Читать книгу Deutsche Literatur - Peter Nusser - Страница 53
‚Aufgeklärter‘ Absolutismus in Deutschland
ОглавлениеIn Deutschland wurden die politischen Umwälzungen in den Nachbarländern aufmerksam verfolgt, aber es blieb über das 18. Jahrhundert hinaus bei einem sich entwickelnden ‚aufgeklärten Absolutismus‘. Die gesamten Implikationen dieses Begriff s können hier nicht entfaltet werden.9 Es handelte sich im Wesentlichen um einen Vorgang, bei dem sich der zu einem rationalistischen Steuerungsinstrument aufgebaute Staatsapparat zu verselbstständigen, d.h. von der Person des Fürsten abzulösen begann und dieser Fürst sich selbst – jedenfalls ideell – nicht mehr als unkontrollierter Herrscher von Gottes Gnaden, sondern als ‚erster Diener‘ des Staates verstand – wie Friedrich II. von Preußen. An der monarchischen Regierungsform, in der die Willkür des Fürsten nur durch dessen eigene Vernunft eingeschränkt werden konnte, änderte sich deshalb nichts, aber die zahlreichen Rechtskodifikationen, Verwaltungsvorschriften, Edikte usw. brachen immerhin die Unmittelbarkeit der personengebundenen Herrschaft. Die große ‚aufklärerische‘ Leistung des preußischen Absolutismus war dabei die Erarbeitung des im Naturrecht verwurzelten Allgemeinen Preußischen Landrechts von 1794, das schon von Friedrich II. in die Wege geleitet worden war und das – wie der Code Civil von 1804, der in den von Napoleon annektierten linksrheinischen Gebieten Deutschlands übernommen wurde, – „die Interpretation des Rechts aus den Händen der etablierten Autoritäten nahm und der allgemeinen Öffentlichkeit überantwortete.“10 Doch dies geschah am Ende des Jahrhunderts. Eine Kodifikation wie das Preußische Landrecht darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass der absolutistische Staat, so ‚aufgeklärt‘ er sich geben mochte, gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Leben seiner Untertanen so stark wie nie zuvor mit bürokratischen Maßnahmen reglementierte und ihre Teilnahme an politischer Gestaltung unterband. Wie sehr despotische Willkür zur politischen Wirklichkeit des aufgeklärten Absolutismus gehörte, demonstriert gerade auch die Literaturgeschichte mit hinreichender Deutlichkeit.11 Fast sämtliche Köpfe der Aufklärungsbewegung trugen Konflikte mit der Obrigkeit aus, wurden von Zensurbehörden gegängelt, waren von Schreibund Veröffentlichungsverboten, sogar von Landesverweis und Gefängnis bedroht, weil eben gerade sie mit ihren Texten die Befreiung der ‚Staatsbürger‘ aus ihrer politischen Unmündigkeit einklagten. Die Zuspitzung ihres Protests in Dramen der Geniebewegung gipfelte schließlich im revolutionären politischen Engagement einiger bürgerlicher Intellektueller um den Schriftsteller Georg Forster, die sich mit den französischen Jakobinern solidarisierten und im Oktober 1792 in Mainz die erste deutsche Republik auf deutschem Boden ausriefen, die allerdings nur wenige Monate Bestand hatte, bis Mainz im Juli 1793 von französischen Truppen eingenommen wurde. Den in Deutschland wohl folgenreichsten politischen Niederschlag aber fand die Kritik am absolutistischen Verwaltungsstaat in diesem Zeitraum in den auf dem Gedanken der politischen Mitverantwortung aufbauenden Preußischen Reformen Steins, Hardenbergs und anderer seit 1806 (in der Verwaltungsreform mit Wiedereinführung der kommunalen Selbstverwaltung, der Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern, der bürgerlichen Emanzipation der Juden, der Säkularisierung der Kirchengüter, der Neustrukturierung der Armee, der Reform des Erziehungswesen unter W. v. Humboldt, um die wichtigsten zu nennen). So spät sie kamen und so kurz sie zunächst nur wirksam wurden, stehen sie für einen politischen Neubeginn, der freilich mit den großen politischen Umwälzungen in den Nachbarländern nicht zu vergleichen ist. Denn weder wurden diese Reformen vom Volkswillen getragen und durchgesetzt, sondern von einer kleinen Gruppe einflussreicher, aufgeklärt denkender Aristokraten; noch entsprangen sie radikalen demokratischen Vorstellungen, sondern erwuchsen eher der konservativen Tradition der freiheitlichen ständischen Selbstverwaltung.
Sieht man von dem jakobinischen Experiment in Mainz und den preußischen Reformen von 1806 einmal ab, so blieb das bürgerliche Engagement für Fragen der Rechtsordnung und staatsbürgerlichen Mitverantwortung in Deutschland vornehmlich auf einer reflexiven Ebene. Nichtsdestoweniger wurde die Diskussion über diese Fragen nicht nur breit, sondern auch heftig geführt. An ihr waren, was man sich heute kaum vergegenwärtigt, auch eine große Zahl von Schriftstellern beteiligt, von denen viele Juristen waren. Betrachtet man die deutsche Literatur gerade der zweiten Hälfte des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts, so ist die Fülle der in ihr angeschnittenen Rechtsprobleme, nicht nur bei so herausragenden ‚Dichterjuristen‘ wie Goethe, Kleist, Hoffmann, verblüffend. Die allgemein diskutierten Fragen nach Sinn und Grenzen des Naturrechts, nach der Zweckmäßigkeit von Rechtskodifizierungen, nach dem Vorteil eines geschichtlich gewachsenen und überlieferten Gewohnheitsrechts u.a.m. erhitzte die Gemüter derartig, dass sich ganze Anhängerschaften um einzelne Rechtsgelehrte bildeten, etwa um den die längste Zeit seines Lebens in Heidelberg lehrenden Hugenotten Anton Friedrich Justus Thibaut, der den Naturrechtsgedanken und die Vereinheitlichung des Rechts in Kodifikationen verfocht, oder auf der anderen Seite um den von den Romantikern bewunderten, hauptsächlich in Berlin lehrenden Friedrich Carl von Savigny, der sich leidenschaftlich für eine sich auf die alten Rechtsquellen der Römer und das Gewohnheitsrecht des Mittelalters gründende Rechtsordnung einsetzte.12