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Was Gefühle anziehend macht

Dieses Kapitel beschreibt, was genau die Attraktivität von Gefühlen begründet, in welchem Zusammenhang sie mit unseren Wertgefühlen und Werterfahrungen stehen und wieso ein genaues Verständnis dieses Sachverhalts uns mit der Technik des desensibilisierenden Blicks – zum Beispiel bei Sucht – in die Lage versetzt, uns von Problemen zu befreien, die auf positiven Gefühlen beruhen.

Stellen Sie sich den Genuss eines guten Bratens vor! Denken Sie an ein Musikstück, von dem Sie hingerissen sind! Oder noch besser: Essen Sie diesen Braten! Hören Sie das Musikstück! Genießen Sie Ihre gute Laune. Betrachten Sie das schönste Bild, dessen Sie momentan habhaft werden können. Setzen Sie sich in Ihrem bequemsten Sessel. Lassen Sie sich ein Kompliment machen.

Achten Sie darauf, wie Sie sich fühlen, wenn Ihr Heiratsantrag endlich erhört wird! Schwelgen Sie in schönen alten Erinnerungen. Denken Sie an Ihren Urlaub. Stellen Sie sich vor, Sie hätten im Lotto gewonnen. Entspannen Sie sich. Vergegenwärtigen Sie sich, wie es sich anfühlt, wenn Sie Vater- oder Mutterfreuden entgegensehen. Stellen Sie sich vor, Sie hätten den Sinn Ihres Lebens gefunden! Denken Sie an Ihren triumphalsten Augenblick. Kosten Sie ein gutes Glas Wein. Betrachten Sie ein erotisches Foto. Amüsieren Sie sich über einen Witz. Genießen Sie den Höhepunkt beim Sex. Nehmen Sie ein warmes Bad. Empfinden Sie Dankbarkeit. Erfahren Sie, was es heißt, verliebt zu sein …

All diesen Möglichkeiten ist gemeinsam, dass sie positive Lebenserfahrungen, also Werterfahrungen darstellen. Aber welches ist der gemeinsame Wert der Erfahrung, bei aller Verschiedenartigkeit der Situationen? Oder gibt es einen solchen gemeinsamen Faktor gar nicht? Die Antwort dürfte Ihnen inzwischen nicht mehr schwer fallen: Es ist das positive, das angenehme, attraktive, lustbetonte Gefühl.

Versuchen Sie, um die Gegenprobe zu machen, sich einmal vorzustellen, diese Erfahrungen seien nicht in irgendeiner Weise positiv getönt, seien gefühlsmäßig gesehen neutral oder hätten sogar eines gemeinsam: Sie wären unangenehm. Ihr Gedankenexperiment dürfte Ihnen auf der Stelle klar machen, dass das wesentliche und unentbehrliche Moment aller dieser Erfahrungen das positive Gefühl ist.

Aber was genau ist das positive Gefühl? Müssen wir dazu lediglich denken: Positiv, positiv, positiv?

Ist das Positive ein Gedanke?

Oder der sprachliche Ausdruck eines Gedankens?

Oder sind es gar die Dinge selbst?

Es mag sein, dass der verbalisierte Gedanke „positiv, positiv, positiv“ ein positives Gefühl bei Ihnen auslöst. Aber ist er deswegen bereits das Positive?

Und wenn tatsächlich die Dinge selbst das Positive wären, warum sehen die Menschen das so unterschiedlich? Nehmen sie etwa verschiedene Objekte wahr? Und warum ändert sich auch in unseren eigenen Erfahrungen die Positivität derselben Objekte? Ein Musikstück büßt leicht seinen Reiz ein. Ein schöner Teppich ist nach den ersten Tagen der Begeisterung schon etwas weniger attraktiv. Und das gilt leider auch für Menschen! Denken Sie nur an das Strohfeuer der Verliebtheit …

Was die Dinge angenehm macht, mag seinen Auslöser in den Objekten finden. Aber was wir erleben, das Gefühlsmoment des Angenehmen, ist eine subjektive Qualität eigener Art, die weder mit den Dingen noch mit unseren Gedanken, Erinnerungen und Vorstellungen oder Werturteilen gleichgesetzt werden darf.

Bitte halten Sie diese Unterscheidungen nicht für akademische Spitzfindigkeiten! Denn sie sind so folgenreich, dass sie eine entscheidende Wende im Leben jedes Einzelnen, ja der Gesellschaft, darstellen könnten. Wir sind damit nämlich nichts Geringerem auf der Spur als den Grundprinzipien emotionaler Intelligenz.

Am einfachsten nähert man sich dem merkwürdigen Phänomen des Angenehmen, wenn man die Lust betrachtet. Lust ist aus sich selbst heraus attraktiv. Sie bedarf keiner Worte, keines Urteils, keines Gegenstandes, keiner Gedanken, keiner weiteren Überzeugungen. Das Angenehmsein der Lust ist evident. So evident wie die Rechteckigkeit dieses Buches oder das Grün eines Blattes.

Wenn Sie mir erlauben, noch etwas philosophischer zu werden: Das Angenehmsein des Gefühls ist wahrscheinlich das bemerkenswerteste Ereignis im Universum überhaupt – eine Art Ziel oder Vollendung der Evolution. Viele Menschen glauben, das sei das menschliche Bewusstsein oder die Intelligenz, vielleicht auch die Moral. Aber was wäre das Bewusstsein ohne die Positivität des Fühlens? Ohne Liebe, Schönheit, Genuss?

Mit der Positivität des Fühlens hat sozusagen das „Universum“ eine völlig neue Kategorie von Seiendem eingeführt, für die es nirgends Vergleichbares gibt. Erst durch das Gefühl – in seinem Lichte – bekommen die Objekte unserer Lebensumwelt ihren Wert. Erst das Fühlen ermöglicht Werterfahrungen. Und erst wo Werte erfahren werden, ist auch Lebenssinn möglich.

Sie bemerken, dass die Philosophie, die sich sonst so gern im lebensfernen Elfenbeinturm bewegt, mit solchen Einsichten einen existenziellen und praktischen Zweck bekommt?

Was wäre das schon für ein Sinn des Lebens, der lediglich auf Meinungen und Urteilen beruhte. Ich kann noch so oft sagen: „Das Leben hat einen Sinn!“, „Die Welt hat Wert!“ Wenn ich diesen Sinn oder Wert nicht auch fühle, handelt es sich um bloßes Gerede, um Meinungsäußerungen. Man könnte genauso gut das Gegenteil behaupten, weil solche Urteile sich auf nichts beziehen als sich selbst.

Fühlen wir dagegen den Wert und Sinn der Welt und des Lebens, dann hat auch das Urteil seinen Bezug bekommen, es hat eine Berechtigung. Es ist „wahr“ in genau dem klassischen Sinne, wie die Philosophie gewöhnlich Wahrheit definiert, nämlich als Entsprechung eines Urteils zu einem Sachverhalt.

Ich möchte Sie daher bei dieser Gelegenheit dazu anregen, Ihre womöglich kritische Einstellung dem Philosophieren gegenüber zu überprüfen. Wir reden nicht über irgendeine Art von Beliebigkeit, über Schöngeisterei, über Dichterphilosophie. Die Technik des desensibilisierenden Blicks ist eminent praktisch.

Aber um in vollem Umfang von ihr zu profitieren, sind einige philosophische Grundeinsichten erforderlich, wie sie uns der Mainstream des Tagesbewusstseins offensichtlich nicht geben kann ...

Stehen Sie drüber!

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