Читать книгу Deutsche Literatur - Peter Nusser - Страница 72
Herder
ОглавлениеSo sehr Lessings Ästhetik der Empfindsamkeit der Aufklärungsbewegung zugehörig erscheint, ja sie in dem Bemühen, ihr die Affekte der Menschen dienstbar zu machen, eigentlich erst auf den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit zu führen sucht, so wenig lassen in den siebziger Jahren die ästhetischen Anschauungen der kleinen Gruppe der Stürmer und Dränger (so genannt nach Friedrich Maximilian Klingers Schauspiel Sturm und Drang, 1776) einen unmittelbaren Bezug zur Aufklärung erkennen. Aber auch sie sind der Aufklärung, wenn man diese nicht mit dem einseitig gerichteten Rationalismus ihrer Frühzeit gleichsetzt, letztlich tief verpflichtet. Dies lässt sich insbesondere an ihrem Verständnis und ihrer geradezu kultischen Verehrung des Genies nachvollziehen. Denn was sie für ein Genie hielten, erinnert nicht nur an Baumgartens Vorstellung vom Enthusiasmus des Künstlers, sondern greift vor allem auf Lessings Aufwertung des Spielraums des künstlerischen Subjekts und an seine Ablehnung der sklavischen Befolgung normativer poetischer Regeln zurück. Gerade der bedeutendste Theoretiker unter den Stürmern und Drängern, Johann Gottfried Herder, hat in seinen Schriften wiederholt an Lessings Gedanken angeknüpft und sie auszubauen versucht. Auch ihre Begeisterung für Shakespeare teilten sie mit Lessing, wenn sie ihr auch mit überschwänglicheren Formulierungen Ausdruck gaben – zumal in Goethes von Herder beeinflusstem Aufsatz Zum Shäkespears Tag von 1771, der die Bedeutung eines Manifests erhielt. Shakespeare wird in dieser Schrift als Menschenbildner an die Seite des Prometheus gestellt; seine Verehrung gerät zur Idolatrie. Dabei erscheint er als Naturdichter („Natur! Natur! nichts so Natur als Shakespeares Menschen.“), der sich kraft seiner schöpferischen Potenz über die antiken Muster hinweggesetzt und seine Stücke zu einem ‚schönen Raritätenkasten‘ hat werden lassen.
Wenn man überhaupt von einem Konzept der Produktionsästhetik der Stürmer und Dränger sprechen kann, so lag es in der nach ihrer Auffassung dem Genie zukommenden Freisetzung von Subjektivität. Das Genie war für diese jungen Autoren inspiriert von starken Empfindungen, von der Fülle des Herzens, angetrieben von einer unbändigen Wirkungskraft. Echte Kunst – so Herder56 – entsteht nur auf Grund tief persönlicher Erlebnisse und Anschauungen. Nicht die objektive Wirklichkeit sei nachahmend wiederzugeben, sondern eine durch das individuelle Erlebnis verwandelte Wirklichkeit; Kunst sei das Ergebnis einer Begegnung des Ichs mit der Welt. Die Rolle des Künstlers ist damit eine aktive; er bringt in die Wahrnehmung der Wirklichkeit seine Subjektivität hinein, die Innerlichkeit und Originalität eines Schöpfers, der unbewusst Großartiges schafft. Bei dem mit Herder befreundeten Johann Georg Hamann (Sokratische Denkwürdigkeiten, 1759; Kreuzzüge des Philologen, 1762) wurde diese Begeisterung für das schöpferische Genie noch weiter ins Religiöse überhöht und mit christologischen Überlegungen verbunden. Für ihn war das produktive Genie nichts anderes als eine Chiffre für Gottes Wirken in der Welt, das in Christus gipfelt, dem Genie schlechthin. Das Genie war ihm Mensch gewordener Gott neben Christus. Derartig übersteigerte, für manchen die Grenze zur Blasphemie überschreitende Ansichten kennzeichnen deutlich die Überschwänglichkeit des Geniekults dieser Jahre. – Zur schöpferischen Kraft des Genies gehörten notwendigerweise auch die entsprechenden künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten. So waren die Stürmer und Dränger in der Tat ständig auf der Suche nach neuen, lebendigen, einmaligen, gleichsam vom Instinkt geleiteten Ausdrucksformen, wobei sie oft jegliche Verbindlichkeiten missachteten. Lessing, der dem Genie zwar die Fähigkeit zusprach, neue, in sich schlüssige Regeln zu schaffen, keineswegs aber an deren völligen Verzicht dachte, sparte deswegen nicht mit Spott darüber, dass viele der Jüngeren sich für Genies hielten, ohne es zu sein (vgl. Hamburgische Dramaturgie, 96. Stück) und sich lediglich mit überraschenden Effekten und ersten Versuchen zufrieden gäben.
