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Die Lesestoffe der ‚kleinen Leute‘
ОглавлениеDiese Lesestoffe bestanden zumeist aus – noch näher zu beschreibenden – Einblattdrucken und Heften, die den vielen Analphabeten von den wenigen Lesekundigen vorgelesen wurden.
Sie ergänzten die mündlich tradierte ‚Volkspoesie‘, also Volkslieder, Volksmärchen, Volkssagen u.a., die bis ins 18. Jahrhundert hinein in der Tat hauptsächlich – dies ist bereits in P. N., 2012 a, IV dargelegt worden – unter den Angehörigen der sozialen Unterschichten lebendig waren. Kann man die Zeugnisse der ‚Volkspoesie‘ – wenn auch auf Grund der Bearbeitungen ihrer ‚aufgeklärten‘ Sammler sicherlich mit Einschränkungen – als volkskulturelle Ausdrucksformen begreifen, so ist dies bei den Einblattdrucken und Heften kaum möglich. Denn die durch diese Medien vermittelten Texte wurden ziemlich ausschließlich von geschäftstüchtigen Bürgerlichen ‚für‘ die ‚kleinen Leute‘ hergestellt, einerseits um sie zu unterhalten, andererseits um sie anzupassen – der Obrigkeit oder zumindest, wie am Beispiel der Bänkellieder und Bänkelsängerhefte nachgewiesen worden ist,36 gesellschaftlich reaktionären Konventionen. Aufklärerische Gedanken wird man in diesen trivialen Lesestoffen schwerlich finden. Die Produzenten der Einblattdrucke und Hefte verfuhren dabei insofern meist außerordentlich geschickt, als sie sich in der Wahl von Themen und Motiven, aber auch sprachlich dem Erwartungshorizont der ‚kleinen Leute‘ anpassten und dabei auch an Traditionen der ‚Volkspoesie‘ und darüber hinaus auch an allerlei abergläubische Vorstellungen anknüpften. Die vielen Berührungspunkte zwischen ‚Volkspoesie‘ und massenhaft verbreiteter Trivialliteratur sind erst wenig erforscht, aber auch heute weiterhin spürbar, etwa wenn Schlager Motive und Strukturen von Volksliedern oder Heftromangenres Märchen- und Sagenmotive aufgreifen.37
Einblattdrucke, meist mit hohem Bildanteil, waren seit dem 15. Jahrhundert verbreitet und wurden (als Flugblätter) nicht nur für politische Zwecke genutzt, sondern auch für Mitteilungen über Naturkatastrophen, Seuchen, Schlachten usw. Besonders häufig wurden religiöse Themen angesprochen. Marien- und Heiligenbilder beispielsweise trugen christliche Vorstellungen weiter und besaßen für die Besitzer solcher Blätter offenbar auch eine magische Schutzfunktion. Gern wurde über das Martyrium von Heiligen erzählt, wobei die von ihnen erlittenen Grausamkeiten um sensationeller Effekte willen breit ausgestaltet wurden.38 So vermischte sich Religiöses mit Profanem, Unterhaltsames mit Informativem.
Mit den Einblattdrucken, die sich heute noch in der Form des Plakats oder Posters erhalten haben, konkurrierten die broschierten Heftchen. Zu ihnen gehörten als eine erste Gruppe die Sensationsberichte, in denen über historische Ereignisse, Unglücksfälle, Verbrechen, Kuriositäten usw. berichtet wurde. Entgegen allem Anschein, den sie sich gaben (im 16. Jahrhundert hießen sie ‚Neuwe Zeitung‘), waren sie keineswegs immer aktuell, sondern wiederholten längst Bekanntes (eben auch ‚Sagenhaftes‘ in variierender Aufmachung. Geschrieben wurden sie von Bürgerlichen (auch Geistlichen), verbreitet durch Kolporteure oder auf Jahrmärkten. Der Übergang solcher Sensationsberichte zur Zeitung ist fließend. Aber während die Zeitung, aus einem berufsständischen Korrespondenzsystem heraus sich entwickelnd, auf das Nachrichtenbedürfnis der am Warenverkehr beteiligten Bürger, der Kaufleute, Bankiers, Manufakturisten, Verleger, dann zunehmend auch der Verwaltungsbeamten zielte, blieb der von der Landbevölkerung und vom Kleinbürgertum entzifferte Sensationsbericht viel stärker dem Bedürfnis nach Emotionalisierung verhaftet.
Eine andere Gruppe der kleinen Broschüren bildeten die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts weit verbreiteten Kalenderhefte. Sie bestanden aus dem Kalendarium und astronomischen Daten, dem Spatium, einem freien Raum für Notizen (vgl. den heutigen Notizkalender) sowie der so genannten Praktik, in der astrologische, wetterkundliche, medizinische, wirtschaftliche Ratschläge und Prognosen gegeben wurden. Schon am Ende des 16. Jahrhunderts wurden Abwechslung bietende Zusätze hinzugefügt, z.B. Horoskope, Rätsel, Anekdoten, Wundergeschichten, die das Kalenderheft, das in erster Linie nützliche Informationen vermitteln wollte, zugleich zum Unterhaltungsträger machten.
