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Religiöses Gespräch und Briefwechsel

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Religiosität gehörte – wie allein die breit gefächerte religiöse Literatur vom Andachtsbuch für Frauen bis zur Geistlichen Ode belegt – zur bürgerlichen Mentalität des 18. Jahrhunderts, mehr als man heute gemeinhin wahrhaben möchte. Die deutsche Aufklärung richtete sich auch keineswegs gegen den christlichen Glauben oder die christliche Ethik, sondern im Wesentlichen gegen die intolerante Dogmatik der Kirche und einzelne ihrer Amtsträger. Die Kreise, in denen Bürgerliche beiderlei Geschlechts sich zum Gespräch und zur Andacht trafen, standen entsprechend am Rande der Orthodoxie. Insbesondere die einflussreiche, an die Mystik (vgl. P. N., 2012 a, I) anknüpfende pietistische Bewegung, die allein schon wegen ihres nachhaltigen Einflusses auf die Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts hervorgehoben zu werden verdient, unterschied sich vom orthodoxen Protestantismus, für den das Heil den Menschen durch die Zusage Gottes gleichsam ‚von außen‘ erreichte, durch die Betonung der Glaubenserfahrung als eines ‚inneren‘ Geschehens. Mit dem Ziel einer neuen Reformation setzten die Pietisten sich für eine verstärkte Bibellektüre der Laien ein, für einen ‚lebendigen Glauben‘, der an seinen ethischen Früchten sich beweisen sollte. Sie warteten auf den ‚Durchbruch der Gnade‘, auf die ‚innere Wiedergeburt‘, die sie im christlichen Sinn zur Nachfolge Jesu, zur Nächstenliebe befähigen sollte. Dabei handelte es sich immer um einen individuellen Vorgang, um persönliche Erfahrungen. Dies führte zu einem ständigen In-sich-hinein-Lauschen, zur Aufmerksamkeit auf die seelischen Vorgänge im eigenen Inneren, aber auch zur Teilnahme an den inneren Erfahrungen der Mitmenschen. Was bei den Pietisten in der Familie begann, die Preisgabe der Empfindungen im gemeinsamen Gebet, setzte sich im religiösen Gespräch im Kreis der Gleichgesinnten fort. Dabei haben die Bemühungen, sich den anderen mitzuteilen, ihre sich auch in der Literatur niederschlagenden Auswirkungen auf die Sprache gehabt. Ebenso wie die Mystik war der Pietismus in hohem Maße sprachschöpferisch,23 kultivierte den auf die Affekte bezogenen Wortschatz und trug zu einer differenzierteren Wiedergabe von Gefühlen bei. Gerade die Frauen haben diese Sprache des Gefühls gefördert, und entsprechend hat kaum eine andere geistige Bewegung die Frauen so ernst genommen wie der Pietismus. Sein Einfluss ist freilich, sieht man auf die bürgerliche Gesellschaft des 18. Jahrhunderts insgesamt, letztlich doch begrenzt geblieben. Viele fürchteten die destabilisierende Kraft dieser introvertierten Religiosität und sahen in der von ständigen Zweifeln begleiteten Introspektion eine Gefahr für ihre auf Ordnung, Sicherheit und Gewinn bedachten Tätigkeiten – eine eher unbegründete Befürchtung, da die Pietisten selbst, sieht man von den schwärmerischen Ausnahmen unter ihnen ab, durchaus vorlebten, wie sich religiöse Einkehr und weltliche Interessen auseinander halten ließen. Aus heutiger Sicht liegt gerade in dieser Trennung, in dem eingestandenen Unvermögen, weltliche Geschäfte im Sinne des Wortes Gottes zu führen, die Problematik dieser auch gegenwärtig noch wirksamen protestantischen Strömung, die einmal wie keine andere an Wertvorstellungen des Urchristentums anzuknüpfen versucht hat.

