Читать книгу Stehen Sie drüber! - Peter Schmidt - Страница 8

2

Оглавление

Was erleben wir in emotional belastenden Alltagssituationen?

Beispiel 1:

Stellen Sie sich vor, Sie haben gerade die Tür zum Büro Ihres Chefs geöffnet, um ihn um die längst fällige Gehaltserhöhung zu bitten. Als Sie ihn an seinem Schreibtisch sitzen sehen, verspüren Sie plötzlich Befangenheit, ja lähmende Angst. Sie reden sich mit irgendeiner einer Frage zum Arbeitsablauf heraus und kehren unverrichteter Dinge an Ihren Arbeitsplatz zurück …

Beispiel 2:

Nehmen wir an, Ihre Freundin flirtet mit einem anderen Mann. Sie wissen aus Erfahrung, dass sie auf jede „Einschränkung ihrer Freiheit“ (wie sie das selbst nennt) emotional reagiert. Sie versuchen sich also nichts anmerken zu lassen, zumal der andere ein wichtiger Geschäftspartner ist und gerade ein äußerst lukratives Geschäft mit Ihnen unter Dach und Fach bringen will. Aber das Gefühl der Eifersucht ist so bohrend, dass Sie nicht länger an sich halten können …

Beispiel 3:

Um den letzten Zug zu bekommen, der Sie von Ihrem Urlaubsort auf dem Lande nach Hause bringt, wollen Sie die wenigen Hundert Meter zu Fuß zum Bahnhof gehen. In der Dunkelheit verlaufen Sie sich jedoch im Wald. Es wird immer später. Eigentlich kommt Ihnen die Gegend ja bekannt vor, denn Sie haben sie während Ihres Urlaubs erkundet.

Nervosität überfällt Sie, die sich nach und nach bedrohlich der Panik nähert, als Sie einige Male eine falsche Abzweigung nehmen und schließlich überhaupt nicht mehr wissen, wo Sie sich befinden.

Sie müssten jetzt nur einen klaren Gedanken fassen und sich in der Dunkelheit für die Richtung entscheiden, zu der Ihnen Ihr Gefühl rät. Aber dieses Gefühl geht völlig in Panik unter …

Beispiel 4:

Sie haben gerade das Rauchen aufgegeben. Noch leiden Sie unter starken Entzugserscheinungen wie Nervosität und Unbehagen. Das Verlangen nach Erleichterung und Entspannung durch eine Zigarette ist nicht gerade leicht beherrschbar. Ausgerechnet in diesem Moment tritt ein zusätzlicher Stressfaktor hinzu:

Sie treffen während der Frühstückspause im Flur Ihre Angebetete, die in derselben Firma arbeitet. Bisher haben Sie sich noch nicht getraut, sie anzusprechen.

Zu Ihrer Überraschung bietet Sie Ihnen eine Zigarette an, und das wäre eine vielleicht nie wiederkehrende Gelegenheit, mit ihr ins Gespräch zu kommen …

Beispiel 5:

Sie haben es eilig, müssen aber noch telefonieren. Beide Telefonzellen an der Straßenecke sind besetzt. Als sich eine Tür öffnet, reagieren Sie nicht schnell genug und ein anderer Passant betritt vor Ihnen die frei gewordene Telefonzelle.

Ärger steigt in Ihnen auf. Sie stellen den anderen zur Rede. Er behauptet, Sie hätten vor der anderen Telefonzelle gewartet. Sie spüren, dass Sie noch ärgerlicher werden, denn Ihrer Meinung nach haben Sie genau zwischen beiden Telefonzellen gestanden.

Und wenn schon, argumentiert der andere. Sie müssten sich schon entscheiden, vor welcher Zelle Sie warten.

Müssten Sie nicht! widersprechen Sie, weil Sie ja als Erster da waren – und unbändige Wut steigt in Ihnen auf wegen dieser frechen Art, sich vorzudrängen.