Mehr noch als die Kalenderhefte zielten als ‚Volksbüchlein‘ bezeichnete Broschüren auf (oft belehrende) Unterhaltung. Man darf sie nicht mit den im Bürgertum gelesenen Volksbüchern verwechseln, die epische Stoffe des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit aufbereiteten. Die ‚Volksbüchlein‘ waren der in Frankreich erscheinenden ‚Bibliotheque Bleue‘ nachgebildet und enthielten Witzsammlungen, Erotica, populäre Lieder, Mordberichte und anderes mehr, aber beispielsweise auch – hier spürt man die Herkunft ihrer bürgerlichen bzw. geistlichen Verfasser besonders deutlich – Anstandsregeln oder Beichtanleitungen. Der thematischen Vielfalt waren kaum Grenzen gesetzt. Auch die Bänkelsänger-Hefte, die auf den Jahrmärkten verkauft wurden, lassen sich in diese Gruppe einordnen. Sie erzählten aufrührende Liebes- und Verbrechensgeschichten sowohl in Prosa als auch in Liedform, die der Bänkelsänger, um Käufer anzulocken, zuvor mit Schild, Stab und Gesang angepriesen hatte.
Die heute wöchentlich in Millionenhöhe verkauften Heftromane, die längst den Hauptanteil aller gelesenen fiktionalen Literatur ausmachen, gehen dagegen auf (vorwiegend mediengeschichtliche) Entwicklungen erst des 19. Jahrhunderts zurück. Sie lehnen sich eng an die im Bürgertum ausgebildeten Genres des Unterhaltungsromans an und werden, wie die Comic-Hefte, nicht nur von Angehörigen der unteren sozialen Schichten gelesen – wenn auch immer noch in überwiegendem Maße.39
Überblickt man all diese Einblattdrucke und Hefte,40 so ist zunächst – wie in der ‚Volkspoesie‘ – ihre sprachliche und strukturelle Einfachheit signifikant. Die gewählte Sprache ist der Leserzielgruppe vertraut – kühne Metaphern oder eine komplizierte Syntax würden die unmittelbare Verständlichkeit und Wirksamkeit dieser Literatur beeinträchtigen. Die Handlungen sind schematisch strukturiert; Reihungen vergleichbarer Handlungselemente und Wiederholungen fördern die Orientierung des Lesers. Ihr dient auch der leicht durchschaubare Dualismus von ‚gut‘ und ‚böse‘, ‚schön‘ und ‚hässlich‘, ‚klug‘ und ‚dumm‘ usw. – Schwieriger ist es schon, thematische und motivliche Schwerpunkte zu nennen, die für diese populären Texte besonders typisch sind. Es ist aber z.B. unübersehbar, dass in ihnen die Armut und das Unglück eine maßgebliche Rolle spielen. Dabei fällt auf, dass diese Zustände von den handelnden Figuren gleichsam als gottgegeben hingenommen werden. Wer auf Grund seiner verzweifelten sozialen Lage aus der Bahn geworfen wird, der wird am Ende oft sogar grausam bestraft (so etwa die Kindermörderinnen im Bänkelsang; zur Behandlung dieses gerade im 18. Jahrhundert relevanten Motivs in der bürgerlichen Literatur vgl. unten S. 195). Wer solche Texte las, sollte sich offenbar damit beruhigen, dass es ihm – als Rechtschaffenem – viel besser ging als den das dargestellte Unglück durchleidenden Figuren. Im Gegensatz zum Märchen, das, sofern es Armut und Unglück thematisierte, die Wunschträume der Ausgebeuteten ins Bild setzte und damit eine zukunftweisende Dimension erhielt, begnügten sich die von bürgerlichen Schreibern und Verlegern hergestellten Lesestoffe für die ‚kleinen Leute‘ zumeist mit Tröstungen, vor allem mit den immer wiederkehrenden Oxymora vom unglücklichen Reichen und glücklichen Armen.
Eine tröstende Funktion hatten diese Lesestoffe letztlich auch da, wo sie den Helden vorstellen, der Einzelne aus ihrer Misere befreien kann, den Räuber, der Reiche schädigt und Armen gibt. Denn auch der Räuber rührt nicht an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern hilft nur in Einzelfällen. Auch die in der bürgerlichen Unterhaltungsliteratur in Deutschland insbesondere nach der Französischen Revolution so beliebten Räubergestalten (den erfolgreichsten unter den zahllosen Räuberromanen dieser Zeit, Rinaldo Rinaldini, der Räuber Hauptmann, 1799, schrieb Goethes Schwager Christian August Vulpius) verhalten sich nicht politischer; aber sie fangen ein diffuses Protestpotenzial von Lesern auf, die, wie man heute gerne betont, zu einer eigenen Revolution nicht in der Lage waren. Im 19. Jahrhundert wurden in der Literatur für die ‚kleinen Leute‘ (und ebenfalls nicht nur in ihr) dann sehr bald einzelne Kriegshelden und Generäle (Friedrich der Große, Blücher u.a.) zu Idolen stilisiert. Sie standen nicht mehr für eine Protesthaltung, sondern stärkten durch väterlich beschützendes Verhalten gerade die Hoffnung auf Sicherheit und Stabilität des Bestehenden.
