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Lessing

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Auch bereits Gotthold Ephraim Lessing steht in der Nähe Baumgartens, wenn er den Interessen der Aufklärung mit anderen Mitteln als denen des Rationalismus Wirkung zu verschaffen sucht. Lessing ist als Kunstkritiker durch keine in sich geschlossene Theorie hervorgetreten, sondern hat sich in einer Vielzahl von Schriften zu ästhetischen und poetologischen Fragestellungen geäußert (insbesondere in seinen Briefen, die Neueste Literatur betreffend (1759–65), in seinem Laokoon (1766) und in seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767–69)), wobei er seine Gedanken hierzu stets auf konkrete Beispiele bezog. Dieses induktive Vorgehen verweist nicht nur auf seine Abneigung gegen den Dogmatismus der rationalistischen Systeme, sondern spiegelt zugleich einen Denkstil, dem die Mühe der Wahrheitsfindung allemal wichtiger ist als der Besitz der Wahrheit und deren Absicherung. Immer wieder wird Lessings eigene Bemerkung aus der Duplik von 1778 hierzu zitiert: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist, oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin alleine seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet.“ Gerade dass Lessing den Leser in sein kritisches, oft auch polemisches Denken einzubeziehen suchte, hat zu der bis heute andauernden Wirksamkeit seiner literaturtheoretischen Ansichten beigetragen und vor allem auch das Verständnis von Aufklärung als einer sich an andere Menschen richtenden Aufgabe mitgeprägt.

So unsystematisch Lessings kunst- und literaturtheoretische Gedanken oft auch erscheinen mögen, sind sie doch von festen Grundsätzen getragen. Am tiefsten reicht seine Überzeugung, dass jegliche Kunst die Absicht verfolgt, den Menschen zu seiner höchsten sittlichen Bestimmung zu führen. Diese erzieherische Aufgabe steht für ihn wie für alle Aufklärer außer Frage. Insofern ist seine Betrachtung gerade auch der Literatur immer wirkungsbezogen. Allerdings gewinnt für ihn die Literatur ihre Moralität nicht – wie für die Rationalisten, allen voran Gottsched – aus der Weitergabe von Exempeln, die sich einem Tugend- und Lasterkatalog applizieren lassen, bzw. aus der lehrhaften Vermittlung von Erkenntnissen. Er glaubt nicht, dass Wissen und Einsicht ausreichen, um tugendhaft zu handeln, oder dass bereits die Zurückdrängung der Affekte den Menschen bessert. Vielmehr ist er davon überzeugt, dass Menschen nur durch die Beteiligung ihrer Affekte zu moralischem Handeln gebracht werden können und dass die Funktion der Literatur darin liegt, tugendhaftes Verhalten auch durch die Darstellung von Affekten einzuüben. Während die Rationalisten die Affekte als solche für störend hielten, sind sie für Lessing unentbehrlich, um der Vernunft überhaupt Geltung zu verschaffen, d.h. die Vernunft für andere fruchtbar zu machen. Der besondere Affekt, den die Literatur, und hier vor allem das Trauerspiel, im Leser zu erzeugen vermag und den sie erzeugen soll, ist das Mitleid. Dieser Begriff spielt für Lessing eine zentrale Rolle. Er versteht unter ihm weniger das augenblickliche, sich schnell erschöpfende Mitgefühl mit dem Unglück eines anderen, als vielmehr eine Haltung, eine Gefühlsbereitschaft, die für das Unglück generell empfindsam ist. In dieser Empfindsamkeit, in dieser Fähigkeit zur ‚Sympathie‘, liegt für ihn die höchste Tugend des Menschen, seine tiefste Sittlichkeit. In einem Brief an Nicolai vom November 1756 schreibt er: „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der aufgelegteste.“53 Dies heißt zugleich, dass die Fähigkeit zum Mitleiden für Lessing eine soziale Kraft besitzt, dass es die Voraussetzung für verantwortliches Handeln in der und für die Gesellschaft ist. – Wenn die Literatur dieses Mitleiden einzuüben versucht, heißt dies eben nicht, dass sie zu einzelnen moralischen Verhaltensweisen aufruft, sondern dass ihr daran gelegen ist, die eigentliche Natur des Menschen freizulegen und in ihm die andauernde Neigung zu wecken, in der Alltagspraxis moralisch zu handeln. Am deutlichsten hat Lessing diese Auffassung zur Absicht der Literatur wohl in dem schon von seinen Zeitgenossen gern zitierten Saitengleichnis54 dargelegt. Es geht von der Beobachtung aus, dass, wenn man zwei Saiten die gleiche Spannung gibt und die eine durch Berührung ertönen lässt, die andere mittönt, ohne berührt worden zu sein. Dieses Phänomen bezieht er auf den literarischen Rezeptionsvorgang. Der Zuschauer eines Dramas schwingt mit dem durch die Handlung des Spiels ‚berührten‘ Protagonisten mit, ohne selbst körperlich betroffen zu sein. Nicht also auf den ‚Witz‘, auf die kognitive Anstrengung bei der Deutung eines vorgeführten Exempels kommt es an, sondern auf das Betroffensein von den Ausstrahlungen der wahrgenommenen Erscheinungen und Vorgänge.55

