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2.3 Soziale Verhältnisse und Ungleichheit innerhalb der Bauernschaft

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Schon aus den bisherigen Ausführungen dürfte hervorgegangen sein, dass die Bauernschaft in Innerrhoden und Obwalden eine relativ homogene war und es keine grossen sozialen Unterschiede gab, jedenfalls geringere als in den Ackerbaugebieten des Mittellandes. Dieser Meinung waren auch praktisch alle Interviewpartner, wobei viele nicht von einer bäuerlichen Mittelschicht sprachen, sondern meinten, es seien eigentlich fast alle gleich arm gewesen. Einige machten ferner darauf aufmerksam, dass der Schein auch trügen konnte: Von nach aussen hin reich scheinenden, gut gekleideten und spendablen Bauern mit grossen Gütern wusste man nicht, ob sie nicht daneben vielleicht auch grosse Schulden hatten.

Grossbauern mit wesentlich mehr Land, dazu schönen Alpen und merklich mehr (oder auch bloss schöneren) Kühen als im Durchschnitt gab es zweifellos, aber sie waren Ausnahmen. In Appenzell gab es 1969, also zu einer Zeit, wo sich der Trend zur Flächenvergrösserung bereits bemerkbar machte, nur 42 Betriebe mit über 20 Hektaren Land; das waren 3,6 Prozent aller Betriebe.27 In Engelberg wurden von den Interviewten einige wenige Grossbauern in der Talebene genannt; dasselbe galt offenbar auch für die Sarner Ebene. Solche Güter waren gelegentlich durch eiserne Sparsamkeit oder glückliche Erbschaften zustandegekommen; bei mehreren Söhnen wurde dann aber der eventuell mehrere Liegenschaften umfassende Betrieb meist wieder aufgeteilt und somit auf das Normalmass zurückgeführt. Oder die Grossgüter gehörten reichen Viehhändlern,28 welche mit ihrer Tätigkeit ansehnliche Gewinne gemacht hatten und damit andere Liegenschaften von tief verschuldeten Bauern aufkaufen konnten. Diese reichen Bauern waren schon von der Grösse ihrer Betriebe her auf Dienstboten angewiesen.29 Sie verfügten häufig über Pferde, hatten eventuell sogar eine auswärtige landwirtschaftliche Schule besucht und waren daher innovativer, insbesondere schon in den 1940er-Jahren als Vorreiter der Mechanisierung.30 Sie trugen gute Kleider und ihre Frauen hatten eine teure Tracht. In Obwalden verfügten sie wohl auch über ein «Chremmli», einen eigenen Sitz in der Kirche, und konnten sich vor dem Kirchgang beim Coiffeur rasieren lassen. Im Gasthaus konnten sie sich Fleisch und Wein leisten, und gelegentlich lag auch eine Reise drin. Sie trugen aber auch finanziell zum Kirchenprunk bei, und ebenso erwartete man von ihnen eine freiwillige Mitbeteiligung an den sozialen Lasten, denn sonst hätten sie sich des Geizes, bekanntlich eine Todsünde, schuldig gemacht. Vor allem aber repräsentierte diese Schicht auf der politischen Ebene die Bauernschaft, als Gemeinde- oder Bezirksräte oder sogar als Präsidenten, als Vorsteher anderer Körperschaften (Kirchgemeinde, Kommissionen, Korporationen, landwirtschaftliche Vereine usw.), bis hin zur kantonalen Ebene, zuletzt in der Regierung, namentlich im Landwirtschaftsdepartement.31 Daneben aber gelang in den Landsgemeindekantonen nicht selten auch einem «Kleinen» der Aufstieg in offizielle Ämter.

