Читать книгу Deutsche Literatur - Peter Nusser - Страница 62

Die Entstehung des literarischen Marktes und seine Folgen

Оглавление

Es gehört zur Lebensführung der staatsbürgerlichen Gesellschaft und entsprach derem ausgeprägten Kommunikationsbedürfnis, dass sich gerade in ihr seit der Mitte des 18. Jahrhunderts eine Buchkultur entwickelte, die bald nicht mehr nur – wie zuvor – von den akademisch Gebildeten getragen wurde. Das Lesen war Voraussetzung einer informierten und räsonierenden Öffentlichkeit. Nicht nur verhalf es Geschäftsleuten zur erfolgreichen Teilnahme an Handel und Gewerbe, es lag vor allem auch im Interesse der von den Gedanken der Aufklärung geprägten und sie weitertragenden Pädagogen, Schriftsteller, Journalisten, die Unterricht und Bildung sowie die kritische Verarbeitung von Nachrichten als Vehikel der Emanzipation des Bürgertums begriffen und das Lesen damit aufwerteten. Diese neue Einschätzung des Lesens und die im 18. Jahrhundert in den einzelnen Territorien zunehmend eingeführte allgemeine Schulpflicht mit dem dazu gehörenden Ausbau pädagogischer Institutionen führten gerade in den Städten zu einer langsam, aber stetig voranschreitenden Überwindung des Analphabetentums. Dennoch war der Kreis der Leser auch hier und noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts relativ klein. Die Zahl der Lesefähigen in der Gesamtbevölkerung lag zwischen 1770 und 1800 schätzungsweise bei 15–25 Prozent,28 die Zahl der wirklichen Leser war viel geringer.29 Wenn einige Zeitgenossen abschätzig von Vielleserei und von der Lesewut des Pöbels sprachen, so traf dies mit Sicherheit nicht die realen Gegebenheiten, sondern entsprang der polemischen Absicht derer, die reaktionär an obrigkeitsstaatlichen Vorstellungen festhielten und demokratische Entwicklungen in Deutschland fürchteten. Spektakulärer als der Anstieg der Zahl der Leser war der Wandel des Leseverhaltens in dieser Zeit. Das intensive wich einem extensiven Lesen. Nicht allein mehr um zu lernen oder um sich zu erbauen, d.h. sich innerlich zu bereichern und zu sammeln, wurde gelesen, sondern auch und immer mehr, um sich zu zerstreuen und zu unterhalten. Diese neue Qualität des Lesens wurde nicht zuletzt durch die Buchproduzenten angestoßen, gefördert und auch gewinnbringend genutzt. Die Überschwemmung des Buchmarkts mit Neuerscheinungen,30 die zugleich bei vielen Lesern die Erwartung auf etwas Neues zur Gewohnheit werden ließ, ging einher mit der Entwicklung kundenfreundlicherer Formen des Vertriebs von Büchern. Nachdem (seit 1764 auf Initiative des Leipziger Verlegers Philipp Erasmus Reich) der Büchertausch und Bücherverkauf auf einigen wenigen jährlich stattfindenden Buchmessen durch die Einrichtung von dauernd bestehenden Auslieferungslagern der Verlage und durch die Beauftragung von nur für den Buchvertrieb zuständigen Sortimentern und Kommissionären ersetzt und der Warenverkehr dadurch erheblich beschleunigt worden war, konnten Bücher auch schneller in Geld verwandelt und konnte das Geld schneller wieder für die Buchproduktion eingesetzt werden. Das auf diese Weise steigende und eben auch stetige Angebot an Druckerzeugnissen beeinflusste selbstverständlich die Nachfrage nach ihnen. Wer ständig etwas Neues fand, was ihn reizte, wurde immer wieder zum Kaufen verlockt. Insofern war gerade der Wandel der Distributionsform ein entscheidender Faktor für die schon angesprochene Veränderung des Leseverhaltens.

