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2.4 Soziale Beziehungen, Konkurrenz und Solidarität

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Die oft beschriebene typische Streusiedlung im Appenzellischen – etwas weniger ausgeprägt in Obwalden und den übrigen nordalpinen Landschaften – mit ihren arrondierten und eingezäunten «Heimaten» hat einige auswärtige Beobachter zur Vermutung veranlasst, wir hätten es hier mit einer Gesellschaft von ausgeprägten Individualisten zu tun. «Hochburg des Eigenwillens» titelte Fritz René Allemann seinen Beitrag über den Kanton.39 Wollte man aber andererseits in den 1940er- und 50er-Jahren am späten Mittwochmorgen die Hauptgasse des Dorfes Appenzell queren, so kam man kaum über die Strasse und hätte, wie der Volksmund sagte, «auf den Köpfen gehen müssen». So dicht standen die Bauern jeweils dort zusammen. Individualismus und Gemeinsinn schlossen einander also nicht aus.

Die Frage nach der Solidarität wurde von den Interviewpartnern nicht selten etwas ausweichend beantwortet: Wer schon hätte unsolidarisches Verhalten und Konkurrenzdenken, erst recht dauernden Zank und Hader zugeben wollen, sei es auch nur bei anderen Mitmenschen?40 Ein derartiges Verhalten wäre Sünde und direkt gegen das christliche Liebesgebot gewesen. Auf den bestehenden, aber nicht in jedem Fall konfliktträchtigen Gegensatz zwischen der Mittelschicht und den wenigen Grossbauern wurde schon hingewiesen. Zu Konkurrenzdenken konnte vieles Anlass geben: Wer hatte die ansehnlichsten Häuser und Ställe, den grössten Landbesitz, die fettesten Alpen, die schönsten Kühe, die am reichsten geschmückte Sennentracht (im Appenzellischen)? Doch derlei dürfte allgemein verbreitet sein, fand nur in der Bauernschaft des Voralpengebiets seine spezifische Ausprägung. Gelegentlich wurde darauf hingewiesen, die Solidarität sei früher grösser gewesen als heute – eine Feststellung, die für den Kenner der gegenwärtigen agrarischen Welt wohl keines Kommentars bedarf. In der Tat war wie in anderen Gesellschaften die bäuerliche Nachbarschaftshilfe in Problemsituationen (Zeitbedrängnis beim Heuen, Unwetterschäden, Unglücksfälle usw.) früher selbstverständlich – sich abseits haltende Aussenseiter wären da noch mehr an den Pranger gestellt worden. Andererseits gab es natürlich immer wieder Schwierigkeiten beim alltäglichen Zusammenleben. Anlass zu letztlich nicht selten beim Richter endenden Auseinandersetzungen gaben etwa umstrittene Quellen- und Wegrechte.41 Jahrzehntelange Familienfehden wurden in den Gesprächen nicht erwähnt. Sie sind nicht auszuschliessen, waren aber in den Bergen aus nachvollziehbaren Gründen mutmasslich seltener als im Tiefland.

