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Die Diskussion über den bürgerlichen Rechtsstaat

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Die Diskussion über den Aufbau eines bürgerlichen Rechtsstaats wurde früher und intensiver als in Deutschland in England und Frankreich geführt. Grundlage dieser Diskussion war der aus der griechisch-römischen Stoa stammende Naturrechtsgedanke. Nach ihm ist die ganze Natur von der göttlichen Macht der Vernunft durchzogen, und da in jedem Menschen diese universale Vernunft lebendig ist, besitzt jeder, gleich welcher Herkunft und welchen Standes, auch Anspruch auf Achtung und auf Rechte, die seine Menschenwürde schützen. Für die Staatsrechtler der Aufklärungsbewegung, die sich auf das Naturrecht jedes Menschen beriefen (und damit gleichzeitig gegen die traditionellen ständischen Privilegien opponierten) stellte sich daher die Frage, wie eine nach den Prinzipien der Vernunft aufgebaute Staats-Ordnung aussehen müsse, in der die angeborenen Rechte des Einzelnen respektiert würden und der Einzelne als mündiger Mitträger des Gemeinwillens mitwirken könne. Aus dem Naturrechtsgedanken ergab sich für sie, dass politische Herrschaft nicht auf den Willen Gottes, sondern auf die Vereinbarung von Menschen zurückzuführen sei, dass der Staat auf einem Vertrag beruhe. Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag, die alle Vertreter des Naturrechts verbindet, behauptet nicht, dass die Staaten historisch durch Verträge entstanden seien. Sie zielt vielmehr auf den – in die Zukunft gerichteten – Gedanken, dass ein Staat sich legitimieren könne, wenn er sich als Resultat eines Vertrags verstehe und wenn die Staatsgewalt sich der Zustimmung der Staatsbürger sicher sein könne. – Die Vorstellung vom Staat als einem Gesellschaftsvertrag, der die Grundsätze der Vernunftbefolgt und dem Gemeinwohl dient, entsprach ganz der Erfahrungswelt des ‚neuen‘ Bürgertums, das seine Geschäftsbeziehungen und Arbeitsverhältnisse vertraglich regelte.8 Das ‚Vertragsdenken‘ mag auch das verbreitete Interesse dieses Bürgertums an einzelnen staatsrechtlichen Entwürfen erklären helfen sowie die Wirkung, die von ihnen ausgegangen ist.

Die beiden folgenreichsten staatstheoretischen Schriften des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts waren zweifellos John Lockes Two Treatises of Government (1690 veröffentlicht, aber wohl bereits um 1680, also vor der englischen Revolution, entstanden) und Jean-Jacques Rousseaus Du contrat social ou principes du droit politique (verfasst 1754, erschienen 1762). Locke geht in der 2. Abhandlung seiner Staatstheorie von einem vorstaatlichen Naturrecht aus, in dem die Menschen in vollkommener Freiheit über sich und ihr Eigentum verfügen. Um aber den durch Streit sich ergebenden Bedrohungen zu entgehen, schließen die Bewohner eines Gebiets freiwillig einen Gesellschaftsvertrag ‚zum gegenseitigen Schutz ihres Lebens, ihrer Freiheiten und ihres Vermögens‘, verzichten auf ihre individuelle Strafgewalt und übertragen diese dem Staat. Die Versammlung der Staatsbürger – das sind bei Locke die Eigentümer – setzt eine Exekutive ein, z.B. einen Monarchen, die ihre Handlungen am Wohl der Allgemeinheit auszurichten hat. Nur im Zusammenwirken können Legislative und Exekutive ihre Macht ausüben, sie kontrollieren sich gegenseitig. Beide unterstehen dem Naturrecht aller Einzelnen. Verstößt die Exekutive gegen dieses Recht, haben die Staatsbürger die Pflicht zum Widerstand und zur Neugestaltung der politischen Ordnung. – Natürlich hatte diese Staatstheorie ihre neuralgischen Punkte und wurde auch nicht zum Anlass für konkrete Staatsgründungen; aber sie enthielt diejenige regulative Idee, der seitdem alle demokratischen Verfassungen gefolgt sind: dass der Staat überhaupt nur eingerichtet ist, um die vorstaatlichen Rechte des Menschen zu wahren, und dass er auf Grund der Regelung der Gewaltenteilung das Volk selbst ermächtigt, als höchste Gewalt zu handeln.

Noch entschiedener als Locke setzt sich Rousseau für die Souveränität des Volkes ein. Auch bei ihm beruht das Staatswesen auf einer Übereinkunft, der alle Staatsbürger in völliger Freiheit zugestimmt haben müssen. Die Volksversammlung der Bürger verabschiedet Gesetze und bestimmt die Maßnahmen ihrer Ausführung, indem sie ein Exekutivorgan, die Regierung, einsetzt, die wechselnde Gestalt haben kann, aber in jedem Fall an die vom Volk erlassenen Gesetze gebunden ist. Damit plädiert er für die direkte Demokratie. Das versammelte Volk ist und bleibt der Souverän. Da in der Volksversammlung aber kaum Einstimmigkeit herzustellen ist, unterscheidet Rousseau zwischen der volonté de tous, dem Willen aller, in dem immer egoistische Interessen sich durchsetzen werden, und der volonté générale, dem Gemeinwillen, der auf das Wohl der Allgemeinheit gerichtet ist und den wahren Volkswillen bildet. Ihn herauszufinden, ist die Aufgabe gutwilliger, gut erzogener und gut unterrichteter Bürger, die in der Volksversammlung beratend wirken sollen. – So problematisch aus heutiger Sicht dieser staatsrechtliche Entwurf ist – er enthält z.B., wie die Geschichte gezeigt hat, den Keim zur Entwicklung totalitärer Demokratien, in denen die Bestimmung der volonté générale, des Gemeinwillens, stets geschickt manipuliert wurde (wie beispielsweise in den sozialistischen Volksdemokratien des 20. Jahrhunderts durch die Parteiführungen) –, so hat er gleichwohl im Europa des 18. Jahrhunderts dem Gedanken der Beteiligung des ganzen Volkes an der politischen Gewalt und der Mitverantwortung des Einzelnen für das Gemeinwohl einen nachhaltigen Anstoß gegeben.

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