Das religiöse Gespräch war nur eines der Mittel, eigene Gefühle zu artikulieren. Verbreiteter war das Schreiben von Briefen, in denen sich das Individuum in seiner Subjektivität entfalten konnte,24 oder auch von Tagebüchern, die man als Briefe des Schreibers an sich selbst, als schriftlich niedergelegte Selbstgespräche, betrachten kann. Der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geradezu zur Mode werdende Zugriff auf den Brief als Möglichkeit, persönlichste Seelenregungen mitzuteilen, hatte seine Voraussetzungen in einer Briefkultur, die sich schon zuvor entfaltet hatte. Der Ausbau des Verkehrs- und Postwesens hatte schon in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zu einer Expansion des Briefwechsels geführt. Während noch im 17. Jahrhundert Briefe im Wesentlichen dem berufsbedingten Informationsaustausch galten und im privaten Bereich dem gelehrten oder frommen Zwiegespräch, erweiterte sich der Themenkreis im Zeitalter der Aufklärung um Fragen der allgemeinen Lebensklugheit und vor allem um die vielen Probleme der eigenen Befindlichkeit. Briefe wurden zu persönlichen Briefen, Briefwechsel zum Ausdruck der Freundschaft.25 Solche Briefe wurden grundsätzlich in der deutschen Muttersprache geschrieben und in einem natürlichen Stil, der sich vom Kanzleistil weit entfernte. Die Lust an der Korrespondenz, die ganz der dialogischen Struktur der Aufklärung entsprach, wurde zunehmend auch von Frauen geteilt. Denkt man beispielsweise an die Briefwechsel zwischen Anna Luise Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim, zwischen Sophie von La Roche und Christoph Martin Wieland, zwischen Charlotte von Stein und Johann Wolfgang von Goethe, so erwiesen die Frauen sich als intellektuelle Partner hohen Ranges. Nicht zuletzt durch die Frauen wurde in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts der Brief dann immer mehr auch zu einem Medium des Gefühlsausdrucks, wobei die Grenzen, die man durch gesellschaftlich schickliche Redeformen bis dahin meist immer noch beachtet hatte, sich weiter verwischten. Es ist nur zu wahrscheinlich, dass den Schreibenden dabei die ‚naturrechtliche Gleichheit des Gefühls‘ oder anders: die Erfahrung und Einsicht, dass Sympathie und Freundschaft auf der Gleichheit der Partner beruhen, gegenwärtig war. Insofern entstand gerade in den privaten Briefwechseln ein Freiraum, in dem, entgegen allen objektiven Zwängen ständischer Herrschaft und ökonomischen Nutzens, gefühlsorientierte Wertvorstellungen der Aufklärung wie z.B. Natürlichkeit des Verhaltens, Mitleiden mit dem anderen, Menschenliebe durchgespielt werden konnten.26 Obwohl den Briefen oft die privatesten Gefühle anvertraut wurden, wehrten sich die Schreibenden doch kaum gegen die Publizität des von ihnen Ausgesprochenen. Gefühlsintensität und Mitteilungsbedürfnis schlossen sich weit weniger aus, als man dies heute für möglich halten mag. Im Gegenteil: „… es war überhaupt eine so allgemeine Offenherzigkeit unter den Menschen, daß man mit keinem Einzelnen sprechen, oder an ihn schreiben konnte, ohne es zugleich an mehrere gerichtet zu betrachten. Man spähte sein eigen Herz aus und das Herz der andern … und so ward man … mit der Breite der moralischen Welt ziemlich bekannt.“, schrieb Goethe in seiner Selbstbiographie (Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit – III. Teil, 13. Buch). Briefe wurden ausgeliehen, abgeschrieben, in geselligem Kreis vorgelesen – und natürlich wurden manche von vornherein auch schon im Hinblick auf ihre spätere Veröffentlichung verfasst. ‚Zum Drucke schön‘ war eine damals geläufige Redewendung. Dass die Faszination an der Teilnahme des Privaten schließlich auch in die bloße Schaustellung pervertieren konnte, zeigt das ständig wiederholte Gesellschaftsspiel im Haus der Madame de Staël, deren Gäste sich nach dem Essen zurückzogen, nur um sich gegenseitig Briefe zu schreiben. – Die ‚publizitätsbezogene Subjektivität‘ der Briefwechsel und Tagebücher27 verlängerte sich im Briefroman, der wie kaum eine andere literarische Gattung zur Mode wurde, nachdem S. Richardson mit seiner Pamela, or Virtue Rewarded (1740) den Anstoß gegeben und J.-J. Rousseau (La Nouvelle Héloïse, 1764) und auch J. W. v. Goethe (Die Leiden des jungen Werthers, 1774) sich seiner Möglichkeiten bedient hatten. Der den gedanklichen, mehr noch den seelischen Austausch zweier Menschen fingierende Briefroman erlaubte den Rezipienten, in den Bekenntnissen des einen oder anderen der Schreibenden eigene Regungen wiederzuerkennen, gegebenenfalls aber auch, durch die Teilnahme am Gespräch der Briefpartner das Gefühl eigener Isolation zu kompensieren.

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