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Takis Papandreou

Parikia, Paros

Takis folgte der Straße entlang der Hafenpromenade in Richtung des Hotels Pandrossos, das auf einer Anhöhe am Ende der Allee lag. Dort machte die Straße eine scharfe Linkskurve, hinter der sich die Stadtverwaltung befand. Er dachte an Rika und ihre vom Weinen ­geröteten Augen, die sie mit ihrer Sonnenbrille versucht hatte zu verstecken, als sie heute Morgen vor ihm stand. Sie hatte an seine Tür geklopft und er war geschockt gewesen, als sie augenblicklich angefangen hatte zu weinen. Er hatte ihr einfühlsam erklärt, warum Katharina sie weggeschickt hatte. Vorschriften hin oder her, er hätte sofort gehandelt. Wie konnte man nur Rika nicht helfen! Er parkte seinen Wagen in der kleinen Einbuchtung vor dem Gebäude, das hinter einer Treppe und einem großen Vorplatz lag. Obwohl er schon unzählige Male hier gewesen war, schweifte sein Blick aufs Meer hinaus, und er genoss für einen Moment den wunderbaren Ausblick, den man von hier oben hatte. Den weitläufigen Platz schmückte ein uralter Feigenbaum, in dessen Stamm sich über die Jahre unzählige Liebespaare verewigt hatten. Plötzlich musste er sich eingestehen, dass Rikas Anblick ein Kribbeln bei ihm ausgelöst hatte. Er konnte nicht definieren, woran es lag. Waren es die traurigen Augen oder ihre blondierte Haarpracht? Das tiefe Dekolleté? Und dann noch dieser Feigenbaum! Erinnerungen wurden unweigerlich wach und er suchte an dem dicken Baumstamm, bis er die Stelle fand. Ein über die lange Zeit verwachsenes eingeritztes Herz unterlegt mit den Buchstaben »T+R«. Takis, mittlerweile Mitte Fünfzig, blickte zurück auf die Jahre, Sommer und Winter der Vergangenheit. Gefühle überwältigten ihn für einen Moment, Gefühle, die er noch nie geäußert hatte. Rika war sein geheimes Verlangen. Rika, die für ihn Unerreichbare, verheiratet mit Kostas Aristidis, seinem Nachbarn, Schulfreund und entferntem Vetter. Rika, die seit vielen Jahren gegenüber wohnte. Takis holte tief Luft. Das Blau der Ägäis hatte die Kraft ihn zu beruhigen. Ob Kostas tatsächlich etwas zugestoßen war, fragte er sich. Oder wünschte er es sich sogar insgeheim? Er schüttelte energisch den Kopf, löste seine Hände abrupt von dem Feigenbaum und machte sich auf den Weg in Richtung der Abteilung für Trinkwasser­versorgung, die in einem Nebengebäude untergebracht war.

Cháris Papadakis telefonierte gerade lautstark, als Takis sein Büro betrat. Er wirkte gestresst, und auf seinem Schreibtisch stapelten sich unzählige Aktenordner. Inmitten der Berge von Papier versteckten sich ein halbleeres Glas Frappé, ein volles Glas Wasser, ein seit Tagen nicht geleerter Aschenbecher, ein Päckchen Assos Filter, Kugelschreiber und ein Foto seiner zwei Kinder. Takis und Cháris kannten sich, waren fast gleichaltrig und pflegten wenig Sympathie zueinander. Der Polizist mochte den angeberischen Ton nicht, den Cháris häufig an den Tag legte. Als sich die Blicke der zwei Männer trafen, wurde Cháris Stimme spontan lauter und prahlender. Er gab ihm ein Handzeichen sich auf den Stuhl an dem zweiten Schreibtisch in dem engen Büro, der nicht besetzt war, zu setzen. Der Polizist nickte dankend, bevorzugte es aber zu stehen. Weder der Raum, noch der Stuhl luden dazu ein Platz zu nehmen oder sogar hier zu verweilen. Das klingelnde Telefon auf dem leeren Schreibtisch nervte dazu gewaltig, und Cháris lautstarkes Telefongespräch über die politischen Auswirkungen in seinem Job interessierten ihn nicht.

»Mensch, Takis!«, rief Charis schließlich als er endlich den Telefonhörer aufgelegt hatte. »Finde um Gottes Willen schnell Kostas!« Eine theatralische Handbewegung unterstrich seine Worte und erst danach reichte er ihm seine Hand. »Rika ist außer sich!«, fügte er noch hinzu.

