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5. Anmerkungen zur europäischen Schäferliteratur und ihrer Bedeutung

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In vielen Beispielen der petrarkistischen Lyrik deutscher Barockautoren finden sich Motive, die ihnen aus der europäischen Schäferdichtung vertraut waren. Die Schäferdichtung bzw. Bukolik (abgeleitet von gr. ‚boukolos‘ = Rinderhirte) hatte sich seit den Dichtungen Theokrits und später vor allem den im 1. Jahrhundert v. Chr. entstandenen Eklogen Vergils schon in der Antike zu einer von Regeln bestimmten Literaturform entwickelt, von der sich viele Dichter der Renaissance, des Barockzeitalters, auch noch des 18. Jahrhunderts inspirieren ließen. Zum festen Bestand bukolischer Dichtung gehörte seit Vergil die Darstellung des glücklichen Einklangs von Mensch und Natur, des in eine idyllische Landschaft eingebetteten humanen Umgangs der Menschen miteinander, ihres freundschaftlichen Gesprächs und befreiten Gesangs. Es liegt auf der Hand, dass ein solches Bild der Natur als Raum menschlicher Verwirklichung auch zivilisationskritisch genutzt werden konnte.

Schon in Vergils Bukolik ist Politik präsent,135 insofern Politik sich an dem idealen Zustand der Eintracht, der in der fiktionalen Hirtenwelt abgebildet wird, messen lassen muss. So verpflichtet Vergil den Herrscher (Oktavian), in verschlüsselter Weise, auf die Aufgabe des Friedensstifters und verbindet mit diesem ‚Zuspruch‘ sein Regentenlob. Umgekehrt bot die Schäferdichtung auch die Möglichkeit, den Herrscher und seinen Hof (als den Ort zivilisierten gesellschaftlichen Zusammenlebens) durch die bloße Konfrontation mit dem dargestellten Arkadien wenigstens indirekt zu tadeln – eine Möglichkeit, von der zuweilen in der Renaissance Gebrauch gemacht wurde, besonders eindrucksvoll von Torquato Tasso, dessen Schäferdrama Aminta (1573) den Verdruss an höfischen Zwängen und höfischer ‚Ehre‘ deutlich werden lässt. Hofkritik, aber auch Regentenerziehung und Regentenmahnung nur in verschlüsselter Form anzubringen, lag für die Dichter in den Zeiten absolutistischer Herrschaft im eigensten Interesse, ganz abgesehen davon, dass Verschlüsselungen, allegorische Verkleidungen, Anspielungen ihrer Lust an gelehrter Kennerschaft entsprachen, und erklärt das breite Anwachsen dieser Literaturform in ganz Europa gerade während des 16. und 17. Jahrhunderts – wie andererseits ihr Verebben während des 18. Jahrhunderts aus dem Zusammenbrechen der alten politischen Ordnungen und aus dem sich durch das Aufkommen der Empfindsamkeit verändernden Selbstverständnis der Dichter verständlich wird (vgl. II).

Während der Renaissance sind Tausende von Schäferdichtungen geschrieben worden,136 nicht nur schäferliche Liebesgedichte und – nach Vergils Vorbild – Eklogen (Hirtengedichte), sondern auch Schäferdramen und -romane. Als Dramatiker trat neben dem schon erwähnten Tasso der auf Hofkritik ganz verzichtende Giovanni Battista Guarini mit seinem Pastor fido (1590) hervor, schäferliche Motive finden sich u.a. bei Calderón de la Barca, Lope de Vega, van den Vondel, Shakespeare. Auch der Schäferroman geht auf Italien zurück. Das meistgelesene Werk war Iacopo Sannazaros Arcadia (in autorisierter Fassung 1504 erschienen); in Spanien schrieb Cervantes seine Galatea (1585), in Frankreich Honoré d’Urfé den Roman L’Astrée … (1607–27). – In Deutschland spielten die Großformen pastoraler Poesie dagegen kaum eine Rolle. Zu erwähnen sind aber ganz generell die nach italienischem Vorbild verfertigten, sich die Höfe erobernden Schäferopern (während die sich von deren Prunk abkehrenden kleinen Schäferspiele bereits zu einer Idyllik gehören, wie sie im 18. Jahrhundert geschätzt wurde) sowie als besondere – bürgerliche – Varianten des Schäferromans am ehesten Philipp von Zesens Die adriatische Rosemund (1645), Johann Thomas’ Damon und Lisille (1663–72) sowie die Kunst- und Tugend-gezierte Macarie (1669–73) des Ehepaars Heinrich Arnold und Maria Catharina Stockfleth.137 Größeren Anklang fanden die Ekloge und das schäferliche Liebesgedicht, nicht nur bei einzelnen, sich des Neulateinischen bedienenden Humanisten, sondern vor allem in den städtischen Dichtergesellschaften (allen voran im schon erwähnten, von Harsdörffer und Klaj 1644 begründeten ‚Hirten- und Blumenorden an der Pegnitz‘), in denen zu den verschiedensten Anlässen Gelegenheitsgedichte entstanden, die mit solch dominierenden pastoralen Motiven wie der Hirtenklage, dem Bekenntnis zur einfachen schäferlichen Geliebten, der Aufforderung zum Liebesgenuss andeutungsreich, auch anzüglich, jedenfalls unterhaltsam spielten. Dass der Preis des einfachen ländlichen Lebens andererseits auch religiösen Bedürfnissen entgegenkommen konnte, ist davon unberührt.

