Читать книгу Deutsche Literatur - Peter Nusser - Страница 66
Versuche der Volksaufklärung; Johann Peter Hebel
ОглавлениеAll diese von geschäftstüchtigen Bürgern für die ‚kleinen Leute‘ verfassten Lesestoffe wurden von anderen Bürgern bekämpft, jedenfalls von einem Teil derer, die sich der Aufklärungsbewegung zugehörig fühlten. Andererseits gab es gerade unter diesen neuen ‚Staatsbürgern‘ auch manche, die der Aufklärung des einfachen Volkes skeptisch gegenüberstanden, weil sie politische Konsequenzen befürchteten. Immerhin kam die ‚Volksaufklärung‘ seit den siebziger Jahren wenigstens als Fragestellung allgemein in den Blick, während bis dahin die unteren sozialen Schichten ganz am Rande des bürgerlichen Interesses lagen, von der pädagogischen Volksschulbewegung einmal abgesehen. Obwohl die neue allgemeine Diskussion um die ‚Volksaufklärung‘ über diese schulpädagogischen Bemühungen weit hinausgingen,45 bewegten sie sich aber doch in deutlich erkennbaren Grenzen. Vor allem sollte die ständische Ordnung nicht unterminiert werden, sollten die traditionellen Aufgaben und Pflichten der Bauern bestehen bleiben. Die proklamierte Gleichrangigkeit der Menschen bezog sich in der Praxis im Wesentlichen auf die Gleichrangigkeit von Bürgern und Adligen. Insofern richtete sich die ‚Volksaufklärung‘ auch weniger auf die Förderung des Wissens und die intellektuelle Befähigung der ‚kleinen Leute‘ als vielmehr auf deren Gesittetheit und auf praktische Fertigkeiten, die dem allgemeinen Nutzen dienten. Neben zahlreichen Zeitschriften und Lexika für Bauern erschien 1788 das Noth- und Hülfs-Büchlein für Bauersleute von Rudolf Zacharias Becker, das in der Tradition der Moralischen Wochenschriften stand und mit seinen Ratschlägen für eine sinnvolle Lebensführung zum auflagenstärksten Buch der Aufklärung überhaupt wurde. Allerdings wurde es von den wenigstens Bauern selbst gelesen, geschweige denn gekauft; Lehrer und Pfarrer nutzten es als Vorlesebuch.
‚Volksaufklärung‘ war in diesem Verständnis – ganz analog zu den trivialen Lesestoffen ‚für‘ die ‚kleinen Leute‘ – der Beitrag von Bürgern ‚für‘ die Aufklärung des einfachen Volkes. Von dessen Selbstaufklärung war nicht die Rede. An sie dachte als einer der wenigen vor allem Johann Peter Hebel, dessen Bedeutung unter den bürgerlichen Volksaufklärern der Jahrhundertwende einzigartig ist.46 Hebel war evangelischer Kirchenrat und unterrichtete seit 1791 am Karlsruher Gymnasium, dessen Direktor er 1808 wurde. Es gehörte zu den Privilegien dieses Gymnasiums, den Badischen Landkalender herzustellen, dessen Kauf seit 1798 jedem Untertan vom Großherzog Karl Friedrich aufgezwungen wurde.47 Das landesherrliche Interesse am Vertrieb dieses Kalenders war deshalb so groß, weil er als ein geeignetes Instrument angesehen wurde, die ungebildete Landbevölkerung durch unterhaltende Beiträge von politischer Diskussion abzulenken, sie durch mit Aberglauben verbundene praktische Ratschläge unmündig zu halten und sie durch moralisierende Geschichten zu beschwichtigen. Diese intendierte Verdummung des Volkes durch die Kalender war Hebel zuwider. Von 1807 bis 1814 und noch einmal 1818 gab er selbst diesen Kalender heraus (seit 1808 unter dem Titel Der Rheinländische Hausfreund) und versuchte – ein auch politisch gewagtes Unterfangen – durch dieses Medium als Vermittler aufklärerischer Gedanken zu wirken. Dabei war ihm klar, dass er seine Leser mental da abholen