Читать книгу Deutsche Literatur - Peter Nusser - Страница 68

Gottsched

Оглавление

Je mehr die Rhetorik des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts dazu neigte, als praktischer Ratgeber für die unterschiedlichen Bereiche des sozialen Austauschs zu fungieren, desto stärker geriet die poetische Regelkunde in den Hintergrund. Dies änderte sich erst mit der Lebensleistung des Leipziger Professors der Poesie und Philosophie Johann Christoph Gottsched. Gottsched war Schüler des in Halle und Marburg lehrenden Philosophen Christian Wolff, dessen Bücher in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Philosophieunterricht an den deutschen Universitäten bestimmten. Wolff, der die Vorstellung einer ganz und gar vernünftig eingerichteten Schöpfung, die Gottfried Wilhelm Leibniz vor ihm entfaltet und begründet hatte (vgl. zusammenfassend die Lehrsätze über die Monadologie, 1720), im Wesentlichen nur popularisierte, hatte den Versuch unternommen, ein weitgefasstes, aber in sich geschlossenes, den Prinzipien der Logik verpflichtetes philosophisches Lehrgebäude zu errichten, dabei aber das ganze Feld des Ästhetischen (das diesen Namen freilich erst später durch Alexander Gottlob Baumgarten erhielt) vernachlässigt. Diese Lücke bemühte sich Gottsched zu schließen, nicht zuletzt um dem universalen Anspruch rationalen Denkens auf diese Weise weiteren Nachdruck zu verleihen. In seinem Hauptwerk, dem Versuch einer Critischen Dichtkunst von 1730, rückt er dementsprechend von der Anweisungspoetik der vorangegangenen Jahrzehnte ab und entwirft ein in sich schlüssiges poetologisches Lehrsystem, das seine Regeln aus allgemeinen Grundsätzen ableitet. Als oberster Grundsatz gilt im Anschluss an Aristoteles, dass jegliche Kunst – auf je spezifische Weise – Nachahmung der Natur (Mimesis) sei, wobei Natur von Gottsched als logisch geordneter Funktionszusammenhang verstanden wird, dem Räderwerk einer Uhr vergleichbar. Auch wenn unsere sinnliche Wahrnehmung nur die Wirkungen zu erfassen vermag, die dieses Räderwerk hervorbringt, kann dessen Konstruktion doch durch die dem Menschen eigenen Kräfte der Vernunft erschlossen werden, ist es dem Menschen als reflektierendem Wesen also möglich, der Vernunft, die in aller Natur waltet, nachzuspüren. Das dichterische Erfinden hat sich deshalb an die Wahrscheinlichkeit zu binden. Auch wenn das subjektive Moment im Vorgang des Dichtens nicht auszuschließen ist, darf es doch nicht dominieren. Die Anlehnung der Dichtung an die gesetzmäßig geordnete Natur impliziert eine Ablehnung alles Unvernünftigen, Phantastischen, Grotesken. Nicht in der Erfindung liegt für Gottsched die schöpferische Kraft des Dichters, sondern in seiner Fähigkeit zum Versinnlichen allgemein gültiger Zusammenhänge. Mit ihrem Wahrheitsbezug erhält Dichtung eine aufklärende Funktion, ist niemals nur nutzlose Spielerei oder bloße Unterhaltung. Deswegen ist es ganz folgerichtig, dass Gottsched bei der Betrachtung der einzelnen Gattungen beispielsweise gegen den Mummenschanz des barocken Dramas polemisiert, mehr noch gegen den Harlekin, der in den Zwischenspielen der Haupt- und Staatsaktionen (vgl. I) des 17. Jahrhunderts oder auf den Wanderbühnen die Zuschauer durch seine derben Späße zum Lachen brachte, oder wenn er sich gegen die Oper wendet, die nur das Gehör kitzele, der Vernunft aber keinen Raum verschaffe, oder gegen die um ihrer selbst willen geschilderten Liebesverwicklungen der galanten Romane. Vielmehr soll Dichtung vernünftige Verhaltensmuster von Menschen und moralische Wahrheiten mit Hilfe von Geschichten episch oder dramatisch demonstrieren und damit den Blick auf die allein durch die Vernunft zu erschließende Logik der Sitten eröffnen. – Gottsched ist wegen seines optimistischen Vertrauens in die Vernunfterziehung des Menschen, wegen der engen Verknüpfung des Ästhetischen mit dem Moralischen, wegen seines Ordnungsbestrebens und seines normativen Umgangs mit den einzelnen Gattungen, vor allem wegen seiner distanzierten Haltung gegenüber den Möglichkeiten der Phantasie anhaltend – bis in die Gegenwart hinein – kritisiert worden. Gleichwohl ist seine Bedeutung gerade für die frühe Phase der Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht zu unterschätzen. Denn Gottsched war der Erste, der entschieden das mündige Publikum als kritische Instanz herausforderte. Indem er sein Regelwerk ausdrücklich als Anleitung zur Bildung des Geschmacksurteils auch der in künstlerischen Dingen Unbewanderten konzipierte und dem Laien ein Instrumentarium zur Beurteilung literarischer Erzeugnisse an die Hand geben wollte, wandte er sich zugleich gegen die Unberechenbarkeit der Gunst der Fürsten und Mäzene. Die Kompetenz der literarisch interessierten (wenngleich anleitungsbedürftigen) Öffentlichkeit und die aus ihr hervorgehenden und sich mit ihr auseinandersetzenden Kritiker sollten fortan über den Wert künstlerischer Arbeit entscheiden.50 Für dieses Ziel, die Literatur aus feudaler Abhängigkeit zu lösen und in den Dienst des neu sich bildenden Bürgertums zu stellen, war Gottsched auch als Organisator unermüdlich tätig – als Herausgeber Moralischer Wochenschriften, als Übersetzer, als Gründer gelehrter Gesellschaften, als wissenschaftlicher Koordinator, der von der Bedeutung der Erziehung überzeugt war, einer Erziehung freilich, die eine Emanzipation des Bürgers nur im Rahmen des durch den absolutistischen Staat gewährleisteten Ordnungsgefüges anstrebte, weil nur in diesem sachliche und zweckmäßige, das hieß im Verständnis der Zeit von Vernunft getragene Entscheidungen vorstellbar erschienen. Ebenso wie Wolff ging es Gottsched darum, Aufklärung in die hierarchisch strukturierte absolutistische Gesellschaftsordnung hineinzutragen und sie in die aufgeklärt absolutistische umzuwandeln.

Deutsche Literatur

Подняться наверх