Überhaupt war die petrarkistische deutsche Lyrik von Opitz bis Günther in der Verwendung schäferlicher Motive vielseitig und verfolgte im Übrigen durchaus auch politische Absichten. Während manche Dichter aus dem Kreis um Opitz die Hirtenmaske nutzten, um u.a. standespolitische Fragen aufzuwerfen und die soziale Kluft zwischen dem Adel und dem gehobenen (gelehrten) Bürgertum zu überspielen, öffnete Sigmund von Birken, der zeitweilig den ‚Hirten- und Blumenorden an der Pegnitz‘ leitete, diese Dichtervereinigung auch den Frauen und nahm der gerne im Munde geführten Rede vom Tugend- und Wissensadel auf diese Weise den Charakter der Floskelhaftigkeit. Er gewann Catharina Maria Dobenecker und Maria Catharina Stockfleth als Mitglieder, stand mit Catharina von Greiffenberg in ständigem Kontakt und huldigte in einer programmatischen Ekloge der Fürtrefflichkeit des Lieblöblichen Frauenzimmers (1669). Ganz anders bediente sich der zuletzt besprochene Günther schäferlicher Motive. Sein Gedicht An Selinden (1719) beginnt mit den folgenden Versen:

Hier setze dich, verschämtes Kind;

Hier ist gut sein, hier laß uns bleiben,

Wo Lind und West gesprächig sind

Und Fels und Wald den Gram vertreiben;

In dieser grünen Einsamkeit,

Wo Bach und Stein und Blätter rauschen,

Soll weder List, Gefahr noch Neid

Den süßen Frühlingsscherz belauschen.138

Hier sind alle Elemente des aus der antiken Bukolik bekannten ‚locus amoenus‘ beisammen: die ‚Einsamkeit‘ garantierende Lage, Bach und Fels, Bäume und Wind, die miteinander ‚gesprächig‘ sind wie die Liebenden. Aber der ‚locus amoenus‘ ist hier nicht der Ort selbstverständlicher Lust, wie häufig in der Schäferpoesie, sondern wird als Argument eingesetzt, mit dem der Liebhaber das tugendhaft verschämte Mädchen zur Lust erst zu überreden sucht. Die bürgerliche Lebensrealität wirkt so stark, dass der ‚locus amoenus‘ als idealer Ort ‚vorgestellt‘ wird, um das Mädchen eben diese Lebensrealität vergessen zu lassen – und das rhetorische Argument gegen die Tugend wirkt deshalb so suggestiv, weil (in den Schlusszeilen) die von Gott gegebenen Naturrechte der Liebenden gegen die Gesetze der ‚Welt‘ ausgespielt werden und gerade die Befreiung von allen Tugendpflichten in der Natur als größte Nähe zum göttlichen Willen versprochen wird:

Wodurch sind ich und du denn da?

Zu was bist du nebst mir geboren?

Der, so die Welt im Wesen sah,

Hat uns zum Lieben auserkoren.

Das Treuemotiv spielt in diesem Gedicht Günthers keine Rolle – diese Verse zeigen – gerade im Vergleich mit den schon 1715 entstandenen An Leonore –, wie verschiedenartig und widersprüchlich sich bei ihm das Zeitalter der Aufklärung ankündigt.