Während der Arbeit gab es im Allgemeinen wenig zwischenmenschliche Begegnungen bei den Bauern, abgesehen etwa von den unmittelbaren Nachbarn und dem Zusammentreffen bei der täglichen Milchablieferung.42 Die wichtigste Kommunikationsmöglichkeit waren der sonntägliche Kirchgang und andere kirchliche Veranstaltungen, worauf noch einzugehen sein wird.43 In Appenzell gab es ausserdem allwöchentlich den eingangs erwähnten Mittwochsmarkt, der wegen seiner Singularität44 etwas näher betrachtet werden soll, vor allem auch, weil hier neben der geschäftlichen und kommunikativen Funktion auch die barocke Komponente der Musse zum Zuge kommt: Der Mittwoch wurde nämlich auch «Bauernsonntag» genannt. Nach Erledigung der morgendlichen Stallarbeit machten sich an diesem Tag die meisten Innerrhoder Bauern zu Fuss, allenfalls mit dem Fahrrad, auf den Weg ins Dorf.45 Sie trugen ein Stoffsäcklein («Reissäckli») mit sich, in welchem sie für den Rückweg ihre Einkäufe verstauten.46 Der Markt war zunächst Viehmarkt – wer also ein Tier zu verkaufen hatte, nahm die vierbeinige Ware mit sich. Man besorgte Einkäufe, in erster Linie Lebensmittel (die ja im Appenzellischen abgesehen von den tierischen kaum selber erzeugt wurden), aber auch etwa Tabak, Eisen- und Lederwaren und dergleichen. Mit den Erlösen aus Verkäufen zahlte man fällige Rechnungen und Bankzinsen bar. Man besorgte amtliche Geschäfte und holte notwendige Informationen (insbesondere die aktuellen Marktpreise) ein. Vor allem aber wurde die Gelegenheit wahrgenommen, Alles und Jedes, mit wem auch immer, zu besprechen. Diese Kommunikation fand im Freien statt – eben in der Hauptgasse (was bedeutete, dass dort mindestens für Autos kaum mehr ein Durchkommen war), auf den Marktplätzen oder aber in den bei dieser Gelegenheit ebenso randvollen Wirtschaften.47 Diese wurden zwingend bei einem grösseren Handel aufgesucht,48 sonst je nach Einkommenslage oder aber auch nach Entfernung von zu Hause. Vermögendere assen dort eine der bekannten Appenzeller Würste und tranken Wein oder Bier, andere begnügten sich mit Suppe oder einem Kaffee mit Gebäck, viele kehrten gar nicht ein. Im Laufe des Nachmittags, nachdem vielleicht noch ein Jass49 geklopft worden war, traten dann die meisten wieder den Heimweg an, um rechtzeitig für die abendliche Stallarbeit bereit zu sein. Vereinzelte, die erst spät, nach ausgiebigem Jassen und durch allzu reichlichen Alkoholgenuss bisweilen eher schwankend ihr Heim erreichten, trafen auf allgemeine Verachtung und auf ein empörtes Eheweib.

Der «Bauernsonntag» hatte kompensatorische Funktion. Der eigentliche Sonntag war ja nie ganz frei, sondern die Besorgung des Stalls beanspruchte genau gleich viel Zeit wie an einem Werktag. Deswegen liess man am Mittwoch die Arbeit draussen etwas ruhen und nahm sich einige Stunden frei, teils für notwendige geschäftliche Dinge, aber auch einfach zum Vergnügen. Weniger wichtige Arbeiten zu Hause konnte man eventuell den Söhnen überlassen. Am Mittwoch wurde nicht geheiratet, und es fand auch kein Alpaufzug oder -abzug statt.50 Eine Ausnahme war die Zeit des Heuens und Emdens; diese Arbeit hatte selbstverständlich Priorität vor dem Markt. Der Mittwochsmarkt in seiner traditionellen Form fand in den 1960er-Jahren sein Ende. Die Forderungen des zunehmenden Autoverkehrs liessen die stundenlange Blockierung der Hauptgasse nicht mehr zu. Die Bauern konnten ihre Einkäufe und Geschäfte anderweitig besorgen, zuletzt zunehmend auch mit dem Auto. Viehhändler und Futterverkäufer kamen auf den Hof, Rechnungs- und Zinszahlungen wurden per Post erledigt und die Marktpreise jeweils im «Volksfreund» publiziert. Dazu hatte auch jeder Bauernhof jetzt ein Telefon.

Eine vergleichbare Einrichtung gab es in Obwalden nicht. Hauptgrund war vermutlich die weniger zentralisierte politische und geschäftliche Struktur. In Appenzell konzentrierte sich alles auf den Hauptort, während man in Obwalden vieles in der Gemeinde erledigen konnte und nur ausnahmsweise nach Sarnen musste. Selbstverständlich gab es hier wie auch in Appenzell und überhaupt in der ganzen ländlichen Schweiz die grösseren saisonalen Jahrmärkte, besonders im Herbst.51 Sie dienten nicht nur dem Viehhandel, sondern boten durch die vielen Stände der wandernden Krämer auch ein grosses Warenangebot, für die Leute selbst wie für ihre bäuerliche Tätigkeit. In der Zwischenzeit kamen Viehhändler und Metzger in Obwalden selbst auf die Höfe, Einkäufe von Lebensmitteln, besonders Brot, konnten Frauen oder Kinder in der Nähe besorgen. Die sozialen Kontakte fanden hier mehr am Sonntag oder unter der Woche bei der Milcheinlieferung, beziehungsweise in den Wirtschaften statt, die besonders bei Schlechtwetter auch an Werktagen besucht wurden.

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