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6. Schlussbetrachtung: Zu den Wirkungen der Literatur des Barock und den durch sie vermittelten Wertvorstellungen und Verhaltensnormen

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So relativ unentschieden die mit dem Genre der Schäferdichtung verbundenen gesellschaftskritischen Möglichkeiten genutzt wurden, so wenig lässt sich doch verkennen, dass Literatur, überblickt man zum Schluss dieses Kapitels den Zeitraum des 17. Jahrhunderts insgesamt, wie in kaum einem anderen Zeitalter als politische Kraft gewirkt hat. Sie hat einerseits ganz unmittelbar zur Bestätigung der höfischen Lebensform beigetragen und dabei, gerade weil sie im Wesentlichen im mehr oder weniger fest in die Hofgesellschaft integrierten gelehrten Bürgertum entstanden und rezipiert worden ist, dazu beigetragen, diese Lebensform zu einer Lebensform der ‚guten Gesellschaft‘ auszuweiten; sie hat andererseits diese Lebensform und besonders die in ihr vertretenen politischen Wertvorstellungen zum Teil kritisch oder sogar abweisend begleitet. Die Formen der Kritik sind vielfältig. Sie reichen von erzieherischen Mahnungen, die sich aus der Präsentation vollkommener höfischer Lebensführung ablesen lassen, und den als Anspielungen gewagten Gegenentwürfen des Lebens außerhalb der höfischen oder auch der ‚guten‘ Gesellschaft (etwa in der bukolischen Landschaft oder in der eremitischen Einsamkeit) bis zur offenen, (besonders im Drama) diskursiv geführten Auseinandersetzung über die Verantwortung des Fürsten und die moralische Begründung seiner Entscheidungen oder – noch weitergehend, aber dabei auch die konkreten inhaltlichen Bezüge verlierend – bis zum Versuch, den Rezipienten in die meditative Reflexion über die Vergänglichkeit und damit die Vergeblichkeit aller irdischen Bemühungen hineinzuziehen. – Über all diesen kritischen Ansätzen, die das literaturgeschichtliche Gedächtnis heute weitgehend bestimmen, darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Literatur des Barockzeitalters die höfische Lebensführung überwiegend zustimmend begleitete, was nicht nur die zahllosen panegyrischen Gedichte belegen, sondern auch die höfisch-historischen Romane, in denen der Lebensstil und die Manieren der Hofgesellschaft ausgebreitet wurden, sowie natürlich die vielen Spiele, Opern und Dramen, die zur Unterhaltung dieser Gesellschaft und zum Glanz ihrer Feste beitrugen. Die Literatur hat die Lebensform der höfischen Gesellschaft nicht nur kritisch reflektiert, sondern – wie in diesem Kapitel gezeigt worden ist – immer auch mitgestaltet.

Ihre innerliterarische Wirkungsgeschichte soll hier im Einzelnen nicht verfolgt werden. Das 18. Jahrhundert hat die große Oper und das Festspiel an den Höfen noch lange weitergeführt, und auch die höfisch-historischen Romane wurden weiterhin gelesen, allmählich freilich – mit dem Aufstieg des Bürgertums – immer mehr von realistisch-psychologischen abgelöst. Dagegen stießen die stilistischen Übertreibungen insbesondere der hochbarocken Poesie (Lohensteins vor allem) bei vielen Aufklärern auf Aversionen. Bei den Romantikern fand insbesondere die religiöse Lyrik des Barock viel Interesse, ganz besonders das Werk Friedrich Spees. Später – bis in die Gegenwart hinein – sind Anregungen eher vom Picaroroman ausgegangen (man denke an Döblin und Grass), nicht weniger auch von den Stücken der Jesuiten und den Dramen der Schlesier (von denen u.a. Grillparzer, Hofmannsthal und Brecht beeinflusst wurden).