musste, wo sie sich befanden. Das erklärt z.B., warum der Kalender auch unter dem Herausgeber Hebel immer noch allerlei obskure astrologische und medizinische Aussagen enthielt (zum Beispiel eine – immerhin vom schlimmsten Unsinn befreite – Aderlasstafel). Andererseits legte Hebel viel Wert auf naturwissenschaftliche Belehrung, und selbst sein in die Weltliteratur eingegangenes Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes (1811), das er auf Drängen des Verlegers Cotta für das gebildete bürgerliche Publikum zusammenstellte, das sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts verstärkt für die Literatur des einfachen Volkes zu interessieren begann (man denke an die Volksliedersammlung Arnims und Brentanos von 1806 und an die in diesen Jahren einsetzende Sammlertätigkeit der Brüder Grimm), wird von einer ‚Allgemeinen Betrachtung über das Weltgebäude‘ eingeleitet. Während Cotta nur die in den Kalendern erschienenen Geschichten publizieren wollte, hielt Hebel beharrlich daran fest, den bürgerlichen Lesern dieser Sammlung einen Eindruck von allen Aspekten seiner aufklärerischen Kalenderarbeit zu vermitteln, und stellte seine Geschichten neben naturwissenschaftliche Abhandlungen, unterhaltsame Rätsel, Rechenexempel u.a. – ganz wie in den Kalendern selbst. Auch seine berühmteste Geschichte, Unverhofftes Wiedersehen, für Ernst Bloch die „schönste Geschichte von der Welt“, ist an seine Neugier auf naturwissenschaftliche Erkenntnis gebunden. Hebel entnahm den Stoff für diese Geschichte, der später auch Hugo von Hofmannsthal zu einer Erzählung reizte, den Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808) von Gotthilf Heinrich Schubert, der darin über eine Leichenbalsamierung durch Eisenvitriol berichtet. Auch Schubert nimmt, ebenso wie Hebel, das damit verbundene Ereignis im schwedischen Bergwerksort Falun, wo eine alte Frau in einem ans Licht gebrachten Toten ihren unverändert aussehenden Verlobten von vor 50 Jahren, dem sie treu geblieben war, wiedererkannte, nicht als naturwissenschaftliche Sensation, sondern als Beispiel für die Leben und Tod verbindende Kraft der Liebe. Nur erhält bei Hebel, der gern auf Überliefertes oder auch auf in Zeitungen und Journalen berichtete Vorfälle zurückgriff und sie bearbeitete, diese Geschichte eine besondere Tiefe und Weite dadurch, dass er an ihrem Ende eine metaphysische, christliche Perspektive eröffnet. – Man hat den in vielen seiner Geschichten Ausdruck findenden christlichen Glauben des Theologen Hebel (der 1821 Ehrendoktor der theologischen Fakultät der Universität Heidelberg wurde) gern zum Anlass genommen, ihm eine moralisierende Haltung gegenüber seiner Leserschaft aus dem einfachen Volk zu attestieren, dabei aber jedenfalls übersehen, dass christliche über bürgerliche Wertvorstellungen weit hinausgehen. Besonders deutlich wird dies an einer relativ unbekannten Kalendergeschichte, an Jakob Humbel,48 die Hebel ebenfalls in sein Schatzkästlein aufnahm und die nicht nur sein Aufklärungsprogramm exemplarisch verdichtet, sondern zugleich auch zeigt, mit welchen Mitteln er versuchte, seine eigentlichen Adressaten, die Bauern und Handwerker, zu eigenen Denkprozessen, zur Selbstaufklärung zu ermutigen. Jakob Humbel beschreibt den beruflichen Werdegang eines Schweizer Bauernburschen, der allen Niederlagen und Hindernissen zum Trotz endlich das ersehnte Studium der Tiermedizin in Karlsruhe beginnen kann, nach glänzend