Der andere sieht das ganz anders und zieht die Tür der Kabine zu, um sein Telefongespräch fortzusetzen. Das wirkt wie ein rotes Tuch auf Sie. Im folgenden Handgemenge bekommen Sie einen schmerzhaften Schlag ins Gesicht …

Bei diesen fünf Beispielen handelt es sich um ganz verschiedene Konflikt- oder Belastungssituationen. Vor dem Gespräch mit Ihrem Chef empfinden Sie das, was man Befangenheit oder Angst nennt. In der zweiten Situation handelt es sich um Eifersucht, bei der Angst oder Sorge, den Partner zu verlieren, allenfalls eine Nebenrolle spielen. Panik ist etwas anderes als Befangenheit, Sorge oder Eifersucht, obwohl in der Panik durchaus Anteile von Angst erkennbar sind.

Beim Rauchen dagegen geht es um starkes Verlangen, um Unbehagen, vielleicht auch um Nervosität und Erleichterung. Ärger und Wut wiederum unterscheiden sich deutlich von allen vorgenannten Gefühlen.

Aber sind diese Konfliktsituationen wirklich so verschieden, wie es auf den ersten Blick scheint? Oder lässt sich in ihnen etwas Gemeinsames finden?

Genau an diesem Punkt – nämlich bei der Entdeckung, dass es in der Tat in allen Problemen einen gemeinsamen Faktor gibt – setzt die Methode zur Bewältigung emotionaler Probleme an, die ich Ihnen im Folgenden vorstelle.

Da es sich nur um einen einzigen Faktor handelt, werden die Verschiedenheiten unserer individuellen Probleme vergleichsweise bedeutungslos. Sie werden nicht an und für sich bedeutungslos, aber bei der Behandlung des Problems können wir von Unterschieden absehen. Wir müssen nicht mehr zahllose unterschiedliche Problemlösungen finden – womöglich für jedes Problem eine andere –, sondern nur eine einzige.

Halten Sie es für möglich, dass so verschiedene Probleme, wie sie in den Beispielen 1 – 5 geschildert werden, mit einer einzigen Methode aus der Welt zu schaffen sind?

Und: Ist es denkbar, dass diese Methode gleichermaßen bei zahllosen anderen Alltagsproblemen wie z.B. Einsamkeit, Unbehagen, Minderwertigkeitsgefühlen, Nervosität, Verstimmung und Lampenfieber wirkt?

Die Methode, die ich Ihnen für solche und ähnliche Konfliktsituation vermitteln möchte, heißt:

Technik des desensibilisierenden Blicks.

„Desensibilisieren“ bedeutet soviel wie neutralisieren, unempfindlich werden. Unempfindlich nicht etwa im Sinne von apathisch oder abgestumpft, sondern ganz im Gegenteil: Wenn wir uns desensibilisieren, wächst unser Handlungsspielraum, denn wir schalten störende Faktoren aus. Wir haben mehr inneren Raum, um aktiv zu werden. Und „Blick“ steht dafür, dass dies umgehend geschieht, inmitten unserer Tagesaktivitäten, ohne langes Üben oder spezielle Entspannungs- Versenkungs- oder Therapieübungen.

Sie können das Verfahren, wenn Sie erst einmal verstanden haben, auf welchen für alle Menschen gleichen Prinzipien es beruht, in Zukunft an jedem Ort, zu jeder Zeit und in Sekundenschnelle einsetzen. Dazu sind lediglich paar einfache Erklärungen und allgemeine Vorübungen erforderlich.

Diese Methode wird Ihr Leben radikal zum Positiven verändern, wird es autonomer und freier machen und Ihnen deutlich mehr Handlungsmöglichkeiten verschaffen.

Das klingt ziemlich unwahrscheinlich? Wenn es eine so einfache Möglichkeit gibt, sich von mentalen Konflikten zu befreien – warum hat sie dann noch niemand entdeckt?

Nun, ich glaube, dass viele Menschen diese Technik intuitiv anwenden – dass Menschen sie sogar schon seit undenklichen Zeiten angewendet haben –, dass sie aber nicht genau angeben können, wie sie funktioniert, weil ihnen die entsprechenden Begriffe fehlen. Meine Aufgabe wird es daher sein, Ihnen den Begriffsapparat und die fehlenden psychologischen Unterscheidungen zu vermitteln und Ihnen eine praktische Methode an die Hand zu geben, mit der man den „desensibilisierenden Blick“ üben kann. Untersuchen wir dazu, was in Konfliktfällen wie oben beschrieben abläuft.

