Читать книгу Agrarische Religiosität - Peter Hersche - Страница 9
1.3 Wirtschaft
ОглавлениеDie naturräumlichen Gegebenheiten bestimmten massgeblich die wirtschaftliche Tätigkeit, insbesondere im ersten Sektor, der zwischen 1945 und 1955 noch eindeutig dominierte.9 In Innerrhoden waren gemäss der Volkszählung von 1950 noch 51 Prozent der männlichen Erwerbstätigen in der Landwirtschaft tätig,10 in Obwalden waren es 42 Prozent,11 also mehr als das Doppelte, beziehungsweise Dreifache des gesamtschweizerischen Durchschnitts.12 Diese Zahlen sind jedoch aus methodischen Gründen als blosse Richtwerte zu betrachten.13 Für den Getreidebau sind beide Gegenden nicht geeignet, nur in Obwalden gab es in der Ebene der Sarner Aa ein wenig Ackerbau. Auf staatlichen Befehl wurde zwar beiderorts im Rahmen des «Plans Wahlen» in der Notzeit des Zweiten Weltkriegs auf mehreren hundert Hektaren Getreidebau betrieben, aber gleich danach wieder aufgegeben. Einzig der im Krieg ebenfalls forcierte Anbau von Kartoffeln wurde vor allem in Obwalden für den Eigenbedarf noch eine Zeit lang weiter gepflegt. Grasbau und Milchwirtschaft herrschen bis heute vor und bilden neben der Kälbermast und der Aufzucht von Jungvieh das Haupteinkommen der Bauern in beiden Gegenden. Die Alpwirtschaft war beiderorts eine notwendige und wichtige, mit Liebe besorgte Ergänzung der Talbetriebe. Die Milch wurde zum kleineren Teil als Konsummilch weiterverkauft, vor allem aber wurden Käse und Butter daraus hergestellt. Das zweitwichtigste Nutztier, welches fast alle Bauern hielten, war das Schwein. Demgegenüber war die früher wichtige Ziegenhaltung schon damals stark zurückgegangen und reduzierte sich weiterhin. Auch die Schafhaltung war in unseren zwei Untersuchungsgebieten nie stark verbreitet. Pferde wurden beidenorts in der bäuerlichen Wirtschaft kaum eingesetzt, allenfalls dienten Kühe als Zugtiere. Hühner hingegen gehörten fast überall zu einem Hof. In Obwalden spielte in der Sarner Ebene der vor allem im Zusammenhang mit der früheren Umstellung auf die Graswirtschaft entstandene Feldobstbau noch eine grosse Rolle. «Wie ein Wald» sollen damals die Obstbäume gestanden haben.14 Die Ernte war nicht so sehr Tafelobst für den Markt, sondern wurde selber frisch verzehrt oder eingekellert, ausserdem zu einem grossen Teil zu Most verarbeitet, gedörrt, zu Birnenhonig eingekocht und die Abfälle schliesslich zu Schnaps veredelt. Ferner gehörte in Obwalden, ausgenommen in den höheren Lagen, ein Gemüsegarten fast obligatorisch zu einem Bauernhof und spielte wie das Obst eine grosse Rolle für die Selbstversorgung. Auch hier hatte der Zweite Weltkrieg impulsgebend gewirkt; auch Nichtbauern pflanzten damals Gemüse, um den mageren Speisezettel zu bereichern. In Appenzell hingegen gab es, abgesehen von dem tief gelegenen Gebiet um Haslen und vereinzelten sonstigen Apfelbäumen, keinen Obstbau, obschon er von Behörden und bäuerlichen Organisationen immer wieder propagiert wurde. Auch grössere Gemüsegärten fand man dort nach den Nöten der Kriegsjahre kaum mehr.15 Die Appenzeller bezogen Obst, Gemüse und Kartoffeln schon immer vorzugsweise aus dem St. Galler Rheintal;16 deren Konsum beschränkte sich bei den Bauernfamilien aber ohnehin auf ein Minimum. In Obwalden ging der Obstbau in den 1960er-Jahren massiv zurück. Gründe dafür waren die Mechanisierung (Mähmaschinen), der Arbeitskräftemangel, die Verwertungsprobleme und schliesslich die staatlich geförderten Rodungsaktionen.
