selber wie in den Arbeiten seiner zahlreichen Schüler leider nicht mehr systematisch weiterverfolgt, und er ist auch sonst ohne Nachfolge geblieben.

War somit, von der erwähnten Ausnahme abgesehen, das Interesse der Historiker an diesen Phänomenen gleich null, so hat besonders das Fach Volkskunde dem auf diesem Feld arbeitenden Wissenschaftler nicht Weniges zu bieten und war methodisches Vorbild. Prinzipiell geht es im vorliegenden Projekt allerdings nicht um eine traditionelle Darstellung der sogenannten Volksfrömmigkeit vor den radikalen Veränderungen im Umfeld des Zweiten Vatikanums. Dieses Forschungsgebiet ist für die Schweiz bereits recht gut dokumentiert, namentlich durch die Arbeiten von Walter Heim. Jedoch war und bleibt es mein Wunsch, dem seinerzeit gepflegten, heute aber zur Unbedeutsamkeit herabgesunkenen Fach der «Religiösen Volkskunde» unter veränderten Bedingungen vielleicht eine wissenschaftliche Zukunft zu bahnen. Französische Historiker, besonders solche aus dem Umkreis der sogenannten Ecole des Annales, haben den Untergang der traditionellen Landwirtschaft und der traditionellen Religiosität als die beiden grössten Verlusterfahrungen des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Diesem Urteil kann man wohl für ganz Europa beipflichten. Dass zwischen beidem ein Zusammenhang bestehen könnte, wurde allerdings in der Geschichtswissenschaft wenig beachtet. An die Forschungen zur religiösen Volkskunde anzuknüpfen und davon ausgehend neue Wege der Analyse dieser spezifisch agrarischen Religiosität zu beschreiten, war ein weiteres Motiv dieses Buchs.

Der schon vor dem Konzil sich abzeichnende tiefgreifende Wandel der katholischen Religiosität ist nicht Thema dieses Buchs (auch meine Interviewpartner habe ich, wenn sie unbeabsichtigt darauf zu sprechen kamen, obschon ungern, wieder zur Ordnung rufen müssen). Dennoch stellt er zweifellos ein Forschungsdesiderat ersten Ranges dar, das ebenfalls in Angriff genommen werden müsste, nachdem auch die geistlichen und weltlichen Protagonisten des Konzils im Greisenalter stehen oder bereits verstorben sind. Dass die Frage nach der barock-katholischen Mentalität alles andere als veraltet ist, habe ich in meinem Buch «Gelassenheit und Lebensfreude. Was wir vom Barock lernen können» (Herder, Freiburg 2011) zu zeigen versucht. Auch die vorliegende Untersuchung kann daran anknüpfen – noch leben unter uns Personen, welche eine ganz andere Lebenseinstellung als die heute vorherrschende haben. Um der Gefahr zu entgehen, bloss luftige Thesen in den Raum zu stellen, scheint es mir wichtig, dies zu dokumentieren. Die Resultate dieser Studie können vielleicht dazu beitragen, den um 1950 in der Schweiz und etwas phasenverschoben in ganz Europa einsetzenden gewaltigen Umbruch in allen Lebensbereichen unter veränderten Aspekten zu beleuchten und so besser zu verstehen.

Im Gegensatz zu meinen erwähnten anderen Werken sind diesmal, besonders bedingt durch die gewählte Methode, viele Verdankungen anzubringen. Wie noch im Einzelnen auszuführen sein wird, konzentriert sich die Untersuchung auf die beiden Kantone Appenzell Innerrhoden (unter Ausschluss der Exklave Oberegg) und Obwalden (mit Engelberg). In ersterem, meiner Heimat, hätte ich wohl mit von altersher bestehenden Beziehungsnetzen passende Interviewpartner finden können, allerdings gleichwohl mit einigem Zeitaufwand. Deswegen war es eine grosse Hilfe, dass mir Frau Franziska Raschle eine Liste mit regelmässigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern an dem von ihr initiierten und geleiteten «Erzählcafé» zur Verfügung stellte. Bei Kaffee und Kuchen tauschen hier die Senioren regelmässig zu einem vorgegebenen Thema ihre Erinnerungen aus. Es handelt sich bei ihnen infolgedessen allesamt um an der Vergangenheit interessierte Menschen, was sich auf meine Recherchen sehr positiv auswirkte: Fast alle waren zu einem Interview bereit. Ein stets aufmerksamer und interessierter wissenschaftlicher Gesprächspartner und Helfer in Vielem war der Volkskundler Roland Inauen, Konservator am Museum Appenzell. Ausserdem halfen mir Achilles Weishaupt, Josef Inauen und Johann Manser mit ihrem grossen lokalen Wissen bei einigen Spezialfragen. Pfarrer Stephan Guggenbühl öffnete mir das Pfarrarchiv und unterhielt sich mit mir über das Thema der Stiftmessen. In der Landesbibliothek konnte ich stets auf die Hilfe von Doris Überschlag zählen, im Landesarchiv auf diejenige von Stephan Heuscher. Innerrhoden kann nicht vollständig ohne die Folie der anderen Konfession im benachbarten protestantischen Ausserrhoden betrachtet werden; dazu verdanke ich Hans Hürlemann, Urnäsch, und Albert Tanner, Bern, sachkundige Auskünfte.