Unsere These lautet also, dass sich Angst, Befangenheit, Eifersucht, Panik, Verlangen, Unbehagen, Nervosität, Ärger, Wut und Erleichterung usw. auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen.

Wenn solche Probleme auf einen Nenner gebracht werden können, dann liegt die Vermutung nahe, dass man bei ihrer Behandlung nur diesen gemeinsamen Nenner angehen muss, um das Problem zu lösen – und nicht zahllose individuelle Probleme, die alle eine jeweils eigene Lösung erfordern.

Vielleicht werden Sie an dieser Stelle sagen, der gemeinsame Nenner sei nichts anderes als das Gefühl. Es handele sich immer um Gefühle? Und noch einen Schritte weiter: Es handele sich immer um negative Gefühle?

Das ist zweifellos richtig. Der gemeinsame Nenner alle Konflikte ist das Gefühl, sieht man einmal von ihren sachlichen Aspekten ab. Und was wären solche Konflikte ohne emotionalen Aspekt? (Wohlgemerkt: Hier geht es um mentale Probleme, nicht um die Reparatur eines Reifens. Probleme die sich sachlich lösen lassen, werden sachlich gelöst.)

Dabei mag man dann noch differenzieren und feststellen, dass beim Verlangen sowohl ein negatives Gefühlsmoment erlebt wird – dass man das Objekt seines Verlangens noch nicht hat oder nicht bekommt – wie auch ein positives: nämlich, wenn das Verlangen befriedigt wird.

Bei der Definition von Gefühlen stoßen wir aber sogleich auf eine grundsätzliche Schwierigkeit, die gleichermaßen für den Alltagsmenschen wie für den Arzt, Psychologen und Therapeuten gilt. Kaum jemand vermag genau zu sagen, was Gefühle sind. Der amerikanische Philosoph Robert C. Solomon hat das erst unlängst so formuliert: „Was ist ein Gefühl? Man sollte vermuten, dass die Wissenschaft darauf längst eine Antwort gefunden hat, aber dem ist nicht so, wie die umfangreiche psychologische Fachliteratur zum Thema zeigt.“

Fragen Sie doch einmal Ihren Therapeuten – falls es Ihnen so schlecht geht, dass Sie einen benötigen –, was er unter „Gefühl“ versteht …

Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird er „herumdrucksen“ und Ihnen eine Antwort gegen, die so vage bleibt, dass sie wenig damit anfangen können. Nicht einmal die neue Psychologie der Emotionalen Intelligenz, in deren Folge die hier beschriebene Technik entwickelt wurde, verfügte anfangs über ein klares Verständnis des Begriffs „Gefühl“. Das Gleiche gilt für „Emotion“, „Stimmung“ und „Affekt“. Da nimmt es kaum Wunder, dass uns so wenige Menschen helfen können, wenn es um Alltagsprobleme wie Ärger oder Beleidigtsein geht.

Dabei zieht sich die zutreffende Antwort – wenn auch in begrifflich noch nicht ganz befriedigender Form – wie ein roter Faden durch die Geschichte der Philosophie und Psychologie bis hin zu Hume, Kant und Freud.

Bereits im Altertum glaubten die Philosophen Aristippos (435-366 v. Chr.) und Epikur (341-270 v. Chr.) eine klare Antwort darauf gefunden zu haben, was dieser Faktor sei. Sie nannten ihn „Lust“, soweit es nicht um negative, sondern um positive Gefühle geht. Lust ist eine subjektive Erscheinung. Die Lust des Essens, die Lust, die wir beim Orgasmus verspüren, die Lust, im Bett zu bleiben ist uns allen soweit vertraut, dass wir sofort wissen, worum es sich handelt. Lust ist aus sich selbst heraus attraktiv. Ihre Attraktivität ist evident.

Ihr Wertvollsein muss nicht mehr hinterfragt werden.

Der unendliche Regress des Fragens, warum etwas wertvoll sei, kommt damit an ein Ende.

Man kann über alles Fragen stellen, aber bei der Lust erledigt sich das Fragen zumindest hinsichtlich der Gewissheit, dass Lust wertvoll ist.

