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Moralische Wochenschriften

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In solchen Bünden und Vereinigungen von Gelehrten war die Planung von Veröffentlichungen des gemeinsamen Räsonnements eine wichtige Motivation für die Beteiligung an den Zusammenkünften. Mitglieder des Montags-Klubs gaben z.B. ab 1765 die Allgemeine deutsche Bibliothek heraus; das Publikationsorgan des Göttinger Hains war seit 1770 der Musenalmanach; im Kreis um Goethe und Herder entstanden die seit 1772 von Merck redigierten Frankfurter Gelehrten Anzeigen. Im Hinblick auf den Wunsch, ihre Diskurse publik zu machen, standen die Freundschaftsbünde und Vereinigungen von Gelehrten und Schriftstellern in der Tradition von Verfassergesellschaften, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts an Moralischen Wochenschriften arbeiteten. Auch diese Zeitschriften waren im 18. Jahrhundert, zumal zwischen 1720 und 1760, eine Institution der Öffentlichkeit, weil sie sich gezielt darum bemühten, ihre Leser nicht nur thematisch zu interessieren, sondern einzubeziehen (z.B. durch ein formales Mittel wie die Konstruktion eines fiktiven, den Leser direkt ansprechenden Verfassers), und weil sie ihre Leser sogar zur Mitarbeit auff orderten. Leserbriefe – häufig genug freilich von den Herausgebern fingierte – sollten diesen engen Kontakt zwischen Zeitschrift und Publikum dokumentieren. Gerade die viel gelesenen Moralischen Wochenschriften haben für die breitenwirksame Vermittlung aufklärerischer Gedanken und Verhaltensnormen eine besondere Rolle gespielt.17 Ihre Vorbilder waren der zwischen 1709 und 1711 von Richard Steele herausgegebene Tatler und der von Steele und Joseph Addison von 1711–12 und 1714 publizierte Spectator. Diese Zeitschriften wurden in England derartig populär, dass ihnen von Zeitgenossen nachgesagt wurde, sie hätten neben der Bibel am nachhaltigsten auf die englische Lebenspraxis eingewirkt. Sie unterschieden sich von den gelehrten Fachzeitschriften vor allem durch ihre didaktischen Zielsetzungen, behandelten Angelegenheiten des alltäglichen Lebens und bevorzugten dafür Textsorten wie die moralische Erzählung, das moralische Charakterbild, die Fabel und die Allegorie, den Dialog und den Brief, in denen allen eine sich mit der Vernunft zu vereinbarende christliche Ethik propagiert wurde (d.h. in ungeschminkter Formulierung eine christliche Ethik ‚mit Maßen‘, die auch heute noch die bürgerliche Nächstenliebe prägt). Insofern setzten sie Traditionen der religiösen Erbauungsliteratur fort, unterschieden sich von dieser aber durch ihre die Leser unmittelbar ansprechende Alltagsnähe und ihre Unterhaltungsqualitäten. In der deutschsprachigen ‚moralischen‘ Zeitschriftenliteratur lösten die englischen Vorbilder eine ganze Flut von Nachahmungen aus. Vorsichtig, d.h. politische Themen meidend, begannen Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger zwischen 1721–23 mit der Zürcher Wochenschrift Die Discourse der Mahlern, in der viel über religiöse und ästhetische Fragen, aber auch viel über Erziehung und Frauenbildung geschrieben wurde. Die Ernsthaftigkeit, mit der dies geschah, war ein Hindernis für den Erfolg. Mehr Anklang fanden in Deutschland zwischen 1724–26 Der Patriot sowie Johann Christoph Gottscheds Vernünftige Tadlerinnen (1725–26) und Der Biedermann (1727–29), die sprachlich leicht verständlich waren und die durch die Behandlung von Haushalts- und Erziehungsfragen besonders nachdrücklich die Frauen ansprachen. Mit diesen Zeitschriften spielten sich redaktionelle Gewohnheiten ein, die in den folgenden Jahrzehnten in zahlreichen Wochenschriften immer wieder imitiert wurden und durch die mundgerechte Zubereitung und die ständige Wiederholung von Moralvorstellungen und Klugheitsregeln unter den Lesern allmählich ein Klima der Selbstgefälligkeit entstehen ließen, das nicht nur selbstdenkende Köpfe wie Lessing zu kritischen Äußerungen veranlasste, sondern das im weiteren Sinn auch den Hintergrund für die Protestbewegungen der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang bildete. Einem politischen Publizisten wie Christian Friedrich Daniel Schubart, der ab 1774 eine literarisch-politische Zeitschrift wie die Deutsche Chronik herausgab, wurde von seinem Fürsten mit zehn Jahren Festungshaft das Rückgrat gebrochen.

