Читать книгу LANDLÄUFIG - Peter Kiefer - Страница 8

Оглавление

Sie ist zuerst nur ein Gesicht, das plötzlich über einer Zaunhecke erscheint, wie eines, das man träumt. Das Gesicht hat breite Wangen, eine breite Nase und stahlgraue, von dicken Brauen überwölbte Augen. Es ist ein wenig zur Seite geneigt und starrt mich schweigend an.

Hallo, sage ich und versuche halbwegs entspannt zu klingen.

Hallo, sagt das Gesicht und bewegt dabei lediglich die Lippen: Ich bin

Grete Hülsenbeck

Ich stelle mich ebenfalls vor, doch schon im nächsten Augenblick ist das Gesicht wieder verschwunden, wie ein Dia in einem alten Vorführgerät, das soeben dem nächsten Platz gemacht hat. Weder vernehme ich Schritte noch das Schlagen einer Tür. Sie ist ein Geist, denke ich und blicke hinüber zu dem mit grauschwarzen Schindeln verkleideten Giebel ihres Hauses, das sie, wie man mir gesagt hat, alleine bewohnt. Es ist ein geräumiges altes Bauernhaus mit einer großen Scheune. Manche wollen von da schon merkwürdige Klagelaute vernommen haben und sprechen sogar von Selbstgeißelungen.

Als ihr Gesicht das nächste Mal über der Zaunhecke erscheint, sagt es lediglich den Satz: Intra muros peccatur et extra2.

Ist sie eine von diesen Frömmlerinnen, die überall Unrat und Verderbnis wittern und es nie verwunden haben, dass in der katholischen Kirche kein Latein mehr gesprochen wird? Oder ist sie bloß ein durchtriebenes Frauenzimmer, das es darauf anlegt, Verwirrung in den Köpfen seiner Nachbarn zu stiften?

Auf dem jährlichen Sommerfest des Dorfes ist sie mit einem kleinen Zelt vertreten. Manche von außerhalb, die es nur im Vorübergehen wahrnehmen, denken sicher, dass einem darin jemand aus der Hand lesen würde. Aber andere wissen es besser. Weder muss man bei ihr seine Handfläche hinhalten, noch liest sie die Zukunft aus einer Kristallkugel, legt Karten oder erstellt Horoskope. Stattdessen hat sie etwas zu verkünden und wer immer sich einmal in ihr Zelt getraut hat, kommt leicht verstört wieder heraus.

Meine Neugierde ist geweckt und ich betrete das kleine runde Zelt mit dem kegelförmigen Dach. Da sitzt sie an einem Tisch, dessen Platte kaum größer ist als die Sitzfläche eines Stuhls, und eine Petroleumlampe taucht alles in ein unruhiges Licht. Sie begrüßt mich sofort mit meinem Namen, lächelt aber nicht dabei, sondern zeigt nur wieder dieses maskenhafte Gesicht, das ich von der Zaunhecke kenne.

Fünf Euro, bitte.

Ich lege den entsprechenden Schein auf das Tischchen und nehme ihr gegenüber auf einem eisernen Gartenstuhl Platz.

Sie hat ein dünnes Büchlein aus ihrer Schürzentasche geholt, schlägt es an einer scheinbar beliebigen Stelle auf und liest einfach los: Und ich sah einen großen weißen Thron und den, der darauf saß, vor dessen Angesicht die Erde entfloh und der Himmel, und keine Stätte wurde für sie gefunden. Und ich sah die Toten, die Großen und die Kleinen, vor dem Thron stehen, und Bücher wurden geöffnet; und ein anderes Buch wurde geöffnet, welches das des Lebens ist. Und die Toten wurden gerichtet nach dem, was in den Büchern geschrieben war, nach ihren Werken. Und das Meer gab die Toten, die in ihm waren, und der Tod und der Hades gaben die Toten, die in ihnen waren, und sie wurden gerichtet, ein jeder nach seinen Werken. Und der Tod und der Hades wurden in den Feuerpfuhl geworfen. Dies ist der zweite Tod, der Feuerpfuhl. Und wenn jemand nicht geschrieben gefunden wurde in dem Buch des Lebens, so wurde er in den Feuerpfuhl geworfen.

Sie klappt das Büchlein wieder zu, blickt aber nicht zu mir auf, sondern verharrt in ihrer vorgebeugten Haltung.

Was ist das für eine Schrift?, frage ich.

Sie antwortet: Selig der Leser und die Hörer der prophetischen Worte und die sich an das halten, was darin geschrieben steht. Denn die Zeit ist nah.

Sie sagt diese Sätze mit fast geschlossenen Augen. Dann schweigt sie wieder.

Okay, sage ich, erhebe mich und verlasse das Zelt. Es ist blauweiß gestreift, aber das kann Zufall sein.

LANDLÄUFIG

Подняться наверх