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2. Zur Darstellung der Literatur im 18. Jahrhundert
ОглавлениеWill man die Literatur, die in der ‚staatsbürgerlichen‘ Gesellschaft geschrieben, gelesen und besprochen wurde, in ihren Entwicklungen beschreiben und auf die Lebensführung dieses neuen städtischen Bürgertums beziehen, sind einige Vorentscheidungen unumgänglich:
1. Entgegen der problematischen Gepflogenheit, die literarischen Texte des 18. Jahrhunderts unter aufeinander folgende ‚Epochen‘ zu subsumieren (meist in der Folge von Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Klassik), wird hier die im neuen Bürgertum (insbesondere der norddeutschen Universitäts- und Handelsstädte) entstandene Literatur in ihrer komplexen und widersprüchlichen Einheit begriffen. Auf die genannten Bezeichnungen soll deswegen nicht verzichtet werden, aber es kommt darauf an zu zeigen, wie sehr sich gerade im ‚Jahrhundert der Aufklärung‘ die literarischen Strömungen überschnitten haben und in welchen Wechselbeziehungen sie standen. Dies entspricht zugleich dem hier verfolgten Ansatz, Literatur in ihren sozial- und kulturgeschichtlichen, d.h. auch anthropologische Gesichtspunkte einbeziehenden Zusammenhängen zu verstehen. Wer dies versucht, misst die Zeit in anderen Einheiten als jemand, der sich mit einer literaturimmanenten Betrachtung begnügt.
2. Mehr noch als bei der Betrachtung der Literatur der vorangegangenen Jahrhunderte ist es erforderlich, exemplarisch zu verfahren, weil der mit der Entstehung des literarischen Marktes seit der Jahrhundertmitte kontinuierlich ansteigende Umfang der Buchproduktion es unmöglich macht, auch nur auf die Mehrzahl der erschienenen Texte einzugehen. Neben einem Abriss der wichtigsten literarischen Entwicklungen, der die nötige Orientierung gibt, werden daher solche Texte im Mittelpunkt stehen, die für das Erkenntnisinteresse dieser Literaturgeschichte (vgl. die Einführung) besonders ergiebig sind, also die Geschichte der Wertvorstellungen und Verhaltensnormen in der einen oder anderen Weise nachhaltig beeinflusst haben. Dabei versteht es sich von selbst, dass auch im Folgenden die literarischen Texte nicht allein als Spiegelungen geschichtlicher Prozesse gelesen werden, sondern dass immer zugleich auch ihren bewusstseinsverändernden Impulsen nachgespürt wird, die dann oft ihrerseits gesellschaftliche Evidenz gewonnen haben. Die an Gattungen entlang führende Beschreibung ermöglicht wiederum am ehesten, die ästhetischen Qualitäten der behandelten Literatur einzubeziehen und in ihrer Relevanz für deren Wirkung einzuschätzen.
3. Die sozial- und kulturgeschichtliche Ausrichtung dieser Literaturgeschichte gebietet es, auch die im gebildeten städtischen Bürgertum gelesene Unterhaltungsliteratur zu berücksichtigen. Gerade die seit der Entstehung des literarischen Marktes sehr gezielt auf Leserbedürfnisse antwortende Unterhaltungsliteratur gibt Auskunft über die Gefühls- und Bewusstseinslage ihrer Konsumenten. Dass selbst die anthropologisch interessierte Aufklärungsforschung triviale Texte bisher – aus welchen Gründen auch immer – vernachlässigt hat, spricht nicht dagegen, auf sie hinzuweisen und womöglich ihre weitere Erforschung anzuregen. – Dagegen können die unter den so genannten ‚kleinen Leuten‘34 verbreiteten Lesestoffe hier nur relativ kurz angesprochen werden. Weder die Angehörigen der Landbevölkerung (die noch in der Mitte des 18. Jahrhunderts ca. 80 % der Gesamtbevölkerung ausmachten) noch die Angehörigen der sozialen Unterschichten in den Städten gehörten zu den Trägern der Aufklärungsbewegung. Vielmehr kann man zugespitzt sagen, dass die Mentalität dieser ‚kleinen Leute‘ noch mindestens bis zum Ende des Jahrhunderts einer weit zurückliegenden Zeit verhaftet blieb. Dennoch ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, vor welchem literarischen Leben sich die Aufklärungsbewegung als Kultur einer neuen bürgerlichen Elite entfaltete (und wovon sie zugleich auch literarisch beeinflusst wurde) und welche Möglichkeiten der Einwirkung in die Volkskultur manche Aufklärer suchten, um die einfachen Leute zu ‚erziehen‘.