»Dafür bin ich da!« Takis schüttelte nur widerwillig die angebotene Hand. »Aber dazu brauche ich deine Mithilfe«, sagte er und bewegte sich Richtung Fenster. »Wann hast du Kostas Aristidis das letzte Mal gesehen?«

»Gestern …«

»Und? Was hat er gemacht?«

»Nichts, also nichts Besonderes.«

»Ist er ganz normal zur Arbeit erschienen?«

»Ja, doch …« Charis versuchte sich den Tagesablauf gedanklich in Erinnerung zu rufen. Takis beobachtete, wie sein Gesprächspartner mehrfach den Kopf schüttelte und ein plötzliches Aufblitzen in dessen Augen signalisierte, dass es vielleicht doch etwas Außergewöhnliches gegeben hatte. »Es war eigentlich ein Tag wie jeder andere.« Seine Stimme wirkte künstlich. »Stress pur!«, ergänzte er und zeigte auf die Stapel von Anträgen und Bauzeichnungen, die überall herum lagen. »Kostas ist etwas früher weg, weil er einen Arzttermin hatte.«

Takis horchte auf.

»Er hatte Probleme mit seinem Magen, hat er mir erzählt und wollte das abklären lassen.«

»Ist das sein Schreibtisch?«

»Ja, wir sind zu zweit hier.« Cháris war es unangenehm, als der Polizist in der Unordnung auf Kostas Schreibtisch herumblätterte. Er seufzte. »Wer weiß, ob wir nächstes Jahr unseren Job überhaupt noch haben! Jetzt wollen die auch noch die gesamte Trinkwasserversorgung privatisieren!«

»Das Schicksal Griechenlands …«, murmelte der Polizist resigniert eine Antwort. »Und sonst ist dir nichts aufgefallen?«

»Doch, doch … Wenn ich so überlege, war er irgendwie anders«

»Wie ›anders‹?«

»Anders als gewohnt!«

»Erzähl!« Takis merkte wie sein Gegenüber angestrengt überlegte.

»Er schien furchtbar nervös und gereizt, so kannte ich ihn eigentlich nicht. Ich habe das auf seine Magenprobleme geschoben und ihn in Ruhe gelassen. Ansonsten ist mir nichts weiter aufgefallen.«

Takis blickte auf. »Wusste seine Frau von den Magenproblemen?«

»In Gottes Namen!«, rief Cháris und verdrehte die Augen. »Du kennst doch Kostas! Er ist nicht der Typ, der seiner Frau alles erzählt.«

»Hatte er denn Geheimnisse?«

»Du meinst Frauengeschichten?«, Cháris lächelte schelmisch. »Nee! Wirklich nicht! Du weißt doch, Rika war der Glücksgriff seines Lebens. Die hätte der nie betrogen.« Takis hielt seinen Notizblock fest umklammert, seine Gedanken flogen davon. Er hatte sich oft gefragt, was die wunderbare Rika an Kostas fand. Kostas sah vergrämt aus, gezeichnet von den Jahren. Sie dagegen strahlte auch mit Anfang 50 noch voller Lebensfreude und Sexappeal. Rika, die Göttliche …

»Hey! Takis! Hörst du überhaupt zu?«

Cháris anmaßende Stimme unterbrach Takis sehnsüchtige Ausflüge. Seine wenigen Notizen waren bisher mehr als dürftig, er wollte sich noch nicht zufriedengeben.

»Gab es Vorfälle mit Kunden oder Vorgesetzten?«, fand Takis wieder in das Gespräch zurück.

»Aber nein«, entrüstete sich der Arbeitskollege. »Kostas ist eine ganz treue Seele. Er kann doch keiner Fliege was zu Leide tun! Bis auf …«, er stockte einen Augenblick, »ich weiß nicht, ob das relevant ist …« Cháris unterbrach seinen Redefluss. Er zündete sich eine Zigarette an.

»Erzähl!« Takis hasste das dramatische Verhalten von diesem Chauvi. »Was ist passiert?«

»Vor knapp zwei Jahren, da gab es Gerüchte.« Cháris pustete den Rauch in Richtung Takis. »Ich sage bewusst Gerüchte.« Er nahm einen Schluck von seinem Frappé.

Der Polizist brodelte innerlich.

