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Die Tugend der Affektbeherrschung und ihre Problematik

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Die Tugend der Affektbeherrschung war den genannten Tugenden gleichsam ‚vorgeschaltet‘ und wurde deswegen im Bürgertum geradezu idealisiert. Nur wer seine Leidenschaften disziplinierte, konnte auch ordentlich, fleißig, genügsam, freundlich oder zärtlich sein. Dies schließt keineswegs aus, dass es in bürgerlichen Häusern zu heftigsten, auch mit Gewalttätigkeit verbundenen Gefühlsausbrüchen kam. Die althergebrachte Hierarchie der Ordnung in der Familie erleichterte es dabei, dass Wut vor allem auf die jeweils Rangniedrigeren abgeladen wurde, dass Männer ihre Frauen, Frauen ihre Dienstboten, Eltern ihre Kinder quälten. Sosehr gerade die in ihrer Berufstätigkeit zur Disziplin gezwungenen Männer sich in der Familie auch in negativem Sinn zu entlasten versucht waren und sosehr das relativ enge Zusammenleben in den kleinen Stadthäusern Triebspannungen noch förderte, so sehr war die Reflexion über Affekte, die ‚Aussprache‘, geradezu geboten und erschien die Selbstbeherrschung erstrebenswert. Scham- und Peinlichkeitsgefühle haben sich deswegen gerade in Bürgerhäusern entwickelt – sowie, als Sublimierungsleistung, das Gefühl für das Schickliche, der Takt, der den anderen Menschen schont, und das Feingefühl, das sich auf den anderen empfindsam einstellt.

Das spannungsvolle Nebeneinander von gestauter, bei gegebenen Anlässen hervorbrechender Emotionalität und überlegten Verhaltensweisen wird besonders im Umgang mit Kindern und Problemen der Erziehung erkennbar. Während Kinder in den bürgerlichen Großfamilien des späten Mittelalters und der folgenden Jahrhunderte in den Arbeitsprozess des ‚ganzen Hauses‘ eingefügt wurden, ohne dabei größere Aufmerksamkeit zu erhalten, wurden sie für das neue, aufgeklärte Bürgertum des 18. Jahrhunderts zu Hoffnungsträgern, die es zu vernünftigen, tugendhaften Menschen zu erziehen galt. In pädagogischen Fragen trafen sich die Interessen der Ehepartner. Um die Kinder moralisch und intellektuell zu beeinflussen und sie zu aufgeklärten Staatsbürgern zu erziehen, erhielten sie nicht nur alle denkbare Aufmerksamkeit (u.a. durch Hauslehrer, die ihre Grundausbildung bis zum Eintritt in die höhere Schule oder in die Universität) übernahmen, sondern wurden auch von schädlichen Einflüssen fern gehalten – sowohl von der Straße als möglichst auch von den Dienstboten. Sie bekamen eigene Zimmer, in denen ungestört gelernt werden sollte. Die Isolierung von der Außenwelt wurde durch verstärkte Familienkontakte, vor allem mit der Mutter und mit den Geschwistern, kompensiert. Ungezählte Zeugnisse belegen emotionale Bindungen gerade an die Mütter und Geschwister, kaum an die Väter. Die Zuwendung implizierte freilich immer auch die Kontrolle. Von den elterlichen Erwartungen abweichendes Verhalten oder Lernunwilligkeit wurden mit Ermahnungen, mit Liebesentzug oder zeitweiligem Verstoß aus der Familiengemeinschaft durch Stubenarrest o.ä. bestraft. Um den Eigenwillen der Kinder zu brechen und sie zu ‚Vernunftwesen‘ zu disziplinieren, entwickelten sich dubiose Methoden, die schließlich in die ‚Schwarze Pädagogik‘ des 19. Jahrhunderts mündeten.20 Zu ihnen gehörte die Prügelstrafe. Der aufgeklärte Christian Thomasius empfahl zu Beginn des Jahrhunderts (Kurtzer Entwurff der Politischen Klugkeit, 1710), kleine Kinder, solange diese die Vernunft noch nicht einsetzen könnten, wie die Tiere durch Schläge zu bändigen, und erst später, wenn sie die Besserung ihres Willens zeigten, damit nachzulassen. Je mehr die Aufklärung voranschritt, desto mehr wurde die Prügelstrafe jedoch offenbar wenigstens in den gebildeten Familien des Bürgertums durch das strenge pädagogische Gespräch ersetzt.21

Ähnlich widersprüchlich wie das pädagogische Verhalten der Eltern war auch das Zusammenleben der Ehepartner. Emotionale Zuwendung charakterisierte die bürgerlichen Ehen des 18. Jahrhunderts (und auch späterer Zeiten) ebenso wie die Disziplinierung der Gefühle. Während die Ehe in der alten Familienordnung zu Treue und Hilfe verpflichtete und ihren Sinn schon in der Sicherung des Hausstands erfüllte (was echte Liebesbeziehungen keineswegs ausschloss), wurde in der neuen bürgerlichen Gesellschaft die Liebesheirat allmählich zur Norm (wodurch umgekehrt Ehen als bloße Zweckgemeinschaften nicht aus der Welt geschafft wurden). Nach Möglichkeit jedenfalls sollte die eheliche Partnerschaft durch Liebe legitimiert werden,22 was der neuen Funktion der Familie als ein die Privatsphäre der Person schützendes Refugium ganz entsprach. Wer sich in die Familie zurückzog, erwartete dort die verständnisvolle Zuneigung des Partners. Gerade diese Erwartung freilich verlangte zugleich die Mäßigung der Leidenschaften. Die Aufklärer sprachen, wenn sie an eheliche Liebe dachten, von ‚vernünftiger Liebe‘, von ‚vernünftigen Neigungen zweier Herzen‘ usw. In diesem Verständnis, das in der Ehe zuerst eine Seelengemeinschaft sah und danach eine keusche Vereinigung zur Erzeugung von Kindern, hatte ‚grobe‘ Sinnlichkeit keinen Platz. Sexualität galt es deshalb zurückzudrängen. Selbst über sie nur zu sprechen, erschien unmöglich. Nicht nur schliefen nun Söhne und Töchter in getrennten Zimmern, auch das elterliche Schlafzimmer wurde zum geschlossenen Raum. Über verbotenen Liebschaften oder dem unehelichen Kind einer Tochter konnten Familien auseinander brechen. Nicht von ungefähr haben Schriftsteller nie mehr intensiver und begründeter über gefährdete und scheiternde Familienbeziehungen geschrieben als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

Die sowohl bejahte, weil Sicherheit gewährende, als auch als Qual empfundene Einschnürung der Sinnlichkeit wie die generell puritanische Lebensführung bürgerlicher Familien verursachten – gerade auch bei den ans Haus gebundenen Frauen – psychische Spannungen, die Wege zu ihrer ‚Lösung‘ suchten und dabei verschiedene Möglichkeiten des Gesprächs und des Selbstgesprächs kultivierten. Der Äußerung von Gefühlen und damit der seelischen Entlastung kamen beispielsweise nicht nur religiöse Zirkel entgegen, die sich gerade in protestantischen Regionen bildeten, sondern dienten besonders auch die gleichsam vorliterarischen Formen des Briefes oder des Tagebuchs.

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