Dem Ziel der Literatur, durch die Evokation des Mitleidens moralische Wirkungen zu erzielen, unterstellt Lessing alle künstlerischen Mittel. Die Befolgung von formalen Regeln hat für ihn nur Sinn, sofern diese die wesentliche Absicht des Kunstwerks zu verwirklichen helfen. Ihre Einhaltung um ihrer selbst willen lehnt er ab; zahlreiche seiner kritischen Äußerungen beziehen sich polemisch gerade auf den Mechanismus der Regelbefolgung, den er besonders bei den Franzosen beobachtet. Für Lessing ist es belanglos, ob beispielsweise ein Drama in Versen oder in Prosa abgefasst ist und ob es die drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung befolgt oder nicht, sofern es nur die beabsichtigte Gefühlswirkung beim Zuschauer erzielt. In dieser Hinsicht ist Lessing voller Bewunderung für Shakespeare, an den er auch denkt, wenn er das Genie als den „geborenen Kunstrichter“ bezeichnet, der die „Probe aller Regeln in sich“ trägt. Dies heißt für ihn freilich nicht, dass das Genie keine Regeln kennen sollte; nur sind diese nicht der Maßstab seines Schaffens, sondern Instrumente, über die er nach eigenem Ermessen verfügt. Damit rückt Lessing schon in die Nähe der Genieauffassung der Stürmer und Dränger, obwohl er sich heftig gegen die oberflächliche Spontaneität der Geringeren unter ihnen gewandt hat. Er akzeptiert zwar das mit dem Verstand und mit dem poetischen Regelwerk schwer zu fassende Einmalige eines Kunstwerks, beharrt aber darauf, dass es das in der Tiefe liegende Gesetz befolgt, den Rezipienten über die Berührung seiner Affekte zu seiner sittlichen Bestimmung als Vernunftwesen zu führen.

Damit die moralisch wirkenden Affekte im Rezipienten ausgelöst werden können, muss er so in die imaginäre Welt des Kunstwerks hineingezogen werden, dass er auf sie wie auf die Wirklichkeit des praktischen Lebens reagiert, also nicht das Gefühl hat, vor etwas Künstlichem zu stehen. Über diese Illusionsbildung, die uns abwesende Dinge als gegenwärtig, den Schein als Wirklichkeit anzunehmen erlaubt, ist ausführlich im Laokoon nachzulesen. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass der Rezipient ‚mitzuschwingen‘ beginnt (vgl. das erwähnte Saitengleichnis). So schreibt Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie mit Blick auf das Trauerspiel (vgl. u. S. 186ff.), dass es dessen Ziel sei, „die Leidenschaften, nicht beschreiben, sondern vor den Augen des Zuschauers entstehen, und ohne Sprung, in einer so illusorischen Stetigkeit wachsen zu lassen, dass dieser sympathisieren muss, er mag wollen oder nicht …“. Wenn die Illusionsbildung gelingen soll, ist es erforderlich, dass das Dargestellte psychologisch wahr ist. Dazu gehört, dass die Charaktere in sich stimmig und ihre Handlungen zwingend motiviert sind. Alles Willkürliche, Verwickelte, Pedantische, Starre, Affektierte lehnt Lessing deswegen ab, was zugleich seine reservierte Haltung gegenüber der Dichtkunst des Barock und des Rokoko erklärt.

Gerade Lessings Wirkungskonzept fügt sich in die Lebensführung der staatsbürgerlichen Gesellschaft besonders schlüssig ein. Denn das Mitleiden, das er über das Kunstwerk eingeübt sehen will, stärkt die oben beschriebene Disposition der miteinander kommunizierenden Bürger und hilft dabei, dass die Gesprächspartner sich als gleichberechtigt ‚erleben‘. Für Lessing ist dies die Grundlage, auf der ein zwangfreier, offener Dialog sich erst recht entfalten kann. Insofern sind die Rührungen, die von der schönen Literatur ausgelöst werden, Vorbereitung des kritischen Räsonnements, an dem gerade Lessing als einem falsche Autoritäten auflösenden Anspruch stets festgehalten und den er auch in seinen Dramen stets vorgeführt oder thematisiert hat. Dass die empfindsame Ästhetik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Zuge der Massenproduktion rührender Dramen und Romane auch Auswirkungen gehabt hat, die zur Trivialisierung und schließlich zur Rührseligkeit um ihrer selbst willen führten, ist dem Kritiker und Utopisten Lessing nicht anzulasten, sondern entspringt den Bedürfnissen eines breiten Publikums. Diese lassen sich aus soziologisch zu erfassenden Gegebenheiten begründen, nicht aus den ästhetischen Anschauungen einiger führender Köpfe.

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