»Das hat den beiden damals ganz schön zugesetzt.«

»Was für Gerüchte? Mensch Cháris, von was redest du?«

Cháris druckste herum. »Es ist mir unangenehm über einen Kollegen etwas Negatives preis zu geben.«

»Wir wollen Rika helfen! Alles kann relevant sein. Nun sag schon!«

Cháris nahm einen tiefen Zug an seiner Zigarette. »Kostas soll Schmiergelder von einer großen Baufirma erhalten haben, hieß es hartnäckig eine ganze Zeit, aber er hat das vehement abgestritten.«

»Wer hat ihn beschuldigt?«

»Offiziell keiner! Ich habe auch nie daran geglaubt.«

Takis schaute skeptisch.

»Es gab dieses Gerede. Ich sagte ja bereits, ich habe nie daran geglaubt«. Wieder nahm er einen Schluck von dem Frappé und drehte Takis seine Schulter zu.

»Du sagtest ›das hat den beiden damals ganz schön zugesetzt‹. Was meinst du damit?«

»Ach, Takis!«

»Du meinst wohl Rika und Kostas hatten damals Probleme?« Takis wartete gespannt.

»Wie es wohl bei allen verheirateten Pärchen üblich ist … Aber du kannst dir solche Probleme ja schlecht vorstellen!«

»Warum? Nur weil ich nicht verheiratet bin?« Takis Stimme wurde lauter »Also!« Wütend stellte er sich vor Charis Schreibtisch. »Was ist damals zwischen Rika und Kostas passiert?« Seine Augen blitzten vor Wut.

Die beiden ungleichen Männer schauten sich abschätzend in die Augen. Viele Jahre, Jahrzehnte, Sommer wie Winter verbrachten sie schon auf der Insel. Sie teilten unzählige Erinnerungen aus der vergangenen Zeit. Das Leben auf Paros war ein stetiges Fest, insbesondere im Sommer. Wenn die Sommersaison jedoch zu Ende ging, wenn die Herbststürme über die Inseln fegten, wenn die Schiffe häufig nicht anlegen konnten und die Insulaner wieder unter sich blieben, eine eingeschworene Gemeinschaft, dann nahm die Insel ihren rauen Charakter an und die Bewohner folgten ihrem wahren Naturell. Hart, härter, am härtesten. Felsen und Herzen wurden eins. Die Wintermonate auf einer Insel waren immer hart. So hart wie die Erinnerung an ein gemeinsames Fest in jenem Sommer:

Es war der 23. August, ganz Paros hatte sich im Hafen von Naoussa versammelt, der Wind wehte, die Wellen brachen sich gewaltig, die jungen Männer der Insel waren alle als Piraten verkleidet. Man feierte wie jedes Jahr das traditionelle Dorffest Enneamera zur Erinnerung an den heroischen Seesieg der Griechen und Venezianer gegen den türkischen Piraten Barbarossa. Die Dorfjugend spielte diese Schlacht nach, Takis, Cháris und Kostas waren mit dabei, alle um die 18 Jahre jung. Viel Wein wurde getrunken und zu später Stunde, mussten die, während des Angriffs verschleppten Frauen der Insel, zurückerobert werden. Es folgte ein Kampf, bei dem jeder Jüngling seiner Auserwählten imponieren wollte, ein Brauch der seit Generationen gepflegt wurde. Mut und Ausdauer, Glück und Willenskraft, Jungen die zu Männern werden. Und dann passierte es: Rika war zum Greifen nahe, alle drei hatten sich in das zauberhafte Mädchen verguckt, als zwei der verliebten ­Burschen den Halt verloren und über Bord gingen. Ein letztes Aufbegehren im aufgepeitschten Wasser begann, doch nur einer schaffte es, und im Hintergrund des Meeresrauschens applaudierte bereits das begeisterte Publikum. Verzweiflung und Trauer standen in den Augen der Verlierer und einer triumphierte. Aber es war weder Takis noch war es Cháris. Es war Kostas! Kostas hielt Rika fest in seinem Arm, so als wolle er sie niemals wieder frei geben.