Sigmund Freud (1856-1939) war sogar der Meinung: „Es ist einfach das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt … an seiner Zweckdienlichkeit kann kein Zweifel sein, und doch ist sein Programm im Hader mit der ganzen Welt.“

Um bei negativen Gefühlen könnte man vielleicht konstatieren, deren wesentliche Eigenschaft sei der Schmerz? Lust und Schmerz also als das, was den Gefühlsbegriff ausmacht?

Vergleichen wir ihn mit der Liste in unseren fünf Beispielen: Angst, Befangenheit, Eifersucht, Panik, Verlangen, Unbehagen, Nervosität, Erleichterung, Ärger, Wut.

Angst hat zweifellos Ähnlichkeit mit Schmerz. Wenn wir dem Begriff alltagssprachlich betrachtet etwas Gewalt antun, könnten wir im weitesten Sinne davon reden, Angst sei „schmerzhaft“. Das Gleiche mag für Panik und Wut gelten. Bei Befangenheit, Ärger, Eifersucht, Unbehagen, Nervosität geringeren Grades werden wir die Bezeichnung jedoch nicht sehr treffend finden. Und auf der anderen Seite würden wir bei Erleichterung nicht unbedingt von Lust sprechen wollen, allenfalls noch bei Verlangen.

„Lust erscheint oft zu grob, zu sexuell, zu hedonistisch, um feine positive geistige oder ästhetische Gefühle wie z.B. ‘Verantwortung’ oder ‘Anmut’ zu charakterisieren.“

Wir sehen an dieser Liste von Bespielen: Sollte es gerechtfertigt sein, bei Gefühlen von einem gemeinsamen Nenner zu sprechen, dann sind die Begriffe Lust und Schmerz nur bedingt geeignet. Der Umfang der positiven und negativen Gefühle, auf die sie anwendbar wären, erscheint zu eng.

Trotzdem bilden wir, wenn wir die obige Liste von Gefühlen betrachten, ohne Schwierigkeiten zwei Gruppen: nämlich positiv und negativ. Woran liegt das?

Was ist dieses Positiv- und Negativsein?

Erst die Antwort auf diese Frage wird es uns ermöglichen, präziser als sonst zu verstehen, worauf die Technik des desensibilisierenden Blicks abzielt, worin ihre oft verblüffende Wirksamkeit besteht. Anders ausgedrückt: Ohne dieses Minimum an Analyse unserer Gefühle kommen wir nicht weit.

Und weil unsere Wissen darüber so beschränkt ist, können Ihnen selbst viele Therapeuten nicht sagen, was Sie in Alltagssituationen gegen Ihren Ärger, Ihre Eifersucht, Ihre Befangenheit usw. unternehmen können. Da werden dann lieber Beruhigungsmittel und andere Psychopharmaka verordnet. Das ist weder gut für den Geldbeutel noch für Ihren Organismus. Wenn mentale Techniken ausreichen, sollte man auf chemische Mittel verzichten.

Ein besseres Verständnis, was Gefühle sind und wie man mit ihnen umgeht, kann darüber hinaus zu einer existenziellen Umorientierung führen, deren überlegene emotionale Qualität man leider erst erkennt, wenn man bereits von ihr profitiert.

Untersuchen wir daher noch einmal genauer, was wir in obigen fünf Problemsituationen erleben!

Beispiel 1:

Als Sie Ihren Chef am Schreibtisch sitzen sehen und ihn um die längst fällige Gehaltserhöhung bitten wollen, verspüren Sie lähmende Angst. Und Angst ist ein ...? – unangenehmes Gefühl!

Beispiel 2:

Das Gefühl der Eifersucht ist so bohrend, als Ihre Freundin mit einem anderen Mann flirtet, dass Sie nicht an sich halten können. Und Eifersucht ist ein ...? – unangenehmes Gefühl!

Beispiel 3:

Als Sie sich auf dem Wege zum Bahnhof im dunklen Wald verirren und den letzten Zug verpassen könnten, sind Ihre Gedanken vor Panik wie gelähmt. Und Panik ist ein ...? – unangenehmes Gefühl!