Mehr noch als die literarischen Texte selbst aber haben die durch sie vermittelten Wertvorstellungen und Verhaltensnormen der höfischen Gesellschaft als Impulse weitergewirkt, sind in die gehobenen bürgerlichen Schichten der Städte eingedrungen, von dort teilweise auch weiter in sozial schwächere Schichten, und haben mentalitätsgeschichtlich langfristige Folgen gehabt. Im einflussreichen Bürgertum bildete sich im Gespräch über die Politik und die Festlichkeiten der Höfe der „Verkehrskreis der guten Gesellschaft“.142 In kleinen literarischen Zirkeln oder in dilettierenden musikalischen Vereinigungen setzte sich in den ‚Salons‘ fort, was in den Höfen in größerem Rahmen vorgelebt oder arrangiert wurde (während die ‚einfachen‘ Leute sich – vergleichbar heutigen Touristen – glücklich schätzten, wenn sie den bloßen Zutritt zu den Parks und Gärten, zu Galerien oder zu Feuerwerken oder auch zu Opern und Theateraufführungen erlangten). In der sich ausweitenden ‚guten Gesellschaft‘ des 17. und frühen 18. Jahrhunderts wurden nicht nur die (zu Beginn dieses Kapitels ausführlich behandelten) Regeln des disziplinierten Umgangs miteinander erprobt, womit das Ideal des Kavaliers (des Gentleman) auch im Bürgertum Eingang fand; es ist von Bedeutung, dass in besonderem Maße auch die Frauen in die Geselligkeitskultur dieser Gruppen einbezogen wurden. Gerade die Frauen stützten in ihnen musikalische und literarische Initiativen. Und gerade die Frauen partizipierten vor allem am damals allgegenwärtigen Diskurs über Erziehungsfragen. In diesem Diskurs galt nicht nur das ‚manierliche Betragen‘ in der Gesellschaft als Erziehungsaufgabe, sondern ebenso auch das politische Verhalten. Anders als heute, wo Erziehungsfragen in der Öffentlichkeit eine eher nebengeordnete Rolle spielen und klar von politischen und wirtschaftlichen Interessen dominiert, allenfalls als politische Aufgabe verstanden werden und als ‚Bildungspolitik‘ verebben, war für die kulturell maßgebliche Schicht des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts umgekehrt Politik ein Ausfluss der Erziehung, wobei dahingestellt bleibt, ob die Realität diesem Selbstverständnis entsprach. Das politische Gespräch jedenfalls war eingebettet in das allgemeine Erziehungsgespräch, an dem auch die Literatur – wie gezeigt – vielfältigen Anteil hatte. Später mündete dieses Gespräch in die breitere bürgerliche Schichten erfassende Aufklärungsbewegung (vgl. II), die schließlich das öffentliche Schulwesen für alle und die allgemeine Schulpflicht erzwang.

Die Lebensform und die Verhaltensnormen der höfischen Gesellschaft (und der ihr nacheifernden ‚guten Gesellschaft‘) haben freilich auch andere Folgen gehabt. Manche der an den Höfen üblichen Zwänge haben sich bis in die Gegenwart hinein in den Verhaltenskodices unserer politischen und wirtschaftlichen Eliten erhalten – etwa wenn diese, ähnlich den Höflingen der Vergangenheit, sich einander (eben unter der Maske der ‚Höflichkeit‘) mit Misstrauen bewachen und nach Schwächen ihrer Kontrahenten suchen, um daraus im Kampf um Prestige und Macht Vorteile zu ziehen. Auch wenn die Arbeits- und Karrierezwänge in den heutigen Eliten – und nur von ihnen ist hier die Rede – inzwischen anders begründet sind als im 17. Jahrhundert und auch die Maskierungen der Person ganz andere Formen angenommen haben, sind doch sowohl die Zwänge als auch die Maskierungen in ihren Mechanismen bzw. in ihrer Intensität vergleichbar – und es stellt sich gerade heute die Frage, inwieweit den am Machtkampf Beteiligten das Rollenspiel so zur zweiten Natur geworden ist, dass sie die Fähigkeit, ihr eigenes Verhalten selbstkritisch einzuschätzen, verloren haben.143 – Eine andere Erbschaft der höfischen Gesellschaft wirkt eher noch belastender in die Gegenwart hinein – die im Zeitalter des Absolutismus sich stark ausprägende, keinesfalls überwundene, sondern im Gegenteil heute in allen Schichten der Gesellschaft verbreitete und durch die Massenmedien nachhaltig geförderte Gewohnheit, gerade im Bereich der Politik einzelne Personen zu überhöhen und autoritäre Denk- und Verhaltensstrukturen mit den dazugehörenden Anmaßungen zu akzeptieren. Gegen die im Zeitalter des Absolutismus verlangte und rigoros durchgesetzte, mentalitätsgeschichtlich so wirksame politische Anpassung hat sich nicht nur schon im 17. Jahrhundert ein Gryphius – um nur einen einzigen Autor hervorzuheben – mit seinen Mitteln gewehrt, sondern etwas später mit anderen Kräften die ganze Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts mit dem in ihr entstehenden, gerade auch durch die Literatur zur Wirkung gebrachten Normgefüge des ‚Staatsbürgertums‘.

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