Die Bedeutung des Individuellen, die gerade Herder in seinen ästhetische Fragen berührenden frühen Schriften (u.a. Fragmente über die neuere deutsche Literatur, 1767/68; Kritische Wälder, 1769; Journal meiner Reise im Jahre 1769, 1769; Abhandlung über den Ursprung der Sprache, 1770; Von deutscher Art und Kunst, 1773) hervorgehoben hat, ging bei ihm mit einer Betonung des Nationalen einher. Jede individuelle künstlerische Vollkommenheit sah er bedingt durch die Sprache, die Geisteshaltung, die geschichtliche Situation der nationalen Gemeinschaft, die für ihn gleichsam das Individuelle in der Vielfalt der Völker repräsentierte. So ist es gerade ihm zu verdanken, wenn seit den siebziger Jahren das allgemeine Interesse an der Dichtung anderer Völker zunahm, beispielsweise an den alten Liedern der Iren und Schotten (vgl. Thomas Percys Sammlung Reliques of Ancient English Poetry, 1765), die dem deutschen Publikum eine neue Empfindungswelt eröffneten und auch die deutschen Autoren (nicht zuletzt den jungen Goethe) beeinflussten. (Dass es sich bei den besonders stimulierenden Liedern des gälischen Barden Ossian um Fälschungen bzw. Nachdichtungen des Herausgebers James Macpherson handelte (Fragments of Ancient Poetry, collected in the Highlands, 1760–63; The Works of Ossian, 1765), wurde, obwohl es dafür genügend Hinweise gab, von vielen Zeitgenossen, gerade auch von Herder, heftig abgewehrt.)
Im Nationalen eine Kraft zu ergründen, die dem künstlerischen Individuum zufließt, hieß für Herder zugleich, sich der Geschichte einer Nation zuzuwenden. Literatur ist für ihn nur wirklich zu verstehen, wenn man die historischen Bedingungen, aus denen sie erwachsen ist, genau erfasst hat. Denn jede Sprache, jedes Volk, jede Zeit und auch jede Wissenschaft und Kunst ist Entwicklungen unterworfen (für deren Erklärung Herder gerne biologische Begriffe wie Ursprung, Wachstum und Zerfall verwendet). Ohne auf die Problematik dieser Anschauungen und Begrifflichkeit hier eingehen zu können – für die ästhetische Diskussion der Zeit war entscheidend, dass mit Herders Geschichtsverständnis auch die dauernde Verbindlichkeit poetischer Regeln relativiert wurde. Regeln, die einmal verbindlich waren, sind es für Herder in anderen Zeiten nicht mehr. So zeigt er, dass die Konstituenten der griechischen Tragödie von den Umständen erzwungen wurden, also historische Erscheinungen sind, keine ewigen Gesetze, und dass die nachahmende Einhaltung der zu einer bestimmten Zeit der Antike gültigen poetischen Regeln, um die sich vor allem die Franzosen im 17. und 18. Jahrhundert bemühten, zu nichts anderem als zu Seelenlosigkeit und Erstarrung führt. Diese historisch-genetische Betrachtungsweise brachte – gerade in Verbindung mit der dem Nationalen zugesprochenen Bedeutung – Herder im Übrigen auch dazu, den Wurzeln der deutschen Literatur nachzugehen, sich dem Mittelalter und der ‚Volkspoesie‘ zuzuwenden. Seine Sammlung von Volksliedern (Alte Volkslieder, 1774; Volkslieder, 1778/79) hat nicht nur die Sammlertätigkeit der Romantiker angeregt, sondern auch erheblichen Einfluss auf die Lyrik des Sturm und Drang gehabt.
Herders Relativismus musste zwangsläufig als Gegenposition gegenüber allen normativen Bestrebungen verstanden werden, an denen es in Deutschland auch nach der Jahrhundertmitte keineswegs fehlte. In dieser Hinsicht distanzierte er sich beispielsweise auch von dem von ihm hoch geschätzten und dann für die Weimarer Klassik so bedeutsamen Johann Joachim Winckelmann, der schon in seiner Frühschrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst von 1755 die griechische Kunst als Gipfel der künstlerischen Möglichkeiten des Menschen und als absolutes, über die Zeiten hinweg gültiges Vorbild gepriesen hatte.
Der in den sechziger und siebziger Jahren aufbrechende Geniekult ist mit dem Individualismus und relativierenden Historismus, der in den ästhetischen Schriften Herders und anderer zum Ausdruck kommt, allein nicht zu erklären. Aber darüber, welches die soziologisch zu verstehenden Ursachen für ihn sind, herrscht wenig Einigkeit. Dass er eine Art Ersatzhandlung junger Bürgerlicher war, die politisch keinen Einfluss nehmen konnten, erscheint so plakativ wie die Auffassung hergeholt, er sei im Wesentlichen nur ein Mittel gewesen, unter den entstandenen Konkurrenzverhältnissen des literarischen Marktes die Aufmerksamkeit der Leser auf sich zu ziehen. Eher war er Ausdruck einer Protestbewegung gegen die aufgeklärte Lebensführung der staatsbürgerlichen Gesellschaft mit ihren der Spontaneität des Gefühls wenig Raum gewährenden Regeln der Kommunikation, zugleich auch gegen das Arrangement der Bürger mit dem an der Entfaltung des Individuums desinteressierten Absolutismus – Ausdruck einer Protestbewegung, die zum Rückzug aus gesellschaftlichen Bindungen, auch zur Ausgrenzung durch die Gesellschaft führte und letztlich mit von Melancholie begleiteter Vereinsamung einherging, gegen die allenfalls Freundschaftsbünde oder kleine Verehrergemeinden einen gewissen Schutz bildeten.
Die Überspanntheiten dieser zur Aufklärung gehörenden und sich zugleich gegen sie wendenden Protestbewegung haben sich bei ihren künstlerisch bedeutenden Vertretern, zu denen der junge Goethe ebenso wie der junge Schiller gehörten, bald abgeschwächt und sind von ihnen auch selbstkritisch beurteilt worden.