Auf den zweiten Sektor wird später im Zusammenhang mit der Arbeitsethik und dem Nebenerwerb vor allem der Frauen noch einzugehen sein.17 Hier sei vorerst erwähnt, dass er, verglichen mit der übrigen Schweiz, in unseren beiden Untersuchungsgebieten eine geringe Rolle spielte. Selbstverständlich war das für den Bedarf der Bauern und der übrigen Bevölkerung notwendige Handwerk vorhanden, es konzentrierte sich aber vor allem in Appenzell auf den Hauptort. Insgesamt waren in der Nachkriegszeit die beiden Kantone vielmehr noch Musterbeispiele von weitgehend agrarisch strukturierten Regionen, besonders Innerrhoden. In Obwalden gab es immerhin schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert einige bedeutendere Betriebe des metallund holzverarbeitenden Gewerbes (Parkettfabriken und Möbelschreinereien), dazu eine grosse Hutfabrik, die zusammen einige hundert Arbeiter und Arbeiterinnen (die Heimarbeit nicht mitgerechnet) beschäftigten. Ab 1957 kam noch die Kunststoffindustrie dazu, schon durch die von ihr hergestellten Produkte ein Symbol des Umbruchs. Bereits 1952 wollte ausserdem die Regierung Obwaldens den nichtlandwirtschaftlichen Sektor durch einen besonderen Delegierten für Wirtschaftsförderung stärker entwickeln. In Appenzell wurde 1955 eine entsprechende Kommission ins Leben gerufen. Dort gab es bis dahin nur einige wenige kleine Textilverarbeitungsbetriebe, vor allem zur Herstellung von Taschentüchern, die Männer und Frauen beschäftigten. Die Heimarbeit der Handstickerei, die zwar schon in der Zwischenkriegszeit stark zurückgegangen war, dominierte vorderhand noch. Ferner existierte im Dorf Appenzell ein stark bäuerlich inspiriertes Kunsthandwerk (Weissküferei, Haarflechterei, Drechslerei, Bauernmalerei, Herstellung von Antikmöbeln und Schellenriemen).18
Im Dienstleistungssektor spielte der Tourismus in beiden Regionen schon länger eine gewisse Rolle. Dies obschon er von der herrschenden bäuerlichen Schicht nicht immer gern gesehen wurde, etwa wenn Touristen gedankenlos durch hohes Gras wanderten oder ihre Hunde frei laufen liessen.19 Auch die Geistlichkeit äusserte vielfach Vorbehalte, weil sie in der lockeren Kleidung der Fremden und ihren Wünschen nach Schwimmbädern und Tanzunterhaltungen ernste Gefahren für die Sittlichkeit sahen.20 Die Obwaldner Franz Josef Bucher und sein Schwager Josef Durrer waren industrielle Unternehmer, Bahnbauer, Hoteliers und Tourismuspioniere, wie sie sonst nur in den Städten und bei den Protestanten auftraten. Doch handelte es sich bei ihnen um Ausnahmeerscheinungen, wenn auch der Obwaldner im Allgemeinen immer als etwas regsamer als der benachbarte Nidwaldner geschildert wurde. Regsam war indes auch der Appenzeller, aber er betätigte sich doch in einem viel engeren Kreis, etwa durch den Verkauf von Stickerei in den berühmten Badeorten des In- und Auslandes. In Obwalden gab es in den höher gelegenen Ortschaften einige alte Kur- und Erholungshäuser. Erwähnt werden muss hier auch der religiöse Tourismus, der nach der Heiligsprechung von Bruder Klaus (1947) mit seiner Geburtsstätte und seiner Klause in Flüeli- Ranft und seinem Grab in Sachseln grössere Ausmasse annahm. Am wichtigsten war aber doch Engelberg, wo schon 1883 ein Kur- und Verkehrsverein gegründet wurde, und nach dem Bahnbau von 1898 das Dorf bereits um die Jahrhundertwende ein beliebter und mondäner Kurort und insbesondere einer der frühesten Plätze des sich danach stark entwickelnden Wintersports war.21 Diese massive Veränderung stand in einem gewissen Gegensatz zur Tradition des Klosterstaats und führte auch zu Konflikten, insbesondere weil die Touristen den strengen kirchlichen Moralvorstellungen nicht entsprachen. Andererseits profitierte das immer noch einflussreiche Kloster materiell vom Tourismus.22 In Appenzell hingegen waren die früher beliebten Molkenkuren schon vor dem Ende des 19. Jahrhunderts aus der Mode gekommen. Dasselbe Schicksal ereilte etwas später einige kleinere Bäder (Weissbad, Gontenbad, Jakobsbad). Nach 1945 herrschte vor allem Tagestourismus vor, war die Bergwelt des Alpsteins doch von den grösseren städtischen Siedlungen der Ostschweiz bis zum Bodensee aus relativ rasch erreichbar. Der im Laufe der 1950er-Jahre beginnende Bau von touristischen Infrastrukturanlagen (Skilift Sollegg, Ebenalpbahn, Campingplätze, Ferienhaussiedlungen usw.) markierte einen deutlichen Umbruch.
Die übrigen Dienstleistungsberufe fielen in beiden Kantonen zahlenmässig kaum ins Gewicht: Akademiker, Lehrer, Beamte, kaufmännische Angestellte, Post- und Bahnpersonal und so weiter beschränkten sich auf das notwendige Minimum. Die Lehrerschaft bestand zu einem grossen Teil aus geistlichen Personen beiderlei Geschlechter, worauf noch zurückzukommen sein wird.23 Besonders in Innerrhoden wurde ausserdem der Beamtenapparat der Verwaltung noch ausgesprochen schmal gehalten.24