Beispiel 4:

Als Ihre Angebetete Ihnen eine Zigarette anbietet, obwohl Sie gerade mit dem Rauchen aufgehört haben, empfinden Sie Nervosität und Unbehagen – also „Entzugserscheinungen“, die durch die Situation noch verstärkt werden. Nervosität und Unbehagen sind ...? – unangenehme Gefühle!

Und Sie empfinden Verlangen nach Erleichterung. Erleichterung ist ein ...? – angenehmes Gefühl!

Beispiel 5:

Vor den Telefonzellen empfinden Sie zunächst Ärger über den sich vordrängenden Passanten. Dann beim Hin- und Her der Diskussion und wegen der dreisten Argumente des anderen sogar Wut. Der Schlag, den Sie am Ende während Ihrer Rangelei ins Gesicht bekommen, ist schmerzhaft. Und Ärger, Wut und Schmerz sind ...? – unangenehme Gefühle!

Es ist eine intellektuelle Einsicht mit unerhörten Folgen für das Leben jedes Menschen, zu erkennen, dass in all diesen Problemen jeweils nur zwei Faktoren wirklich relevant sind: das

Angenehmsein und Unangenehmsein

der Gefühle.

Gefühle können darüber hinaus noch Tönungen haben, wie z.B. das Unheimliche, Fröhliche, Lustige, Melancholische, Bedrohliche. Aber für unser Leiden und Glück und unser Wohlbefinden sind offenbar Angenehm- und Unangenehmsein zuständig.

Dabei handelt es sich allerdings auch um eine intellektuelle Herausforderung, die systematische Überprüfung in allen Lebensbereichen und ein gewisses Maß an Scharfsinn verlangt. (Vergleichen Sie dazu weiter unten das Kapitel „Wie wir Werte und Lebenssinn erleben“.)

Was bedeutet hier wirklich relevant?

Könnte man mit einem fiktiven neurologischen Schalter zum Beispiel das Unangenehmsein aus unseren Erfahrungen – etwa des Sodbrennens oder der Depression – entfernen, dann würde das Problem auf der Stelle bedeutungslos für uns. Probleme werden letztlich erst relevant durch ihren emotionalen Gehalt. Und dieser emotionale Gehalt ist im Wesentlichen nichts anderes als das Angenehm- und Unangenehmsein der Gefühle.

In gleicher Weise nähme unser fiktiver neurologischer Schalter der Schönheit, dem Wohlgeschmack oder dem Hochgefühl auf der Stelle jegliche Attraktivität.

Und dieser Faktor gilt für alles Bereiche des Fühlens: für Gefühle im eigentlichen Sinne, aber auch für Stimmungen, Emotionen, Affekte und Wertgefühle, bei denen wir die Dinge unserer Erfahrungswelt durch eine Gefühlsbrille betrachten.

Die neuere Psychologie der Emotionalen Intelligenz hat die bereits aus der Antike bekannte These vom Primat der Lust differenziert und erkannt, dass auch „Lust“ nur eine Form innerhalb einer breiten Skala von positiven Gefühlen ist. Anmut, Vertrauen, Verantwortung können von positiven Gefühlen geprägt sein, doch würde man hier ungern von Lust reden wie beim Orgasmus.

Da Lust von Aristippos und Epikur bis hin zu Sigmund Freud fälschlich als das bestimmende Moment des positiven Gefühls angesehen wurde, versperrte diese zu enge Begriffsbestimmung den Blick auf das tatsächliche Wesen der Gefühle.

Neuere Definitionen verstehen – umfassender und allgemeiner – das Wesen der Gefühle also als Angenehm- und Unangenehmsein.

Freude, Schönheit, Genuss, Witz, Wohlgeschmack, gute Laune, Anmut, Zufriedenheit, Begeisterung, Glück, Entzücken, Unterhaltung, Erleichterung, Wohlbehagen werden als angenehm erfahren, Kummer, Unwohlsein, Panik, Sodbrennen, Melancholie, Ärger, Eifersucht, Hautjucken, Angst, Befangenheit, Depression, Sorge, Lampenfieber, Unzufriedenheit, Kopfschmerz, schlechte Laune, Wut, Enttäuschung als unangenehm.

