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Das Rollenverständnis der Geschlechter
ОглавлениеMit der veränderten Funktion der bürgerlichen Familie gingen auch Veränderungen im Verständnis der Geschlechterrollen einher. Dies gilt insbesondere für das Rollenverständnis der Frau. Der Mann, der sich als Bürger auf dem Markt oder in Ämtern durchzusetzen bemühte und dabei den zweckgebundenen Einsatz seines Verstands übte, sich auch an formalisierte und reglementierte Arbeitsabläufe anzupassen hatte, erwartete von seiner Familie zum Ausgleich die Befriedigung seines Gefühlslebens. Die bürgerlichen Frauen, die auch weiterhin den Haushalt führten – wenn auch nicht mehr mit der Aufgabenfülle, die ehemals die Verwaltung des die Erwerbsarbeit integrierenden ‚ganzen Hauses‘ erforderte – wurden damit zusätzlich belastet. Sie wurden, mehr oder weniger direkt, aufgefordert, für eine emotionale Atmosphäre zu sorgen, sich fürsorglich um Mann und Kinder zu kümmern, den Ehealltag durch Gesprächsangebote, womöglich literarische Interessen, zu bereichern. Obwohl ihre Rolle dadurch – einseitig – gestärkt wurde, haftete an ihr der Verlust an Wirklichkeitserfahrung. Von organisatorischen Aufgaben im Rahmen der Erwerbsarbeit ausgeschlossen, zurückgeworfen auf den innerfamilialen Bereich, gerieten bürgerliche Frauen auf diese Weise in immer stärkere Abhängigkeit von ihren Männern, deren Arbeit für sie zudem an Transparenz verlor. Verbrämt wurde diese Abhängigkeit, die den Mann in seiner althergebrachten Rolle als ‚guter Hausvater‘ (bzw. als Haustyrann) noch bestärkte, durch die – sich auch literarisch niederschlagenden – Idealisierungen beispielsweise der Mütterlichkeit, der Liebesbereitschaft, der Schöngeistigkeit, auch der Schutzbedürftigkeit der Frau, die deren Rollenzuweisung bis in die Gegenwart bestimmt haben.
Auch wenn die bürgerliche Familie sich im 18. Jahrhundert – soziologisch gesehen – endgültig von der Großfamilie zur Kernfamilie verwandelte und gerade von den Männern als Schutzraum begriffen wurde (‚ich muss hinaus ins feindliche Leben‘ ist eine Redewendung, der man noch heute begegnet), wäre es doch ein Missverständnis, sie lediglich als Ort verwirklichter Zuwendung, Fürsorge oder gar Zärtlichkeit zu begreifen. So sehr sie dies war oder sein konnte, wirkten in sie doch auch die von Rationalität und Nützlichkeitserwägungen bestimmten Lebensbedingungen des bürgerlichen Alltags hinein. Insofern entstanden etliche Spannungen, die für die Lebensführung der staatsbürgerlichen Gesellschaft charakteristisch wurden.
Besonders auffällig wird dies an Verhaltensweisen, die in der zeitgenössischen Literatur, insbesondere in den Moralischen Wochenschriften oder in den pädagogischen Schriften eines Christian Gotthelf Salzmann, eines Joachim Heinrich Campe, eines Johann Bernhard Basedow immer wieder reflektiert und vom Bürgertum in den Rang strikt zu befolgender Tugenden erhoben wurden.18 Es zeigt sich, dass die meisten dieser Tugenden in Beziehung zur bürgerlichen Arbeitswelt standen (und im Übrigen auf die zunftbürgerliche Lebensform im späten Mittelalters zurückzuführen sind – vgl. ausführlich dazu P. N., 2012 a, IV). Fleiß und Redlichkeit sind ausgesprochene Erwerbstugenden19 – die Redlichkeit insofern, als sie den Kaufmann kreditwürdig macht, ihm Kundschaft zuführt, sich für ihn also ‚lohnt‘. Die in moralischen Schriften des 18. Jahrhunderts immer wieder angesprochene Ordnungsliebe ist nicht nur die Voraussetzung, die Arbeit planvoll anzulegen; sie spielt ihre Rolle nach Auffassung der bürgerlichen Aufklärer auch im Seelenleben, weil nur sie es dem Einzelnen ermöglicht, die Fülle der täglichen Pflichten angemessen zu erfüllen und sich von Wünschen und Neigungen nicht ablenken zu lassen. Tugenden wie Sparsamkeit und Genügsamkeit dienen der Erhaltung des Erarbeiteten. Da Bürger ursprünglich nicht aus der Fülle der Mittel lebten, über die der Adel verfügte, wurden von ihnen gerade solche Maßstäbe dermaßen verinnerlicht, dass sie sich nach ihnen auch richteten, wenn sie längst wohlhabend geworden waren. All diese an Nützlichkeitserwägungen anknüpfenden Tugendvorstellungen wurden gerade auch in der Familie gelebt bzw. durchzusetzen versucht und spielten, begleitet von hausväterlicher Entschiedenheit und Strenge, eine wichtige Rolle bei der Erziehung der Kinder, denen zugleich Gehorsam, Ehrerbietung und Dankbarkeit abgefordert wurde. Es kam im Wesentlichen den Frauen zu, die Nüchternheit des Zusammenlebens in der Familie durch liebevolle Zuwendungen zu durchbrechen. Doch wurden der ihnen zugebilligten Emotionalität zugleich auch Grenzen gesetzt. Freundlichkeit, Anhänglichkeit, Zärtlichkeit, Herzensgüte, die sie zeigen sollten, beruhte immer schon auf Affektbeherrschung, war ‚gesittetes‘ Gefühl.