Zielten Verfassergesellschaften, Freundschaftsbünde u.ä. auf die Produktion von Literatur, so erleichterten verschiedene Formen von Lesergesellschaften und auch Büchereien ihre Rezeption. Da Bücher und Zeitschriften teuer waren, wurden sie in Lesezirkeln, die es vereinzelt schon im 17. Jahrhundert gab, gemeinsam bezahlt und herumgereicht. Die Praxis des Verleihens führte später, gegen Ende des Jahrhunderts, zur Entstehung von kommerziellen Leihbüchereien, in denen vor allem ärmere Bürger populäre Lesestoffe zu billigen Preisen bekamen. Die wohlhabenderen Bürger dagegen richteten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer mehr Lesekabinette ein. Sie kauften oder mieteten Räume oder auch ganze Häuser, um sich in ihnen zu treffen und über Gelesenes zu sprechen. Die Mitgliederlisten dieser durch relativ hohe Beiträge finanzierten Kabinette zeigen, dass ihre Träger in der Mehrzahl bürgerliche Akademiker waren, die sich zum Teil aber durchaus bemühten, durch öffentliche Vorträge ‚volksaufklärerisch‘ zu wirken. Nicht von ungefähr haben sich aus Lesergesellschaften gegen Ende des Jahrhunderts auch politische Klubs – wie im Rheinland die Jakobinerklubs – entwickelt, und nicht von ungefähr haben Obrigkeiten Lesergesellschaften auch kontrolliert oder – wie in Bayern – sogar verboten.

All die vielen pragmatischen und literarischen Institutionen der Öffentlichkeit‘, die sich im 18. Jahrhundert herausbildeten, waren an der Verwirklichung einer Lebensführung beteiligt, in der im dialogischen Austausch der Gedanken dem vernünftigen Argument Geltung, d.h. öffentliche Zustimmung verschafft wurde. In dem Maße, in dem die bürgerliche Gesellschaft auf die Vernunft als die für alle verbindliche Lebensmaxime setzte, überwand sie die Lebensform der auf Repräsentation bauenden höfischen Gesellschaft (vgl. Kap. 1) und wurde zu einer staatsbürgerlichen Gesellschaft, die politisch war, nicht weil sie den absolutistischen Staat direkt angriff, sondern weil der allgemeine Gebrauch der Vernunft das Prinzip absolutistischer Herrschaft von selbst unterlief. In der staatsbürgerlichen Gesellschaft galten am Gedanken der Nützlichkeit orientierte Leistungsbereitschaft sowie von Vernunft geleitete Formen des Zusammenlebens und die dafür nötige Selbstbeherrschung in gleicher Weise wie das permanente kritische Hinterfragen des Gegebenen – auch wenn die freie Entfaltung dieser Verhaltensweisen unter den gegebenen politischen Verhältnissen nur langsam voranschritt. Gerade weil die staatsbürgerlich denkende Gesellschaft in ihrem politischen Gestaltungswillen durch absolutistische Reglementierungen blockiert war, gewannen die genannten Institutionen der Öffentlichkeit als Gruppierungen, in denen sich bürgerliche Autonomie verwirklichen konnte, ihre besondere Bedeutung.

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