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Wenn Erwachsene vergessen, dass sie mal Kinder waren

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Vilém Flusser (1920–1991) war Kommunikations- und Medienphilosoph. Er hat sich noch im hohen Alter ständig angeschaut, wie Kinder spielen und wie sie kommunizieren. Trotzdem waren sie für ihn ziemlich fremde Wesen, denn er merkte, dass die meisten Erwachsenen dazu neigen, zu vergessen, wie sie sich früher als Kind von innen angefühlt haben. Aber selbst denen, die auch als Erwachsene Kind geblieben sind, fällt das Verständnis für ihre Kinder schwer, weil Kinder heute völlig anders aufwachsen; sie haben ganz andere Lebensumstände als die Kinder vor 50 Jahren, sie spielen anders (zum Beispiel an der Playstation), sie kommunizieren anders (zum Beispiel per Handy), und sie lernen anders (zum Beispiel in ihrem multimedial vernetzten Kinderzimmer); sie essen aber auch anderes, sie bewegen sich anders und oft auch weniger, und sie wachsen oft in fertigen, geordneten und sterilsauberen Umgebungen auf, in denen alles so perfekt ist, dass sie mehr zum Zerstören als zum konstruktiven Aufbauen auffordern. Sie können das Potenzial ihrer sinnlichen Wahrnehmung nicht entfalten, weil sie mit einem Mangel an Laufen, Klettern, Hüpfen, Springen, Schaukeln, Balancieren, Matschen, Kriechen und Rückwärtsgehen aufwachsen, sodass sie Kräfte, Geschwindigkeiten, Entfernungen, Höhen und Konsistenzen aus Mangel an Erfahrungen in der wirklichen Welt nicht mehr einschätzen können. Und da sie oft im Zuge des Familienzerfalls mit einem Mangel an Bezugspersonen aufwachsen, fehlt es ihnen nicht nur an sozialen, sondern auch an kommunikativen Erfahrungen.

Fazit: Wenn Erwachsene, zumal Eltern, doch nur bedenken würden, was Vilém Flusser immer wieder zugespitzt formuliert hat: Bis zu seiner Geburt hat der Mensch bereits zwei Drittel seines Lebens hinter sich, was die Sinneserfahrungen anbelangt; die Zeit der Schwangerschaft ist also für den späteren erzieherischen Erfolg ungemein bedeutsam. Und in den ersten zwei Lebensjahren nach der Geburt erlebt ein Mensch etwa genauso viel wie in seinen letzten 20 Lebensjahren zusammen, was die Intensität der Lebenseindrücke anbelangt!

Daraus folgt übrigens auch, dass zwei 68-jährige Männer höchst unterschiedlich alt sind, nämlich je nachdem, was sie alles so erlebt oder auch nicht erlebt haben. Neben dem biologischen Alter, das dem Personalausweis zu entnehmen ist, gibt es so etwas wie ein „Erlebnisalter“, und das ist ganz etwas anderes. Für Kinder gilt: Wenn zwei Sechsjährige eingeschult werden, sind sie von ihrer Entwicklung her in unterschiedlichen Altersstufen anzusiedeln, sie sind vier, fünf, sechs, sieben oder acht Jahre alt, weil sie entweder vernachlässigt oder früh gefördert wurden. Eine bloße Stichtagsregelung für den Einschulungstermin aufgrund des biologischen Alters ist daher heute weniger sinnvoll denn je, denn die Schere geht seit Langem auseinander: Auf der einen Seite werden immer mehr Kinder schon früh gefördert, auf der anderen Seite werden aber auch immer mehr Kinder unzureichend bis überhaupt nicht gefördert in Bezug auf die Entfaltung ihrer Sinne sowie Begabungen.

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