Die vielfältigen, nicht zuletzt politischen Intentionen, die sich mit der europäischen Schäferdichtung verbanden, hat Norbert Elias, insbesondere im Rückgriff auf d’Urfés Astrée, einer zivilisationskritischen Betrachtung unterzogen,139 die zum Verständnis des ganzen Zeitalters beiträgt. D’Urfés Roman war (auch wegen seines stückweisen Erscheinens zwischen 1607 und 1627) jahrzehntelang Gesprächsgegenstand literarisch interessierter Kreise der höfischen Gesellschaft Frankreichs. Die Faszination, die von ihm ausging, beruhte wohl weniger auf der Teilnahme am Schicksal des Protagonisten Celadon, der, von seiner geliebten Astrée auf Grund einer Verleumdung getrennt, nach harten Prüfungen ihre Gunst zurückgewinnt, oder auf den Reflexionen ungezählter in Nebenhandlungen agierender Schäferinnen und Schäfer über die verschiedenen Wirkungen der Liebe, sondern viel eher darauf, dass die Handlung zeitlich und räumlich weit verschoben war (ins 5. Jahrhundert an den Oberlauf der Loire), die Gegenwart des höfischen Lebens im 17. Jahrhundert also vergessen lassen konnte, andererseits aber die Figuren, obwohl als Schäferinnen und Schäfer verkleidet und dem Landleben verhaftet, doch all die Verhaltensweisen der ‚guten Gesellschaft‘ zeigen, in denen die Leser ihre eigenen wieder erkennen mussten. Der Reiz des Ungewohnten (Ersehnten) und das Wiedererkennen des allgemein Akzeptierten trafen zusammen und schufen die (in dieser allgemeinen Formulierung bis heute gültigen) Voraussetzungen für Identifikationsprozesse.140 Es kam hinzu, dass die der Hofgesellschaft in ihrer Breite angehörenden Leser zugleich auch ihre Standesproblematik aufgegriffen fühlen konnten, wenn aus der Schicht der Schäfer verstohlen oder offen gegen Nymphen und andere Figuren, die im Roman den hohen Adel verkörpern, polemisiert wird. Um was es dabei geht, verdeutlicht besonders gut eine Szene, in der die Nymphe Galathée den Schäfer Celadon (die hoch gestellte Dame den ‚einfachen‘ Aristokraten) zu verführen versucht, dieser jedoch (seiner Astrée treu bleibend) rhetorisch geschliffen der Beständigkeit das Wort redet, ganz so, als weise er die mit Verstellungen und Flüchtigkeiten einhergehende Lebensart des Hofes insgesamt zurück. Schärfer noch als von den hoch Gestellten grenzt d’Urfé seine Schäferinnen und Schäfer von den unter ihnen stehenden gewöhnlichen Landleuten ab, von den nach Ziegen riechenden bedürftigen Hirten, wie er in der dem Roman vorangestellten Widmung an die Schäferin Astrée formuliert. Damit wird von vornherein deutlich, dass sein Personal das Landleben freiwillig gewählt hat – als Möglichkeit, ‚sanfter und ohne Zwang zu leben‘ („pour vivre plus doucement et sans contrainte“) und dass dieses Landleben im Roman in idealisierter Verkleidung erscheint, nicht als soziale Realität.

So verhalfen Schäferromane wie d’Urfés Astrée ihren Lesern zur Projektion eigener Wünsche in ein Traumbild vom freien, natürlichen Leben in der Vergangenheit, das den tatsächlichen Lebenserfahrungen am Hofe entgegengesetzt war. – Ähnliche Tendenzen sind auch in der Malerei von Poussin bis Watteau zu finden, in der die Natur eine der höfischen Realität als Gegenbild vorgestellte, „von Sehnsucht durchformte Kulisse“141 bildet, in der sich die Menschen gleichwohl mit höfisch disziplinierten Gebärden – gravitätisch, bewusst leger, graziös – bewegen oder positionieren.

Derartige Gemälde sprachen ebenso wie die Schäferliteratur all diejenigen an, die in den Prozess der Aristokratisierung hineingezogen waren, aber doch zugleich an den künstlichen Umgangsformen des Hofes litten, die sie zu erlernen hatten; die sich ihrer Herkunft als Landadlige erinnern mochten, ohne das Landleben doch zurückgewinnen zu können, und die es daher verklärten; die sich am Hofe Selbstzwänge und Masken aufzuerlegen, sich untereinander ‚manierlich‘ zu benehmen hatten und sich nach freieren Gefühlsäußerungen sehnten. Es ist zweifelhaft, inwieweit sie dabei ihren eigenen Zwiespalt durchschauten. Bezeichnenderweise wollen d’Urfés Schäfer der höfischen Gesellschaft und ihren Zwängen entgehen, aber ohne ihre Privilegien als Aristokraten, die sie von den wirklichen Hirten und Bauern unterscheiden, aufzugeben.

In den deutschsprachigen Texten der Schäferliteratur ist der standespolitische Konflikt, den Elias am Beispiel Frankreichs beschreibt, so ausgeprägt wie bei d’Urfé nicht hervorgetreten, und hat sich eher auch, zumal in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, auf das Verhältnis des gehobenen Bürgertums zur Aristokratie bezogen; die (mit dem Maskenspiel verdeckte) Sehnsucht nach einem natürlichen Leben inmitten der freien Natur aber ist auch in ihnen präsent. Gerade diese Sehnsucht hat später in der zunehmend auf andere Entfremdungen reagierenden Idyllik des 18. Jahrhunderts und schließlich vor allem in Texten der deutschen Romantik, die häufig genug die Seelenschicksale einzelner, sich ganz außerhalb der Zwänge von Herrschaftsverhältnissen und gesellschaftlichen Rangunterschieden bewegender Menschen schildern, andere Ausdruckformen gefunden. Die Tradition der Hofkritik dagegen ist in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts besonders im Drama (etwa Lessings und Schillers) weitergeführt und zugespitzt worden.

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