Einen weiteren Themenkreis der bürgerlich gelenkten Lesestoffe zumal für die Landbevölkerung bildeten Krieg und Patriotismus. Kriege für das Vaterland mussten schon deswegen verherrlicht werden, weil die Bauern die Rekruten zu stellen hatten, die in den Schlachten niedergemetzelt wurden. Folgerichtig wurde deswegen das Grauen des Tötens und Sterbens übergangen (eine Gepflogenheit, die sich bis in die heutigen Heftromane über den Zweiten Weltkrieg fortgesetzt hat) und von patriotischen Gesinnungsäußerungen und Beschimpfungen des Gegners überspielt. War es einmal anders, schritt die Zensur ein.41
Zu den auffälligsten thematischen und motivlichen Schwerpunkten gehörten schließlich Darstellungen von Gewalttätigkeiten unterschiedlichster Art. Sie sind bei einem Publikum, das selbst – in Elternhaus, Schule, Lehre oder anderswo – an gewalttätige Behandlungen gewöhnt war, offenbar auf besondere Empfänglichkeit gestoßen.42 Dabei sind die Handlungszusammenhänge, in die zum Teil ganz sadistische Akte eingebettet wurden, von nachgeordneter Bedeutung. Es ging um die Reizmomente als solche, die von Folterungen bis zur Vergewaltigung von Frauen und Exekutionen reichen, die jeweils in allen Einzelheiten geschildert wurden.43 Die Grausamkeiten richten sich dabei gegen diejenigen, die auch in der Realität unterdrückt wurden; nur konnte der Leser bzw. Hörer, der selbst nicht betroffen war, während des Rezeptionsvorgangs einmal in die Rolle dessen schlüpfen, der Gewalt nicht erleidet, sondern austeilt, und auf diese Weise die eigene angestaute Wut wenigstens in der Phantasie, und zwar gerade auch in der Form verbotener Zuspitzungen und Verzerrungen, ausleben. Welche Faszination von Gewaltdarstellungen ausging, belegen beispielsweise auch die Volksmärchen, die selbst noch in den spätesten – pädagogisch befrachteten – Fassungen der teilweise auf mündliche Überlieferung zurückgehenden Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm so viele Grausamkeiten enthalten, dass der Verkauf dieser Sammlung von den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland zeitweilig verboten wurde. Freilich wurde dabei übersehen, dass in ihnen Grausamkeiten nie in actu geschildert oder gar ausgemalt werden, was die Gefahren ihrer Wirkung beträchtlich reduziert. Gegenwärtig verbreitete Heftromangenres (insbesondere Horror-Heftromane) greifen dagegen auf die populären Hefte vergangener Jahrhunderte zurück und lassen die Leser deren in der Realität erlittene Frustrationen auf sehr problematische Weise durch detailliert vorgeführte Gewaltdarstellungen abreagieren.
Überblickt man die angeführten thematischen und motivlichen Schwerpunkte, so sticht deren manipulative Funktion deutlich hervor: Die Misere der Leser/Hörer wird verbrämt, die Opferhaltung des einfachen Mannes gefestigt, bei den Rezipienten vorhandene Aggressionen werden, indem Identifikationsfiguren den inneren Mitvollzug gewalttätiger Strafaktionen erlauben, abgebaut oder in ungefährliche Bahnen gelenkt, um nur einiges zu nennen. Gleichzeitig antworten die Lesestoffe für die ‚kleinen Leute‘ (damals kaum anders als heute) auch auf deren Bedürfnisse44 – auf ihr Informationsbedürfnis, das sich u.a. in dem Wunsch äußert, zu erfahren, wie andere Menschen sich in Extremsituationen des Lebens verhalten, um daraus zu lernen, worin das sozial Gültige liegt; auf ihr Bedürfnis nach Kontakt und Trost, das u.a. durch den direkten Zuspruch des Erzählers, durch erbauliche Kommentare oder (wie besonders im Bänkelsang) reflektierende, Sicherheit gebende Einschübe befriedigt werden kann; schließlich auch auf das – wohl am wenigsten schichtenspezifisch gebundene Bedürfnis – nach Realitätsflucht, auf das die Texte je nach Genre unterschiedlich antworten, z.B. mit der Überhöhung der Identifikationsfiguren oder mit der Darstellung der Wirklichkeit als einer prinzipiell ‚heilbaren‘, in der es möglich ist, Konflikte oder das Unglück zu bewältigen, auf welche Weise auch immer.