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Kant und Schiller

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Am Ausgang des Jahrhunderts war der Geniegedanke in der ästhetischen Diskussion zwar noch präsent, stand aber nicht mehr länger in ihrem Mittelpunkt. Vielmehr wurden seit 1790 die ästhetischen Schriften Kants und Schillers maßgeblich, die andere Schwerpunkte setzten, dabei aber doch fest in der Aufklärung verankert blieben. Kant war, an Baumgartens Aesthetica anknüpfend, in seiner 1790 erschienenen Kritik der Urteilskraft darum bemüht, die Kunst als Erkenntnisform eigener Art in die allem aufklärerischen Denken zu Grunde liegende Vorstellung von der Einheit der Welt und des Lebens einzubeziehen und ihr jenseits didaktischer und erbaulicher Aufgaben als einer freien Hervorbringung des schöpferischen Künstlers ihre eigene, keinem Zweck unterstellte Würde zuzusprechen. Als Geistesprodukt bildet Kunst für ihn eine ‚ästhetische Idee‘, die zu denken gibt, ohne doch bestimmte Gedanken begrifflich verständlich machen zu wollen. Entsprechend kann vom Kunstschönen sittliche Kraft als mögliche Wirkung ausgehen, ohne dass in der Vermittlung bestimmter Tugenden sein Sinn läge.

Auch Schiller, dessen kunsttheoretische Abhandlungen sich aus der Auseinandersetzung mit der Ästhetik Kants entwickelten, lehnte eine Zweckbestimmung der Kunst als Lehrhilfe ab und vertrat dessen Auffassung von ihrer Autonomie. Gleichwohl war er wie alle Kunsttheoretiker der Aufklärung und wie auch Kant, dessen philosophische Untersuchungen des Erkennens, Empfindens, Handelns, Urteilens immer auch als psychologische zu lesen sind, brennend an Wirkungsfragen interessiert. Als Dramatiker bezog er seine theoretischen Überlegungen hierzu zunächst gezielt auf die Tragödie (Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegen ständen, 1792; Über die tragische Kunst, 1792; Über das Erhabene, 1792/93 – erst 1801 gedruckt; Über das Pathetische, 1793; Über Anmut und Würde, 1793). Wie Lessing polemisiert er gegen die unwahrhaftigen Tragödien der Franzosen, übernimmt auch Lessings Begriff des Mitleids, nicht aber dessen gesamtes Mitleidskonzept. Vielmehr bleibt er in der Nähe von Lessings Freund Moses Mendelssohn, der in seiner Schrift Über das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften von 1758 die Wirksamkeit des Erhabenen herausgestellt hatte, das sich in solchen Helden manifestiert, die das moralisch Gute höher als das physisch Gute schätzen und Schmerz, Ketten und Tod ertragen, um die Unschuld ihrer Seele unbefleckt zu erhalten. Mit Mendelssohn verachtet Schiller die bloß zärtlichen Rührungen, die nur zu „Ausleerungen des Thränensacks“ führen (Über das Pathetische). Seine wirkungsästhetische Argumentation führt ihn dazu, das Mitleid in die Wirkung des Erhabenen einzubeziehen, die Wirkung des Erhabenen gleichsam um die Lessingsche Empfindsamkeit zu bereichern und hierfür den Begriff des Pathetisch-Erhabenen zu prägen. Das Mitleid bleibt nach dieser Vorstellung nicht seiner eigenen Entfaltung überlassen wie bei Lessing, sondern wird zum dramaturgischen Mittel, durch das der moralische Sieg des leidenden Helden beim Betrachter einen besonders tief greifenden Eindruck hinterlässt. An der moralischen Inferiorität des Mitleids lässt Schiller – von Kants Gedanken über die sinnlich-übersinnliche Doppelnatur des Menschen beeinflusst – keinen Zweifel, da das Mitleid in die Sphäre der Sinnlichkeit gehört, dem Naturgesetz gehorcht, und „keine freye Aeußerung unsers Gemüths“ ist (Vom Erhabenen, 1793). Wie Lessing setzt Schiller den ‚besten Menschen‘ an die Spitze seines Programms. Aber nicht der mitleidigste ist für ihn der beste Mensch wie für Lessing, sondern der „seiner absoluten Selbsttätigkeit gewisse Bürger“.57 Nicht in der Einschätzung, dass, sondern in der Frage, wie menschliche Autonomie durch das ästhetisch autonome Kunstwerk zu erreichen sei, emotionalistisch oder idealistisch, unterscheiden sich die beiden; ihre unterschiedliche Antwort ist begründet in ihren unterschiedlichen anthropologischen Leitvorstellungen.