Die Forschungen in Obwalden wären nicht möglich gewesen ohne die tatkräftige Unterstützung von a. Pfarrer Karl Imfeld, Kerns, einem der letzten profilierten Vertreter der religiösen Volkskunde in der Schweiz. Selber forschend tätig und unermüdlich publizierend, stellte er mir sein umfassendes Wissen zu seiner Heimat vorbehaltlos zur Verfügung. Vor allem aber konnte er mir eine grössere Anzahl Personen nennen, die zu einem Interview bereit waren. Die Nennung seines Namens öffnete dann dem Fremden alle Türen. Staatsarchivar Angelo Garovi half mir mit «Literaturgeschenken» und weiteren Hinweisen. Informationen zu einigen landwirtschaftlichen Fragen verdanke ich Petra Omlin und Paul Küchler. In Engelberg, jenem einstigen, jetzt zu Obwalden gehörigen geistlichen Kleinstaat, öffnete mir mein ehemaliger Berner Kollege, Stiftsarchivar Rolf De Kegel, die Pforten. Stiftspfarrer Bernhard Mathis OSB stellte mir daraufhin eine Liste mit möglichen Interviewpartnern zusammen, die sich ebenfalls ausgezeichnet bewährte. Rolf De Kegel und Katharina Odermatt verdanke ich einige zusätzliche Informationen.

Am Rande habe ich noch, um etwas Kontrastfarbe ins Bild zu bringen, auch die protestantische ländliche Religiosität am Beispiel von Bern, insbesondere des Oberlandes, etwas genauer betrachtet; ein systematischer Vergleich der protestantischen mit der katholischen Mentalität musste allerdings unterbleiben. Einblicke in diese mir etwas fremde Welt erhielt ich durch die Pfarrer Simon Kuert, Langenthal, und Ernst von Känel, Spiez.

Wie jeder Kenner weiss, spielen die Kapuziner in der ländlichen katholischen Religiosität eine grosse Rolle. Ich hatte das Glück, noch einige ältere Patres interviewen zu können. Die Namen sollen aber hier aus Vorsichtsgründen nicht erwähnt werden, da es in den Gesprächen auch um die etwas umstrittenen «Kapuzinermittel» zur Heilung von kranken Menschen und besonders um krankes Vieh ging.

Abschliessend sei noch den Leitern der besuchten Archive Dank abgestattet: Stefan Kemmer vom Bistumsarchiv St. Gallen, Albert Fischer von demjenigen in Chur und Christian Schweizer vom Provinzarchiv der Schweizer Kapuziner in Luzern.

Bei der Beschaffung des Bildmaterials waren mir Roland Inauen, Appenzell, und Klara Spichtig, Sarnen, eine grosse Hilfe.

Allen Mitarbeitern des Verlags hier + jetzt danke ich für die stets angenehme und reibungslose Zusammenarbeit bei der Publikation.

Den grössten Dank schulde ich allerdings allen meinen hier anonym bleibenden Interviewpartnern und -partnerinnen. Nach Jahren blossen Bücherstudiums waren die Besuche auf den Bauernhöfen und den übrigen Alterssitzen nicht nur wissenschaftlich ergiebig, sondern auch menschlich eine angenehme Abwechslung. Überall wurde ich wohlwollend empfangen, und die Gespräche verliefen in freundschaftlicher Atmosphäre, ohne den heute allgegenwärtigen Zeitdruck.

Ursellen, Frühjahr 2013

Peter Hersche

Agrarische Religiosität

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