bestandenen Examen in seine Heimat zurückkehrt und dort seinen Mitbürgern als geschickter Tierarzt dient. Damit weist diese Geschichte den Lesern den Ausweg aus einer Situation, die ihnen, die in ihrer medizinischen Versorgung weitgehend von Barbierern, Badern und Kurpfuschern abhängig waren, bestens bekannt war. Auch bei dieser Geschichte griff Hebel auf eine Vorlage zurück, auf die 1804 im Schweizerboten veröffentlichte gleichnamige Geschichte des ‚Volksaufklärers‘ Heinrich Zschokke. Doch anders als Zschokke, der seinen Lesern zeigen wollte, dass auch ein Bauernbursche zu einer bürgerlichen Karriere befähigt ist, legt Hebel den Akzent auf die Gemeinnützigkeit der ärztlichen Tätigkeit, zu der sich sein Protagonist aus vollem Herzen bekennt. Daraus spricht, ohne dass davon Aufhebens gemacht würde, Luthers Auffassung von der Arbeit als ‚Beruf‘, als Berufung jedes Christen, seine Arbeit in die Verantwortung vor Gott und seine Schöpfung und in die Hingabe an den Mitmenschen, in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. Vom Bürgertum so favorisierte Tugenden wie Fleiß, Ausdauer u.ä., die von Zschokke gelobt werden, sind für Hebel nur von Bedeutung, sofern sie unter der sie begründenden und tragenden christlichen Wertvorstellung der Nächstenliebe stehen, die alle Standesgrenzen aufsprengt. So entschieden diese radikale ‚Moral‘ von Hebel in dieser und in anderen Geschichten vertreten wird, moralisierend vorgetragen wurde sie deswegen nicht. Im Gegenteil ist der Erzählton seiner Geschichten niemals anbiedernd, um Zustimmung heischend, sondern vielmehr sachlich und oft ironisch distanziert. Selbst die von Hebel gern gewählte Anrede des Lesers, die eine vertrauliche Gesprächssituation suggeriert, wird diskret eingesetzt und will niemanden in die Enge treiben. So unterbricht Hebel in Jakob Humbel die Erzählung zwar immer wieder mit einem „Ich weiß einen …“, um Innehalten beim Lesen und Nachdenklichkeit zu bewirken, verzichtet aber auf Ermahnungen. Stattdessen spricht der Schlusssatz eine Ermutigung aus, die dem Angesprochenen seine Freiheit lässt. In der Kalenderfassung heißt es: „Weißt du was? Nimm Gott zu Hilfe, und probiere es noch!“ (nämlich etwas aus dir zu machen). In den gelungensten Geschichten geht das Didaktische, das der Kalendergeschichte eigen ist, auch immer wieder in der Bildlichkeit des Erzählten selber auf – etwa wenn Jakob Humbel (in der Erzähltechnik des Volksmärchens) gezeigt wird als einer, der Wege zurücklegt und Hindernisse überwindet. Dies hat nicht nur eine unterhaltende Wirkung, indem es das innere ‚Mitgehen‘ des Lesers evoziert, sondern ist eben auch von symbolischer Aussagekraft. Der Weg des Lebens, den der Protagonist geht, gewinnt eine klare Linie erst von dem Moment an, als er seinen Wunsch, in die Stadt, an den Ort der Aufklärung zu gelangen, entschlossen verwirklicht; das Ziel des Lebenswegs aber ist erst erreicht, nachdem er aufs Land zurückgekehrt ist, um dort seine noch unaufgeklärten Mitmenschen an seinem Wissen und Denken teilhaben zu lassen.
Über die tatsächliche Wirkung Hebels unter den ‚kleinen Leuten‘ ist wenig bekannt. Wir wissen nur, dass die Auflage des Kalenders seit 1809 sprunghaft anstieg und dass er auch in städtischen Haushaltungen gekauft wurde.49 Dass Hebel auch im gehobenen, aufgeklärten Bürgertum große Anerkennung genoss, belegen die Äußerungen Goethes und Jean Pauls, die zu seinen begeisterten Lesern gehörten.