Nirgendwo wird das wirkungsbezogene Denken Schillers deutlicher als in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), in denen er seine Ansichten über die Kunst auf die historische Situation seiner Zeit bezieht und danach fragt, was die Aufgabe der Kunst in ihr sein könne. Insofern lassen sie sich als sein kulturpolitisches Programm oder, wie er sie selbst einmal interpretiert hat, als sein politisches Glaubensbekenntnis verstehen.58 Ausgehend von einer Zeitkritik, in der die Abhängigkeit des Menschen vom Nutzen, den Geschäft und Wissenschaft ihm bringen, und der daraus resultierende Verlust seiner Bestimmung als moralisches Wesen, der Verlust der ‚Totalität des Charakters‘, beklagt wird, legt Schiller seine Überzeugung dar, dass die Krise der bürgerlichen Gesellschaft nur zu bewältigen sei, wenn der Mensch zuerst den ästhetischen Weg wähle, „weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert“. Dies heißt nicht, dass gesellschaftliche und politische Probleme zur Angelegenheit der Ästhetik werden sollen, sondern zielt auf eine ästhetische Erziehung des Menschen in politischer Absicht.59 Nur die Schönheit vermag für Schiller die im Menschen antagonistisch wirkenden Kräfte von Natur und Vernunft, den ‚Stofftrieb‘, der ihn von der materiellen Wirklichkeit abhängig macht, und den ‚Formtrieb‘, der seinen Freiheits- und Selbstbestimmungswillen repräsentiert, miteinander zu versöhnen. Dies geschieht durch den ‚Spieltrieb‘ als einer vermittelnden Distanz, die es dem Menschen bei der Beschäftigung mit der Schönheit, und zwar mit der ‚energischen‘, das Erhabene implizierenden Schönheit, ermöglicht, die Freiheit vollständig auch schon in einer Welt einseitiger und determinierter Existenz zu erproben. Der Mensch, heißt es im 15. Brief, ist „nur da ganz Mensch, wo er spielt“. Im Spiel erlebt er die Harmonie aller Gemütskräfte, die er in der Wirklichkeit verloren hat. Die Erfahrung dieser Harmonie, die Schiller den ‚ästhetischen Zustand‘ nennt, ist ihm die Voraussetzung jeder gesellschaftlichen und politischen Veränderung des Bestehenden. Der Künstler hat die Aufgabe, der Gesellschaft, in der er wirkt, durch ästhetische Erziehung der Menschen die Richtung zum Guten zu geben. Aus dem ästhetischen Zustand, nicht dem physischen, entwickelt sich der moralische.

Über die Breitenwirksamkeit einer ästhetischen Erziehung konnte sich Schiller keine Illusionen machen. Dass sich der allgemeine Zustand der Gesellschaft durch das Anschauen von Theaterstücken oder eine andere Beschäftigung mit dem Kunstschönen nicht bessern würde, war ihm bewusst. So steht am Ende der Briefe die Metapher vom ‚ästhetischen Staat‘, vom ‚Staat des schönen Scheins‘, der wenigstens „als eine Art Staat im Staat Ferment des Besseren sein soll“,60 und dies nicht erst in ferner Zukunft. Er verwirklicht sich (vgl. dazu den 27. Brief) „im Kreise des schönen Umgangs“, im „geselligen Charakter“, den gesellschaftlichen Umgangsformen einer Elite, „in einen wenigen auserlesenen Zirkeln“, denen Bürgerliche wie Adlige angehören und in denen „das Ideal der Gleichheit erfüllt“ wird – es liegt nahe, dabei an die Geheimbünde der Freimaurer und Illuminaten zu denken61 (vgl. o.) oder aber auch an die um den Weimarer Hof zentrierte ‚gute Gesellschaft‘ (vgl. Kap. 1), die Gesellschaft der ‚humanistisch‘ Gebildeten.