Die Menge tobte, Takis und Cháris sollten diesen 23. August 1976 im Hafen von Naoussa nicht vergessen. Lebenslang sollte er zwischen ihnen stehen. Nur Kostas hatte das große Los gezogen. Sein eher zufälliger Sieg bescherte ihm die Aufmerksamkeit des schönsten Mädchens von Paros und Marika, die von allen nur Rika gerufen wurde, sollte einige Jahre später seine Frau werden. Wie ein einziger Tag das ganze Leben beeinflussen kann! Alle Jungs waren damals verliebt in Rika, nicht nur Cháris und Takis. Cháris würde später eine holländische Touristin heiraten, sich scheiden lassen und die zwei gemeinsamen Kinder jedes Jahr nur für einige Wochen zu sich nehmen dürfen. Takis sollte in einer lauen Vollmondnacht halbbetrunken am Feigenbaum ein Herz mit den Buchstaben »T+R« einritzen und sein eigenes Herz für immer verschlossen halten. Und immer wieder würden die beiden Männer Rika bewundern, die mit den Jahren immer hübscher, immer blonder und begehrenswerter wurde. Was ebenfalls immer blieb, war der Neid auf Kostas. Cháris jeden Tag mit ihm im gleichen Büro. Takis jeden Tag mit ihm als sein Nachbar. Und jetzt sollte er plötzlich verschwunden sein? Hatte Charis vielleicht sogar etwas mit dem Verschwinden seines ehemaligen Rivalen zu tun? Takis Gedanken rasten. Für Charis wäre es ein Wink des Schicksals, nach so langer Zeit eine neue Chance mit Rika! Er erschrak über seine Fantasien und wusste, dass dieses Scenario genauso gut auf ihn zutraf. In seinem Innersten loderte die alte Leidenschaft wieder auf.

»Du liebst sie immer noch! Nicht wahr?«, sagte Cháris überrascht.

»Sei nicht blöd!«, gab Takis zurück und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. »Ich suche Kostas!« Seine Hände packten plötzlich Cháris Kragen und am liebsten hätte er diesem arroganten Fatzke den Hals herumgedreht. »Und jetzt sprich!«

»Ist ja gut! Ist alles gut, Mensch!« Cháris Ton wurde weicher. »Lass los! Ich sage dir, was ich weiß, aber lass mich los!«

Takis löste langsam den Griff, ließ Charis aber nicht aus den Augen.

Cháris ordnete sein Hemd, sammelte die heruntergefallenen Akten wieder auf und erzählte von einer Baufirma. »Name und Adresse«, verlangte Takis. Außerdem erfuhr er noch von einer Verleumdungsklage, die Kostas angeleiert hatte und von der Zeit, als Rika immer wieder nach Athen fuhr und es nach einer Krise in deren Beziehung »roch«.

»Wieso roch?« Takis konnte diese Art von Sprache nicht ausstehen.

»Weil Kostas nie offen darüber sprach«, erklärte Cháris. »Aber ich rieche Beziehungsprobleme von weitem!«

»Da sprichst du wohl aus eigener Erfahrung«, bemerkte Takis ironisch und notierte alles, was Charis außerdem noch preisgab: genaue Details zu den Gerüchten, wann die Vorwürfe erstmals bekannt wurden, an welchen Projekten Kostas in der letzten Zeit gearbeitet, wann er Urlaub und wer alles dieses Büro betreten hatte.

Takis verließ trotzdem unzufrieden das Gebäude. Er hatte auf mehr Konkretes gehofft und das Gespräch als äußerst zäh empfunden. ›Du liebst sie immer noch! Nicht wahr?‹ – Dieser Satz bohrte sich in sein Gehirn, und der Gedanke brannte wie Feuer. Wie konnte Cháris das nur zu ihm sagen? Warum wusste dieser kleine Beamte mehr, als er sich selbst eingestehen konnte? War dieser 23. August nicht längst Vergangenheit?

Takis setzte sich seine dunkle Sonnenbrille auf und bedeckte eine Träne, die ungewollt aus seinem linken Auge rann. Fürchterliche Wut auf sich selbst und Charis bescherte ihm diesen Ausbruch. Der unverschämte Typ hatte ihn durchschaut, es ihm frech ins Gesicht gesagt. Er wusste bis zum heutigen Tag nicht genau, was es bedeutete »nah am Wasser gebaut zu haben«. Er wunderte und schämte sich zugleich – mit 55 Jahren den alten Feigenbaum im Rücken, an der Promenade weinen zu müssen. Sollte Kostas doch für immer verschwunden bleiben! Er erkannte sich selbst nicht mehr.

Schnell stieg er in sein Auto. Radio an, Motor an, Fenster zu, die Musik ganz laut. So konnte er sein eigenes Weinen und Schluchzen übertönen.

Süßes Wasser

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