Diese Erkenntnis ermöglicht es uns, mit einem einfachen mentalen Programm – fast könnte man sagen, mit einem “Trick“ – alle Probleme gleich zu behandeln und sich so auf überraschend einfache Weise von ihnen zu lösen.

Bleiben wir jedoch zunächst noch beim Prinzip selbst. Das Malheur dieser Entdeckung ist nämlich, dass sie einen ungezügelten Hedonismus zu propagieren scheint. Also die Auffassung, unser höchstes Gut, der Endzweck allen Handelns, sei die psychische und physische Lust. Und das klingt für viele leider nach einer willkommenen, möglicherweise aber auch problematischen, wenn nichts sogar gefährlichen Rechtfertigung unserer so genannten Spaßgesellschaft. Wo bleibt da die Moral? Wo die Begründung objektiver, allgemeingültiger Werte? Und wie steht es um unsere Pflichten?

In der Diskussion, ob Lust und Unlust die wesentlichen Eigenschaften der Gefühle darstellen, wurde bereits Anfang des Jahrhunderts – z. B. von Psychologen wie W. Wundt, F. Krueger und später von P. Lersch – argumentiert, die Definition sei viel zu eng und erfasse nicht das tatsächliche Spektrum der Gefühlsqualitäten:

„Dass dieser Gesichtspunkt zur Banalität wird, wenn wir ihn etwa auf das Phänomen der künstlerischen Ergriffenheit anwenden, liegt auf der Hand. Die künstlerische Ergriffenheit wäre dann ebenso ein Gefühl der Lust wie das Vergnügen am Kartenspiel oder der Genuss eines guten Glases Wein. Andrerseits würden Regungen wie Ärger und Reue in den einen Topf der Unlustgefühle geworfen. Beim religiösen Gefühl aber – ebenso auch bei Gefühlen wie Achtung und Verehrung – wird die Bestimmung nach Lust und Unlust überhaupt unmöglich.“

Wo liegt der Fehler dieses Einwands? Er ignoriert Folgendes:

Wenn wir uns das Moment des Angenehm- oder Unangenehmseins aus den Erfahrungen der künstlerischen Ergriffenheit, des Vergnügens am Kartenspiel, des Genusses eines Glases Wein, des Ärgers, der Reue, des religiösen Gefühls, der Achtung, Verehrung wegdenken, verschwindet die Attraktivität oder Ablehnung dieser Gefühle auf der Stelle.

Ein neutraler Gefühlszustand – d.h. sich weder in einer angenehmen noch unangenehmen Gefühlslage zu befinden, rührt uns emotional nicht an, lässt uns „kalt“, wie es die Alltagssprache ausdrückt. Und dies eben, weil damit auch das wesentliche Charakteristikum der Ergriffenheit, des Vergnügens, der Reue, des Ärgers usw. fehlt.

Ersetzen wir die angenehmen Gefühle durch Unangenehmsein, Unlust, wird daraus sogar Abneigung, Ablehnung, Desinteresse. Ersetzen wir die unangenehmen Gefühle durch angenehme, wird daraus Interesse, Wertschätzung.

Jeder kann dazu für sich selbst die Probe an folgendem einfachem Beispiel machen:

Stellen Sie sich einen großen Lottogewinn vor. Nehmen wir an, Sie seien bis dahin sehr arm gewesen. Und die Vorstellung, mehr Geld ausgeben zu müssen, würde Ihnen großes Unbehagen bereiten. Gründe dafür können Sie aber nicht angeben. Es bereitet Ihnen einfach mehr Vergnügen, spartanisch zu leben. Und umgekehrt empfinden Sie das viele Geld als unangenehm, als Belastung.

Was den Lottogewinn dann zum Unwert oder Wert macht, zur „echten Werterfahrung“ – der nominelle Wert des Geldes oder sein Wert als Mittel für irgendwelche Eventualitäten bleibt dabei unbestritten –, ist eben doch in der Tat das, was sich am Ende der Wertekette als negatives oder positives Fühlen zeigt. Und dieses Fühlen lässt sich bei aller übrigen Verschiedenheit der Gefühle auf den gemeinsamen Nenner des Angenehmseins und Unangenehmseins bringen.

Stehen Sie drüber!

Подняться наверх