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Das Projekt der Weimarer Klassik

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Das von Schiller gewünschte Zusammenwirken des naiven und des sentimentalischen Dichters war ein Reflex auf den beginnenden Gedankenaustausch zwischen Goethe und ihm, den beide zunehmend als Bereicherung empfanden und den Goethe später ein ‚glückliches Ereignis‘ genannt hat. Es ging dabei in Gesprächen und Briefen nicht nur um Gattungsgesetze und um die Wahl adäquater Stoffe, sondern besonders auch um gegenseitige Stellungnahmen zu den eigenen dichterischen Produktionen und um den Austausch über die Möglichkeiten und Grenzen des einen oder anderen der beiden. Wichtig war für beide auch die Arbeit an Schillers monatlich erscheinender, philosophisch und literarisch ausgerichteter, auch poetische Texte veröffentlichender Zeitschrift Die Horen, an der zwischen 1795 und 1797 viele führende Köpfe mitwirkten, neben Goethe und Schiller auch Herder, Fichte, Wilhelm von Humboldt, August Wilhelm Schlegel und andere. Getragen wurde diese Arbeit von einem zumal von Schiller deutlich formulierten literaturpolitischen Programm. Die Zeitschrift solle dazu dienen, schrieb er in der öffentlichen Ankündigung ihres Erscheinens, die Menschen „durch ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was rein menschlich und über allen Einfluss der Zeiten erhaben ist, … wieder in Freiheit zu setzen und die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen.“ Das Projekt der Horen wurde zum Versuch der Verwirklichung dessen, was in den in dieser Zeitschrift gedruckten Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen gefordert war. Aus der Lektüreerfahrung und dem Konsens der Gebildeten sollte jene herrschaftsfreie und nachdenkliche Kommunikation erwachsen, die Schiller als Bedingung eines ‚ästhetischen Staates‘ vorschwebte.

So sehr diesem Projekt, das mit dem Begriff der Weimarer Klassik verbunden ist, immer wieder – gerade angesichts der Französischen Revolution – der Vorwurf gemacht worden ist, sich den zeitgenössischen politischen Problemen entzogen zu haben, so wenig ist doch die politische Bedeutung zu verkennen, die von ihm letztlich ausgegangen ist. Der – sicherlich utopische, der Aufklärung tief verpflichtete – Gedanke einer vernünftigen, moralisch und ästhetisch kultivierten Welt wurde in Weimar, wenigstens versuchsweise, „in die Wirklichkeit hineingebildet“.64 Dass dabei am Ende weniger herauskam als erhofft, obwohl das Großherzogtum 1816 als erster deutscher Staat eine landständische Verfassung erhielt und obwohl in ihm zumal die Künste und Wissenschaften besonders gefördert wurden, ist weniger wichtig als die Tatsache, dass von Weimar ein Anstoß zur Veränderung des bestehenden politischen und gesellschaftlichen Status unter Beteiligung aufgeklärter Bürger ausging, dass Weimar gleichsam als ein ‚Modell‘ ins Bewusstsein trat, das einen deutschen „Alternativanspruch zur Französischen Revolution“ bildete.65 Die Beziehungen zwischen diesem Weimarer ‚Modell‘ und den preußischen Reformen (vgl. o.) sind entsprechend vielfältig66 und finden ihren sichtbarsten Ausdruck in der Person Wilhelm von Humboldts, des Wegbegleiters Goethes und Schillers (vgl. seinen Briefwechsel mit ihnen), der, weil er sich weigerte, den Menschen vom Bürger zu trennen, zwischen geistigem Leben und Politik die in jener Zeit vielleicht tragfähigste Brücke geschlagen hat (Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, 1792).

Gerade zur Zeit der Weimarer Klassik also berührt sich der ästhetische Diskurs stark mit dem politischen. Und bis in die Zeit der Weimarer Klassik ist die Aufklärung der tragende Grund ästhetischer Erwägungen. Erst mit der Romantik (verstanden als Bezeichnung für historische Erscheinungen im Bereich der Kunst) löst sich die enge Bindung des Ästhetischen an diese philosophisch bestimmbare Gesamtbewegung, gewinnt das Ästhetische ein Eigenleben. Während bis zu Kant und Schiller – und gerade von ihnen – das künstlerische Spiel in seinem Verhältnis zum Moralgesetz reflektiert wird, behaupten die Romantiker den Primat der Kunst über alle Erscheinungsformen des geistigen und gesellschaftlichen Lebens, wird die Kunst zum absoluten Reservat der Freiheit des Individuums. In der Romantik eignet die Kunst sich die Wirklichkeit an, um sie ‚poetisch‘ zu machen, oder enthüllt sie die Wirklichkeit vom übergeordneten Standpunkt des Künstlers her als unzulänglich. Mit der Romantik beginnt zugleich die Zeit der literarischen Experimente, der Vermischung der Gattungen, tritt das Interessante an die Stelle des Schönen und ist das Interessante nicht mehr Symbol des Sittlichen, sondern „Zeichen eines Unendlichen, das die Kunst in das Endliche zu übersetzen“ sucht.67 Die Vielfalt künstlerischer Möglichkeiten beginnt den sich abzeichnenden Werterelativismus der Moderne zu spiegeln. Ihn zu erklären, erfordert einen neuen Ansatz, die Beschreibung der Normgefüge der sich entwickelnden industriellen Gesellschaft. Insofern ist es sinnvoll, den Überblick über den ästhetischen Diskurs der ‚staatsbürgerlichen‘ Gesellschaft mit dem Beginn der romantischen Bewegung zu beenden und auch die folgende Beschreibung der literarischen Entwicklungen in der ‚staatsbürgerlichen‘ Gesellschaft in diesem Kapitel nur bis zur Romantik zu führen.

Analog zu den vorangegangenen Kapiteln, sollen bei der Beschreibung dieser literarischen, an den Gattungen entlang führenden Entwicklungen sowohl die sozial- und kulturgeschichtlichen Bedingungen der Entstehung und Rezeption der exemplarisch ausgewählten Texte als auch die sich gerade in ihrer Stoffwahl und in ihren Problemstellungen niederschlagenden Wertvorstellungen des neuen Bürgertums, aber auch ihre durch die zuletzt skizzierte ästhetische Diskussion beeinflussten Formmerkmale und Wirkungsintentionen miteinander in Beziehung gesetzt werden. Es bietet sich an, mit dem Drama zu beginnen, das wegen seiner Publikumsnähe und der unmittelbar von ihm ausgehenden Wirkungen die besondere Aufmerksamkeit der wirkungsbezogen denkenden Philosophen und Autoren des 18. Jahrhunderts auf sich gezogen, und das, zumal in Lessings ‚bürgerlichen Trauerspielen‘, wie kaum eine andere Gattung die Kommunikationsformen und Überzeugungen der ‚staatsbürgerlichen‘ Gesellschaft zur Anschauung gebracht hat.

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