Schillers Programm der ästhetischen Erziehung ist schon immer auch als seine Antwort auf die Französische Revolution verstanden worden. Obwohl entschiedener Verfechter der Ideale der Revolution, war er ein ebenso entschiedener Gegner der mit ihr einhergehenden Gewalttaten, die er mit heftigsten Äußerungen verurteilte. Je mehr die Gewalt die Revolution verdarb, desto überzeugter vertrat er den Gedanken der ästhetischen Erziehung als der Bedingung einer auf „Staatsverbesserung“ zielenden Politik. Das autonome Kunstwerk also, das für ihn zur Veredelung des Charakters beiträgt, sollte „das Heiligste aller Güter“, die „politische und bürgerliche Freiheit“, befördern helfen. Freilich blieb offen, mit welchem politischen Staatsmodell dies geschehen könne, so dass die Frage gerechtfertigt ist, „ob die vollendete ästhetische Kultur nicht schon das Ziel vorwegnimmt, dessen Wegbereiter sie sein soll.“62

Auch Schillers letzte große kunsttheoretische Schrift, Über naive und sentimentalische Dichtung, die ab 1795 in Fortsetzungen erschien und sein Programm der ästhetischen Erziehung kulturhistorisch absichern sollte, hat diese Frage nicht gelöst. In ihr ging es nicht nur um die Gegenüberstellung zweier dichterischer Grundeinstellungen, mit der Schiller sich zugleich von Goethe abzugrenzen suchte, sondern auch um deren zeitliche Abfolge im Rahmen eines geschichtsphilosophischen Entwurfs, dessen Konzept eines triadischen Rhythmus der Menschheitsgeschichte wesentlich von Gedanken Johann Gottlieb Fichtes angeregt war und auf die von den Romantikern diskutierten Vorstellungen von der Vergangenheit und Zukunft des ‚goldenen Zeitalters‘ vorauswies. Schiller beschreibt das Naive, mit dessen Betrachtung schon einige andere seiner Zeitgenossen hervorgetreten waren,63 zunächst als Phänomen einer bestimmten Kulturepoche, verwendet den Begriff dann aber auch als dichtungstypologische und als charakterologische Bezeichnung. Im Naiven setzt sich für ihn die Kunst in Beziehung zu einem Naturzustand, in dem die Menschen – wie die Kinder – mit sich selbst vollkommen identisch sind, also in einem ganz ungebrochenen Verhältnis zu sich und zu der sie umgebenden Wirklichkeit stehen. Die Nachahmung dieses Naturzustands findet er unter dem Einfluss Winckelmanns, aber auch Goethes vor allem in der Kunst der griechischen Antike. Auch in der Gegenwart kann dieser Naturzustand abgebildet werden, nämlich im Werk des schöpferischen Genies, das für Schiller, der den Begriff des Genies damit typologisch verengt, der naive Künstler schlechthin ist. Der Gegenbegriff des Naiven ist das Sentimentalische – als Bezeichnung für die (schon bei Horaz einsetzende) reflexive Kunsthaltung derer, denen die Übereinstimmung mit der Natur verloren gegangen ist und die entsprechend auch nicht an den sie umgebenden Gegenständen um ihrer selbst willen, sondern an den durch die Gegenstände dargestellten Ideen interessiert sind. Schiller sieht das kritische, gebrochene Verhältnis des Künstlers zur Realität, das eine Vielfalt dichterischer Gattungen hat entstehen lassen, vor allem in der eigenen Zeit verwirklicht und nutzt den Begriff des Sentimentalischen auch dazu, sich selbst als künstlerischen Charakter zu legitimieren und seine Gleichwertigkeit gegenüber Goethe zu betonen. Spiegelt sich in der sentimentalischen Dichtung gewissermaßen eine fortgeschrittenere historische Entwicklungsstufe als in der naiven, so ist sie doch keinesfalls das anzustrebende Ziel der Poesie. Dieses liegt vielmehr in der Wiederherstellung der ursprünglichen Totalität des Menschlichen auf einer höheren Ebene, auf der allein es möglich wird, den Zustand vollendeter Sittlichkeit zu erreichen. Diese Sittlichkeit, die es erlaubt, den Vernunftstaat zu errichten, kann nur durch das Zusammenwirken des naiven und des sentimentalischen Charakters entstehen. Diese Argumentation erinnert an den Schluss der ‚Ästhetischen Briefe‘ und bleibt, was die Möglichkeiten der Realisierung der politischen Absichten angeht, ebenfalls sehr vage.

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