Mit dem marktwirtschaftlich geführten Verlagswesen wandelten sich auch die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Schriftsteller. Im Prinzip hatten Schriftsteller jetzt die Möglichkeit, sich aus Abhängigkeiten von fürstlichen Gönnern oder kirchlichen bzw. staatlichen Ämtern zu lösen und ihren Unterhalt allein durch das Schreiben von Büchern zu verdienen. Da Publikationen jedoch schlecht honoriert wurden, mussten die ‚freien‘ Schriftsteller sich, wenn sie auf Nebentätigkeiten verzichten und zugleich der Armut entgehen wollten, dem Geschmack möglichst vieler Leser anpassen, also Bücher schreiben, die von vielen gekauft wurden. Damit gerieten sie durch eben den Markt, dem sie ihre berufliche Unabhängigkeit verdankten, in eine neue Abhängigkeit, die des Erfolgs bei der Masse der Käufer. Insofern ist die Entstehung des literarischen Marktes auch die eigentliche Geburtsstunde der auf Konformität mit dem Publikumsgeschmack zielenden Trivial- und Unterhaltungsliteratur,31 die bei der näheren Betrachtung der Literatur des neuen Bürgertums nicht übersehen werden darf. Wollten Verleger und Autoren auf dem Büchermarkt finanzielle Gewinne erzielen, so musste neben die Anpassung an den Publikumsgeschmack auch ein vielseitiges Angebot an Lesestoffen treten, um die Neugier und die Nachfrage der Leser zu stimulieren. Nicht von ungefähr bildete sich daher in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine große Zahl unterschiedlicher, vornehmlich unterhaltender Genres heraus. Verleger und Autoren versuchten mit ihnen nicht nur das Bedürfnis nach ‚Innerlichkeit‘ zu befriedigen, das meist aus der ‚Gemütsregulierung und Affektkontrolle‘ hergeleitet wird, die das rationale Arbeiten und die Einhaltung reglementierter Verhaltensweisen den Bürgern im Alltag abforderte;32 sie versuchten auch ganz bestimmte Wunschvorstellungen der Leser herauszufinden und zu bedienen. Für beides war insbesondere der Roman geeignet. Da er von allen poetischen Formen am wenigsten festgelegt war, konnte er leicht die unterschiedlichsten Inhalte aufnehmen; zugleich erlaubte er eine ganz private Rezeption, die ihn dafür prädestinierte, den Leser durch die Ausbreitung persönlichster Empfindungen und Gedanken der Figuren affektiv zu berühren. So ist es eine Folge des ganz auf die Bedürfnisse der Rezipienten ausgerichteten literarischen Marktes, dass sich am Ende des 18. Jahrhunderts schon sehr viele „funktional-strukturelle Grundtypen“33 des Trivial- und Unterhaltungsromans ausgebildet haben, die sich im 19. Jahrhundert nur weiter verfestigten (manchmal auch erweiterten). Die großen Unterhaltungsgenres des Familien- und Liebesromans, des Schauerromans, des Kriminalromans, des Reise- und Abenteuerromans, des historischen und zeitgeschichtlichen Romans leben in wenig veränderter Form in der massenhaft verbreiteten Literatur (zumal in der Heftromanliteratur) bis heute fort, nur dass ihre Produzenten hier inzwischen die Bezeichnungen ausgetauscht haben und statt vom Liebesroman vom Schicksals- oder Frauenroman, statt vom Schauerroman vom Horrorroman sprechen oder dass die Reise- und Abenteuerromane gern zu Wildwestromanen und die historischen und zeitgeschichtlichen Romane zu Kriegsromanen verengt und dem Erwartungshorizont der Leserzielgruppen angepasst werden.

Die Entstehung des literarischen Marktes mit der Vielzahl seiner schnell wechselnden und stets neue Reize schaffenden Angebote entsprach ganz dem Kommunikationsbedürfnis, das der Lebensführung der neuen ‚Staatsbürger‘ zu Grunde lag. Das immer vielfältiger zur Verfügung stehende gedruckte Wort präsentierte nicht nur genügend Stoff, über den man sich verständigen oder an dem man in kritische Auseinandersetzungen geraten konnte, es erlaubte auch die Rede über zwischenmenschliche Gefühle, die Mitteilung des Herzens, und es ermöglichte nicht zuletzt die Flucht vor den Widrigkeiten des Alltags in Phantasiegefilde und in ein illusorisches Glück. Welche Möglichkeiten auch ergriffen wurden – insgesamt hat die durch den literarischen Markt sich explosiv entfaltende Buchkultur des 18. Jahrhunderts dadurch, dass sie immer mehr Menschen den Einblick in eine Sphäre des Wissens und der Imagination gewährte, die Welt der überkommenen Autoritäten unter laufen. Hierin liegt ihre politische Wirkung. Der bürgerliche Emanzipationsprozess vollzog sich wesentlich durch Lektüre und das durch sie ausgelöste Gespräch. Indem neue Denkbilder vorgestellt und Erfahrungen nachvollziehbar wurden, die eigene Gewohnheiten überschritten, wurde die Wirklichkeit transparenter und eröffneten sich neue Dimensionen des Handelns. Aufklärerische Sozietäten, Briefwechsel, Büchermarkt, die Stützen der Lebensführung der ‚staatsbürgerlichen‘ Gesellschaft, haben den diese Lebensführung bestimmenden, in der Öffentlichkeit wie in der Familie geführten aufklärerischen Diskurs entscheidend getragen, den bürgerlichen Selbstbehauptungswillen gestärkt und damit die unablässliche Bedingung für die allmähliche Demokratisierung der Gesellschaft geschaffen.

Deutsche Literatur

Подняться наверх