Unbestritten bleibt jedoch, dass es am anderen Ende des sozialen Spektrums arme Leute gab. Ihr Prozentsatz ist schwierig abzuschätzen, war aber sicher grösser als derjenige der Reichen. Doch waren diese Leute nicht in erster Linie unter den Bauern zu finden und wenn schon, dann eher bei den Nebenerwerbslandwirten, vor allem aber bei der dörflichen Unterschicht der einfachen Arbeiter oder Ungelernten. Der Grossteil der Bauern führte eine Existenz im mittleren Einkommenssegment: «Es reichte gerade: genug zum Leben, aber keinen Luxus», so oder ähnlich lautete die Antwort der meisten Interviewten zur Frage der Auskömmlichkeit. Die Aussage entsprach ziemlich genau den damals auf dem Lande noch einigermassen verbindlichen Idealen der christlichen Lehre, die Genügsamkeit predigte und das Ansammeln von Reichtümern verurteilte. In Anbetracht der Tatsache, dass sich die Definition der Armut in den letzten 50 Jahren massiv verschoben hat, darf man im Rückblick die zitierte Feststellung so interpretieren, dass damit die Lebensverhältnisse einer breiten Schicht umschrieben wurden, die sich selber vermutlich nicht als arm fühlte, aber heute, gemessen an unserem gewohnten Lebensstandard und aufgrund der amtlichen Kriterien für Armut, sicher zu dieser Kategorie gezählt würde. Soziale Gleichheit gehörte nicht zu den unbedingt erstrebenswerten Gütern dieser ländlichen Gesellschaft, jene predigten nur die Sozialisten in den Städten und praktizierten die Kommunisten im Osten, mit furchtbaren Folgen. Die «Roten» waren ja in der Nachkriegszeit der ideologische Gegner Nummer eins, wie Geistlichkeit und konservative Politiker bei jeder Gelegenheit hervorhoben.

Die Landwirtschaft bot ihren Beschäftigten in jedem Fall eine minimale Subsistenzbasis, die, wenn nicht gerade zehn und mehr Kinder am Tisch sassen, wenigstens knapp zum Leben ausreichte. Vor allem von den Obwaldnern wurde betont, dass zwar viele bäuerliche Haushalte (relativ) arm gewesen seien, aber trotzdem nie Hunger gelitten hätten. Die dort übliche Selbstversorgung mit Kartoffeln, Gemüse und Obst trug wesentlich zu dieser vergleichsweise günstigen Situation bei. Die ärmeren Appenzeller Familien waren hier schlechter dran, denn sie mussten praktisch alle Lebensmittel, ausser den tierischen Produkten, zukaufen. Gerade Bargeld war aber in solchen Haushalten rar, kam allenfalls von Nebenverdiensten. Deswegen hatte hier auch die Stickerei der Frauen eine viel grössere existenzielle Bedeutung als die Heimarbeit in Obwalden. Sie war notwendiger Teil des Familieneinkommens, nicht bloss Zustupf. Dass diese ländliche Mittelschicht auf vieles verzichten musste, war selbstverständlich – dieser Verzicht wurde aber nicht als Armutsmerkmal betrachtet. Man hatte in vielen Fällen wenigstens die Wahl, wo man sparen und was man sich als «Luxus» trotzdem leisten wollte: beim Essen und Trinken, beim Heizen oder der Wohnungseinrichtung, bei der Bekleidung oder beim Reisen.32 Gelegentlich wurden spezielle Begrenzungsstrategien angewandt: Das Milchgeld, das Einkommen aus dem Verkauf von bestimmten Produkten (Obst, Eier) oder der Lohn der Frau und so weiter mussten bestimmte Ausgabeposten ohne andere geldliche Zuflüsse abdecken. In sehr vielen Fällen waren notwendige Einschränkungen auch nur vorübergehend: Der Bauer hatte kein fixes Einkommen, für ihn war selbstverständlich, dass es gute und schlechte Jahre gab, die Ernten und Viehpreise schwankten und dass dementsprechend die Einkünfte unterschiedlich waren.

Die tatsächliche Armut, also ein Zustand, wo eine Familie wirklich zeitweise Hunger litt und die Frauen kaum wussten, womit sie am nächsten Tag Brot kaufen oder den Kochtopf füllen sollten, wo die Kleidungsstücke vor allem Löcher hatten und die Kinder einen grossen Teil des Jahres barfuss gingen, die Wohnräume erbärmlich ausgestattet und im Winter eher kalt waren, wurde verschieden bewertet. Die Kinderzahl spielte bei solchen Zuständen zweifellos eine entscheidende Rolle. Aber dieses Thema war tabuisiert und wurde von den meisten als unabänderliches Schicksal hingenommen. Es gab Arme, deren Notlage man als selbstverschuldet betrachtete – etwa bei Trinkervätern und anderen unordentlichen Verhältnissen – und die deshalb wenig Erbarmen, sondern im Gegenteil Verachtung hervorriefen. Umgekehrt stiess unverschuldete Armut auf Mitleid und Hilfsbereitschaft in verschiedenen Formen. Solche Fälle waren infolge mangelnden Versicherungsschutzes vor allem für Personen damals nicht selten.33 Längere oder komplizierte Krankheiten sowie Unfälle mit nachfolgender teilweiser oder gänzlicher Arbeitsunfähigkeit konnten eine Familie an den Rand der Existenz bringen. Besonders schlimm war der Verlust eines Elternteils durch unerwarteten Tod. Wenn, aus welchen Gründen auch immer, keine Wiederverheiratung des überlebenden Ehepartners erfolgte, so wurden die Kinder, wenn nicht Verwandte oder die Paten sich ihrer annahmen, ins Waisenhaus gegeben. In Obwalden gab es mehrere davon. Im zentralen appenzellischen Waisenhaus «auf der Steig» waren 1948 noch rund 100 Kinder untergebracht.34 In diesen Häusern erhielten sie von Ordensschwestern eine strenge und oft lieblose Erziehung, besuchten aber im Übrigen die reguläre Dorfschule. Das im Mittelland früher übliche Verdingkindersystem kannte man dagegen in unserem Untersuchungsgebiet kaum. Männliche Waisen wurden allerdings häufig Bauernknechte.

Nachdem die wesentliche Ursache struktureller Armut, nämlich die hohe Kinderzahl, nicht hinterfragt werden konnte und durfte, waren die Kirche und ihre Repräsentanten ebenso wie die einfachen Gläubigen gefordert, die in der Bibel vorgezeichnete Karitas zu üben. Diese war im katholischen Raum sehr ausgebaut. Es gab neben der staatlichen und gemeindlichen Armenpflege und neutralen Organisationen (Winterhilfe usw.) auch kirchliche Institutionen, welche sich der Fürsorge der Armen widmeten. In Appenzell etwa half ihnen der Vincentiusverein mit Sach- und Geldspenden. So konnten sie zum Beispiel bei einem Bäcker einen Monat lag unentgeltlich Brot beziehen oder bekamen einen Sack Kartoffeln.35 Andere Vereine machten dort alljährlich Weihnachtsbescherungen für die Kinder armer Familien. In Obwalden existierten alte Spendstiftungen und das «Elisabethengeld» für Arme.36 Wie auch anderswo, gab es beiderorts in jeder katholischen Kirche einen speziellen, dem Antonius von Padua gewidmeten Opferstock. In diesen warf man vor allem Geld, wenn man einen Gegenstand verloren hatte und den mit Hilfe des Heiligen wieder zu finden hoffte. Die Erträgnisse gingen an die Armen. Ferner gab es sonntägliche Kirchenopfer zu deren Gunsten. Eine in der ganzen katholischen Welt bekannte und bis in die 1960er-Jahre noch viel benutzte Einrichtung war ferner die Klostersuppe. Es gab sie in den beiden Kapuzinerklöstern von Appenzell und Sarnen, ebenso in den beiden dort ansässigen Frauenklöstern sowie im Stift Engelberg. Die nicht allzu weit entfernt wohnenden Dorfarmen konnten sie dort mittags in einem besonderen Stübchen einnehmen oder sogar in einem Kesselchen nach Hause tragen37 und hatten damit wenigstens eine warme Mahlzeit im Tag. Es war ferner üblich, dass die Armen an die Türen der Pfarrhäuser klopften, um eine Gabe zu erbitten. Das Verhalten der geistlichen Herren dabei wird von den befragten Leuten unterschiedlich geschildert: Es gab neben zugeknöpften, ja geizigen, auch solche, die trotz ihrer damals nicht seltenen geringen Entlohnung sehr mildtätig waren, ja in Ausnahmefällen die Bettelleute sogar zu Tisch luden.38 Ein solches Verhalten konnte selbstverständlich von «Berufsbettlern» auch missbraucht werden und dann auf die Dauer lästig, ja fast erpresserisch werden. Dreiste Bettler wie in früheren Jahrhunderten gab es allerdings nur mehr selten; die meisten schämten sich ihres Zustands. Bei grossen und katastrophalen Unglücken, die sogar mehrere Familien betrafen, wurden, wie anderswo auch, spezielle Aktionen in Gang gesetzt, um den Betroffenen zu helfen.

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